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Estomihi (19.2.23)


Die Liebe

14. Februar 2010 

Estomihi, Sonntag vor der Passionszeit

1. Korinther 13,1-13


Wir haben das Hohelied der Liebe von Paulus gehört. Ich würde am liebsten Sie jetzt mal bitten, darüber zu predigen: über die Liebe. Sie ist das zentrale Thema des christlichen Glaubens und sie ist vielleicht überhaupt das wichtigste Thema des Lebens. Wie viel ist über die Liebe schon gesagt und geschrieben worden! Wie viel habe ich selbst darüber schon gesagt und geschrieben! Ich finde, jetzt wären Sie mal dran.

Was lässt sich über die Liebe Neues sagen? Oder reicht es, das Altbekannte immer zu wiederholen? Ist das vielleicht sogar nötig, immer wieder dasselbe zu sagen? So, wie man immer wieder sagt: „Wasch dir die Hände, putz dir die Nase, rede nicht mit vollem Mund!“ Das wird ja auch schon seit Jahrhunderten oder länger tagtäglich immer wieder gesagt und muss wohl auch in Zukunft immer wieder wiederholt werden.

„Seid lieb zueinander“ - das ist das, wozu Paulus uns auffordert. Er erklärt das auch, was er mit Liebe meint. Er meint nicht diese intensive Gefühlsaufwallung, die wir auch als Liebe bezeichnen, wenn es insbesondere zwischen zwei Menschen funkt und einer nicht mehr ohne den anderen sein möchte. Diesen Teil von Liebe meint Paulus nicht.

Er meint das, was wir im Allgemeinen als Nächstenliebe bezeichnen, das liebevolle Verhalten gegenüber jedermann: die Liebe als besondere Form des Miteinanderumgehens, die Liebe nicht so sehr als drängendes Gefühl, das aus zwei eins machen will, sondern eher als Mitgefühl, als Aufgabe, sich das Wohlergehen des anderen zum eigenen Anliegen zu machen, eine Aufgabe, die allerdings von Herzen wahrgenommen sein will.

Was Paulus als Merkmale eines liebevollen zwischenmenschlichen Verhaltens formuliert, enthält einen hohen, einen sehr hohen ethischen Anspruch und mag uns geradezu als Überforderung erscheinen. Allein schon das erste: „Die Liebe ist langmütig.“

„Geduld“ - wie ist es mit unserer Geduld bestellt? Sind wir nicht manchmal ungeduldig? Sind wir nicht manchmal sogar ziemlich schnell ungeduldig? Brausen wir vielleicht auf, platzt uns der Kragen? Wäre das dann ein Zeichen dafür, dass es uns an der Liebe fehlt? Diese Schlussfolgerung würde ich nicht zu ziehen wagen.

Denn sonst müssten wir ja sagen: „Nur der liebt wirklich, der sich tadellos verhält.“ Oder noch schärfer formuliert: „Wirklich lieben kann nur der vollkommene Mensch.“ Das kann aber doch nicht sein.

Kann es nicht vielmehr auch richtig sein, wenn ich sage: „Ich liebe meinen Nächsten, auch wenn ich mich ihm gegenüber manchmal - oder vielleicht sogar häufiger - ungeduldig und unfreundlich verhalte oder zornig und ungerecht und vielleicht sogar gemein?“ Ich glaube, wir müssen diese Frage mit „Ja“ beantworten. Denn sonst liefen die Aussagen von Paulus auf das Ergebnis hinaus: Der Mensch ist zur Liebe nicht fähig, weil er so unvollkommen ist und sein Reden und ganzes Verhalten nicht unter Kontrolle hat - oder, um es mit einem Begriff von Paulus zu sagen: Der Mensch ist zur Liebe nicht fähig, weil alles, was wir leisten, nur Stückwerk ist.

Der einzige der wirklich geliebt hat, wäre dann Jesus Christus, der eine Mensch, der mehr war als ein Mensch, oder sagen wir gleich: Gott selbst, wie es im 1. Brief des Johannes heißt: „Gott ist die Liebe.“

Die Liebe ist etwas Göttliches, das ist wohl wahr. Dennoch müssen wir sagen dürfen, dass wir einander lieben, auch wenn wir es nur menschlich-unvollkommen mit all unseren menschlichen Schwächen und Fehlern tun.

Liebsein ist ja auch anstrengend. Wie ein Kind sagte, das von anderen immer wieder wegen seines höflichen und hilfsbereiten Verhaltens gelobt wurde, das aber, wenn es nach Hause kam, die kleinen Teufelchen rausließ: „Ich kann nicht den ganzen Tag lieb sein.“

So geht es ja auch uns Erwachsenen. Es ist auch für das eheliche Miteinander wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein: Wir leben alle von der Vergebung. Wir sind unvollkommene Wesen. Wir sollten einander zwar immer das Beste unterstellen. Aber wir dürfen im Konkreten voneinander nicht immer das Beste erwarten.

Die Liebe ist zwar der wohl höchste Wert aller Werte und von göttlicher Art. Aber wir dürfen sie nicht mit perfektem Verhalten gleichsetzen - und einander nicht mit diesem Maß der Perfektion messen und einander nicht nach diesem Maß beurteilen oder gar verurteilen.

Stellen Sie sich vor, wir wären alle perfekt: Das könnte auch schrecklich sein. Wie der Volksmund sagt: „Kleine Schwächen machen den Menschen sympathisch.“

Paulus hat zu Beginn seines Textes eine Warnung ausgesprochen. Er sagt: „Wenn ich mich um perfektes Verhalten bemühe, dann könnte es trotzdem so sein, dass Entscheidendes fehlt.“ „Wenn ich all mein Gut den Armen gäbe“ - das wäre doch eigentlich ein Zeichen größter Nächstenliebe - oder? „Nein“, sagt Paulus. Wenn ich all mein Gut den Armen gäbe, dann könnte es trotzdem sein, dass mir dabei noch etwas Wesentliches fehlt: die Liebe nämlich, dann wäre meine ganze Großzügigkeit nichts wert.

Wir sehen hieran: Paulus unterscheidet zwischen Liebe und Verhalten. Ich kann mich perfekt verhalten und trotzdem lieblos sein. Ich kann Gutes tun und trotzdem herzlos sein. Und umgekehrt gilt eben auch: Ich kann mich unvollkommen verhalten und trotzdem voller Liebe sein.

Irgendwo wird es sicherlich eine Grenze geben. Die wird ganz individuell unterschiedlich sein. Wie viel unvollkommenes Verhalten lässt sich noch mit der Liebe vereinbaren? Wenn ein Mann seine Frau oder eine Frau ihren Mann betrügt, wird sich die Frage stellen: „Liebst du mich noch?“ Manche Beziehungen können diesbezüglich einiges aushalten, andere aber nicht.

Oder wenn wir es uns auf der nördlichen Halbkugel gut gehen lassen, und im Süden verhungern die Menschen zu Millionen, stellt sich die Frage: „Ab wann müssen wir uns doch den Vorwurf zuziehen, dass es uns an der Liebe zu den Mitmenschen, an Mitgefühl für den fernen Nächsten, fehlt?“

Wir dürfen uns also auch nicht zu leichtfertig mit unseren Unvollkommenheiten abfinden - nach dem Motto: „So bin ich nun mal.“ Wir sollen schon an uns arbeiten und uns immer wieder um Besserung bemühen und versuchen, unser Bestes zu geben.

Es ist phänomenal und beglückend, die christliche Botschaft zu hören: „Du, Mensch, bist ein liebenswertes und geliebtes Kind Gottes.“

Wir gehen nun in die Passionszeit hinein. Das heißt: In den nächsten Wochen werden wir uns immer wieder mit den biblischen Berichten befassen, die schildern, wie derjenige, der so gut war zu den Menschen und so liebevoll, dass der dennoch von vielen so schlecht behandelt wurde, bis er schließlich umgebracht und ans Kreuz genagelt wurde.

Eigentlich hätte man erwarten sollen, dass derjenige, der solche Erfahrungen gemacht hat, am Ende sagt: „Das war's, ihr Menschen. Jetzt will ich mit euch nichts mehr zu tun haben.“ Aber so hat er nicht reagiert. Er ist vielmehr nach allen Enttäuschungen und nach aller bitteren Erfahrung und nach schrecklichem Leiden durch Menschen und am Menschen - wieder auf die Menschen zugegangen und hat sich denen wieder zugewandt - in aller Liebe, die ihn so schäbig und schrecklich behandelt hatten.

Das ist phänomenal und beglückend. Der unvollkommene Mensch ist der dauerhaften liebevollen Hingabe für wert befunden worden.

Christus wendet sich nicht nur einer kleinen Schar von Auserwählten wieder zu, sondern dem Menschen schlechthin, der in der ganzen menschlichen Geschichte immer wieder Unrecht und Untaten angehäuft hat und von dem die biblischen Texte gleich am Anfang deutlich machen: Der Hang zum Bösen steckt im Menschen.

Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen über unsere allzumenschliche Art. Wir sind alle keine Engel und schaffen es auch nicht, welche zu sein, auch nicht beim besten Willen.

Trotzdem sagen auch immer wieder Mann und Frau: „Wir möchten ein Kind.“ Das ist doch eigentlich auch phänomenal. Denn auch darin drückt sich die Bereitschaft zur Liebe aus, die Bereitschaft, für einen anderen Menschen von Herzen mit dem allerbesten Willen da zu sein, die Bereitschaft zu lieben - trotz der Unvollkommenheiten des menschlichen Wesens.

Was Mann und Frau an Liebe für ihr eigenes Kind aufzubieten bereit sind, das bietet der göttliche Schöpfer uns allen an. Wir alle sind für ihn - trotz allem - seine geliebten Kinder. So dürfen wir uns verstehen.

Wir können nicht sein wie Gott. Wir können nicht sein wie Christus. Aber uns ist ein Herz gegeben. Wir können wohl nicht ein Herz für alle Menschen und für die ganze Welt haben. Aber wir können uns doch im Herzen anrühren lassen, und das versucht Paulus mit seinen Worten, seinem Hohelied der Liebe. Wir können uns den Blick öffnen lassen, dass wir über die Sorge um unser eigenes Wohlergehen hinaus auch den anderen wahrnehmen, den Nächsten, der auch der ferne Nächste sein kann, so wie doch auch wir von anderen wahrgenommen werden wollen.

„Lieben und geliebt werden“ - oder besser gesagt: „Geliebt werden und lieben“ - das ist Leben im besten Sinne. Das glauben wir. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. Februar 2010) 

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