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1. Advent (27.11.22)


Hoffnung auf Hilfe

3. Dezember 1978

1. Advent

Matthäus 21,1-9


Als Jesus in Jerusalem einzog, breitete eine Menge von Menschen ihre Kleider vor ihm aus, andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Menge, die ihm voranging und folgte, rief laut: „Hosianna, dem Sohn Davids - gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ „Hosianna“ - wenn wir dieses hebräische Wort übersetzen, heißt es: „Herr, hilf!“

Dieser Hilferuf der Menschenmenge - verbunden mit einem Lobpreis Gottes - steht sicherlich nicht zufällig am Anfang des Kirchenjahres. Denn Ausgangspunkt des christlichen Glaubens ist die Not der Menschen. Um sich der leidenden menschlichen Kreatur zu erbarmen, ist Gott in Jesus Christus erschienen. Nur dem nach Hilfe schreienden Menschen hat Jesus Christus etwas zu geben, dem allerdings viel. Darum ist der Hilferuf begleitet von einem Lobpreis.

So wie wir mit diesem Ausruf der Menschenmenge in Jerusalem das Kirchenjahr beginnen, so beginnen wir jeden Gottesdienst: „Kyrie eleison - Herr, erbarme dich, Christe eleison, Christe erbarme dich“. Wir rufen zu Beginn jeden Gottesdienstes Gott und Jesus Christus um Hilfe an und gehen dann gleich über zum Dank für Gottes Gnade: „Allein Gott in der Höhe sei Ehr und Dank für seine Gnade.“

Wir singen vielleicht oftmals über diese Eingangsliturgie gedankenlos hinweg. Und möglicherweise nicht nur gedankenlos, sondern manchmal sogar verärgert, weil der liturgische Wechselgesang dem Gottesdienst ein so altmodisches, unzeitgemäßes Gepräge zu geben scheint. Aber er bringt doch in sinnvoller Weise unseren christlichen Glauben zum Ausdruck. Ich muss gestehen, dass mir die Eingangsliturgie darum sehr lieb geworden ist.

„Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhört mein Rufen!“ – „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal ...“ Wir empfinden zwischen dem gerade hinter uns liegenden Totensonntag und dem 1. Advent zwar oftmals eine scharfe Grenze, so wie zwischen Ernst und Freude, Dunkelheit und Licht. Aber eigentlich ist das ein ganz allmählicher Übergang. 

Im Totensonntag ist schon etwas vom 1. Advent angelegt, und im 1. Advent schwingt der Totensonntag noch ganz stark mit. Am schönsten finde ich diese Bewegung dargestellt in dem Adventslied von Jochen Klepper, Nr. 14 in unserem Gesangbuch: „Die Nacht ist vorgedrungen.“ Jochen Klepper hat es gedichtet im Anschluss an einen Satz aus der Epistel des heutigen Sonntags, aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer.

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.“ Noch ist es dunkel, ziemlich dunkel. Aber schon ist ein wenig Licht zu erahnen. Ein Stern scheint schon hell, der Morgenstern. Eine Kerze zünden wir an am 1. Advent. Die Dunkelheit beginnt dem Licht allmählich zu weichen. Hier wird in Bildern geredet von menschlichem Leid und vom Anbruch der Hoffnung: „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein, der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“

„Wer zur Nacht geweinet“ - mit diesen einfachen knappen Worten sind alle Menschen in den vielfältigen Nöten des Lebens angesprochen: die über den Verlust eines Menschen trauern, die krank sind, einsam, die hungern, die verfolgt sind, die Angst haben und die schuldig geworden sind. In der Wende von Totensonntag zum 1. Advent erleben wir den Menschen, besser gesagt: den Christen, an seinem tiefsten Punkt des Lebens. Wir erleben ihn hier als einen, für den die Finsternis ein vorübergehender Zustand ist, oder anders gesagt: für den das Leid absehbare Grenzen hat. Eigentlich kann ein Mensch, der vom christlichen Glauben erfüllt ist, nicht so tief im Schlamm versinken, dass er auf immer verloren wäre. Er kann nicht in völliger Verzweiflung untergehen. Auch in der größten Not hat er noch ein Fünkchen Hoffnung. Der finstere Tunnel - und sei er auch sehr lang - hat doch ein Ende, und von daher schimmert ein wenig Licht herein. Wenn wir darauf zugehen, wird es immer heller.

Mit vielen verschiedenen Bildern lässt sich dieser eine Gedanke immer wieder neu beschreiben: Uns ist eine große Hoffnung gegeben, die uns alles Leid überwinden hilft.

Denn: „Gott selber ist erschienen - als Kind und Knecht.“ Das ist das Besondere der christlichen Hoffnung: Sie hat ihren Ursprung nicht in einer Theorie, nicht in einer abstrakten Zusage, sondern in der persönlichen Begegnung mit Gott als Kind und Knecht. Gott kommt, schenkt uns Freude, leidet mit, dient uns. Wir erleben unser Leiden nicht mehr als anonymes Schicksal, nicht als bloßes Ergebnis gesetzmäßiger Abläufe. Vielmehr erfahren wir das Leid als ein persönliches Schicksal, aus dem uns nur persönliche Begegnung herausholen kann. Nicht die bloße Veränderung von Verhältnissen hilft uns, sondern die menschliche Zuwendung. Dass es gerade auf sie ankommt, haben wir dadurch erfahren, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist.

„Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt, er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.“ Schuld ist vielleicht unser menschliches Grundproblem: Unsere Verantwortung für den anderen, für uns selbst und für alle Dinge des Lebens und unsere Unfähigkeit, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Von dieser Schuld können wir frei werden, nicht indem wir sie leugnen, nicht indem wir sie abschieben, uns rechtfertigen, sondern indem wir sie uns vergeben lassen. Auch von der Schuld werden wir so frei durch die persönliche Zuwendung Gottes zu uns.

„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld“ - das Leiden ist nicht aus der Welt. Auch durch Jesus Christus ist die Welt nicht besser geworden. Jedenfalls ist eine Verbesserung nicht zu erkennen, wenn man sie mit Statistiken zu belegen versuchte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen etwa sind im Gegenteil im Laufe der Geschichte immer schlimmer geworden. Und auch für die Zukunft ist noch mit viel Not und Elend zu rechnen. 

„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld, doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.“ Im Leiden geht nun einer mit uns - das ist das, was anders geworden ist durch Jesus Christus. Wir sind nicht mehr allein. Wir haben einen neben uns, der alle Not mit uns teilt. Solche Solidarität im Leiden ist eine wirkliche Hilfe. Denn dass unsere Welt besser wird, damit können wir zunächst nicht rechnen. Aber es hilft uns ein großes Stück zu wissen, dass wir nicht ganz auf uns selbst gestellt sind.

„Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“ - hier ist es noch einmal bildhaft gesagt: Die Vorstellung, die wir uns gemeinhin von einem göttlichen Wesen machen: dass es hocherhaben, mächtig, unnahbar ist, hat sich hier in eine ganz andere, menschlichere verwandelt: Gott will im Dunkel wohnen, will bei den Kranken, den Einsamen, den Straffälliggewordenen, ja, er will bei uns allen sein, die wir in der einen oder anderen Weise unsere persönlichen Nöte haben. Er will mitfrieren, mithungern, sich die Finger schmutzig machen. Dadurch ist ein Licht in diese Dunkelheit hineingekommen, eine Hoffnung, eine eigentlich zugleich ganz bescheidene und ganz große Hoffnung. Bescheiden, weil sie ohne Weltverbesserungsprogramme auskommt. Und ganz groß, weil es kaum etwas Größeres gibt als persönliche Zuwendung.

Was da durch Jesus Christus geschehen ist, ist schon etwas sehr Wundersames. Jochen Klepper sagt: „Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“ Wenn wir einmal bedenken, was wir selbst voneinander halten, dann muss es doch für uns sehr erstaunlich sein, wie wichtig wir Gott sind, wie viel wir ihm wert sind, wie ernst er uns nimmt. Woher rührt sein Interesse an uns? Nun, sicherlich nicht von den besonderen Qualitäten unseres menschlichen Wesens her. Von daher hätten wir eine ganz andere Behandlung verdient. Gott richtet uns, als wollte er uns belohnen. Mit diesem paradox klingenden Wort formuliert Jochen Klepper die Liebe Gottes zu uns Menschen.

Heute haben wir die erste Kerze angezündet als Zeichen der beginnenden Hoffnung. Es ist noch ein sehr zurückhaltendes Zeichen. Noch sind wir vor allem dabei, uns auf uns selbst zu besinnen, auf unser Leid, unsere Schuld. Je näher wir Weihnachten kommen, desto mehr weicht die ernste Besinnung, die Buße, der offenen Freude über die Ankunft dessen, der uns die Gemeinschaft in Freud und Leid anbietet.

Wir feiern in diesem Gottesdienst das Heilige Abendmahl. Es ist ein Mahl, das diese Gemeinschaft besonders betont und lebendig darstellt. Jesus Christus lädt uns als Bruder an seinen Tisch. Ein Stückchen unserer Hoffnung auf Gemeinschaft wird so bei Brot und Wein zeichenhaft Wirklichkeit. 

(Predigt in der Kreuzkirche Cuxhaven-Altenwalde am 3. Dezember 1978)

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