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5. Sonntag vor der Passionszeit (3.2.19)


Vorsicht mit dem biblischen Text!

22. August 1993

11. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 21,28-32


Wir ha­ben hier wie­der ei­nes der vie­len Gleich­nis­se vor uns. Von ei­nem Va­ter und zwei Söh­nen ist hier die Re­de. Dies er­in­nert uns an das Gleich­nis vom ver­lo­re­nen Sohn. Da war ja auch ein Va­ter mit zwei Söh­nen. Und auch da war ein Sohn, der zu­nächst „Nein!“ sag­te, zu sei­nem El­tern­haus näm­lich, der dann aber be­reu­te und um­kehr­te. Ich ge­ste­he Ih­nen, dass mir das Gleich­nis vom Ver­lo­re­nen Sohn bes­ser ge­fällt als das heu­ti­ge Gleich­nis von den un­glei­chen Söh­nen. Das Gleich­nis heu­te be­zieht sich näm­lich auf ein Pro­blem, mit dem ich ei­gent­lich nicht so um­ge­hen möch­te, wie dies in die­sem Gleich­nis ge­schieht. Ich füh­le mich al­so her­aus­ge­for­dert, zu­nächst ein­mal, ver­zei­hen Sie, ge­gen die­ses Gleich­nis zu pre­di­gen.

Das Gleich­nis ent­hält ein Pro­blem, von dem das gan­ze Neue Te­sta­ment durch­zo­gen ist, das Pro­blem näm­lich, dass Je­sus von Na­za­reth nur von ei­nem Teil der Ju­den als Mes­si­as an­ge­nom­men, von der Mehr­heit der Ju­den und vor al­lem von der herr­schen­den re­li­gi­ö­sen Schicht, je­doch ab­ge­lehnt wor­den ist. Die­je­ni­gen, die nicht an Je­sus als den von Gott ge­sand­ten Ret­ter, den Chri­stus, glaub­ten, sind in un­se­rem Gleich­nis in dem Sohn dar­ge­stellt, der zu­nächst „Ja“ sagt, aber dann doch nicht tut, was er zu­ge­sagt hat. Ge­gen sie po­le­mi­siert un­ser Gleich­nis. Ih­nen wird der Zu­gang zum Reich Got­tes ver­sperrt blei­ben, droht das Gleich­nis. Eher wür­den Rechts­bre­cher und Rand­stän­di­ge wie Zöll­ner und Hu­ren, ins Reich Got­tes kom­men als sol­che un­gläu­bi­gen Ju­den.

Das Gleich­nis wirft al­so die Fra­ge nach dem Um­gang mit re­li­gi­ös An­ders­den­kenden auf. Es könn­te je­mand ge­gen­hal­ten, der Kon­flikt zwi­schen An­hän­gern und Geg­nern des Chri­stus sei zwar der hi­sto­ri­sche Hin­ter­grund, aber nicht die für uns ak­tuel­le Aus­sa­ge. Für uns gin­ge es mehr um das The­ma „Zu­ver­läs­sig­keit“ im Sin­ne et­wa der kind­li­chen Re­gel „Ver­spro­chen ist ver­spro­chen!“ oder um das The­ma „Wie sich ei­ner ei­nes Bes­se­ren be­son­nen hat“. Um die­se The­men geht es wohl auch.

Aber es ist nicht gut, wenn wir den hi­sto­ri­schen Hin­ter­grund, den Kon­flikt zwi­schen Chri­stus­an­hän­gern und Chri­stus­gegnern, und die Art des Um­gangs mit die­sem Kon­flikt nicht in un­ser Be­wusst­sein he­ben.

Das Pro­blem ist doch, dass von die­sem Gleich­nis, wie übri­gens von vie­len neu­te­sta­ment­li­chen Tex­ten, ein Ein­fluss auf un­se­re Ein­stel­lun­gen aus­geht, zu­min­dest aus­ge­hen kann, den wir ei­gent­lich gar nicht wol­len. Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag war der Ge­denk­tag der Zer­stö­rung Je­ru­sa­lems und die Kol­lek­te war für die Ver­söh­nungs­ar­beit zwi­schen Ju­den und Chri­sten be­stimmt.

Ver­söh­nung zwi­schen Ju­den und Chri­sten - das ist das The­ma, um das es mir geht. Un­ser heu­ti­ges Gleich­nis scheint mir eher ge­eignet zu sein, Grä­ber wei­ter auf­zu­rei­ßen als zu­zu­schüt­ten, Chri­sten und Ju­den eher zu tren­nen als zu ver­söh­nen.

Das Pro­blem des An­ti­se­mi­tis­mus hat sich ja bis heu­te nicht er­le­digt. Wir er­fah­ren aus den Me­dien im­mer wie­der von Schän­dun­gen jü­di­scher Fried­hö­fe, jü­di­scher Ge­denk­stät­ten, von an­ti­se­mi­ti­schen Pa­ro­len, und auch im Zu­sam­men­hang mit der be­vor­ste­hen Bür­ger­schafts­wahl in Ham­burg scheu­en sich ei­ni­ge nicht, sol­che Ge­füh­le, de­nen der An­ti­se­mi­tis­mus ent­springt, zu schü­ren und zu ent­fa­chen.

Wir ha­ben ge­stern Nach­mit­tag auf In­i­ti­a­ti­ve des Ar­beits­krei­ses „Öku­me­ni­sche Nach­bar­schaft Har­ve­ste­hu­de, Ho­he­luft, Ro­ther­baum“, dem auch un­se­re Ge­mein­de an­ge­hört, ei­ni­ge der ehe­mals jü­di­schen Stät­ten in un­se­rem Ein­zugs­be­reich be­sucht, u. a. ein ehe­ma­li­ges jü­di­sches Al­ten­heim in der Sed­an­stra­ße, die ehe­ma­li­ge Tal­mud-To­ra-Schu­le am Grin­del­hof und den ehe­ma­li­gen Is­rae­li­ti­schen Tem­pel in der Ober­stra­ße, wo sich heu­te der Kon­zert­saal des NDR be­fin­det.

An je­der der fünf Stät­ten, die wir be­sucht ha­ben, wur­de an die schreck­li­chen Er­eig­nis­se von vor 50-60 Jah­ren er­in­nert, als die Ju­den in Ham­burg schritt­wei­se ih­rer Wir­kungs- und Le­bens­mög­lich­kei­ten be­raubt und schließ­lich de­por­tiert und um­ge­bracht wur­den.

Je­ner An­ti­se­mi­tis­mus hat­te sei­ne Quel­len auch in der christ­li­chen Kir­che. Die­je­ni­gen, die an­ti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen zu recht­fer­ti­gen ver­such­ten, be­rie­fen sich u. a. auch auf die Bi­bel. Und da konn­ten sie ge­nü­gend Texte fin­den, die ih­nen Recht zu ge­ben schie­nen.

Da­rum kön­nen wir mit der Bi­bel nicht naiv um­ge­hen, als gä­be es die schreck­li­che Ge­schich­te des An­ti­se­mi­tis­mus nicht.

Wir kön­nen es nicht zu­las­sen, dass uns Texte, seien es auch bi­bli­sche Texte, sug­ge­rie­ren, wir als Chri­sten – ich sage das mal mit den en­gli­schen Wor­ten – wir als Chri­sten seien die „good guys“ und die Ju­den seien die „bad guys“, al­so wir seien die Gu­ten und die Ju­den die Bö­sen.

Na­tür­lich meint die Bi­bel das nicht. Aber vie­le bi­bli­sche Texte könn­ten so miss­ver­stan­den und miss­braucht wer­den, auch un­ser heu­ti­ges Gleich­nis. Da müs­sen wir auf der Hut sein. Und wenn es uns auch un­ge­wohnt sein mag und uns ge­wiss schwerfällt: Wir müs­sen auch den For­mu­lie­run­gen der bi­bli­sche Texte ge­gen­ü­ber ei­ne kri­ti­sche Dis­tanz wah­ren und ih­re Wir­kung be­den­ken, die sie hin­sicht­lich der Be­zie­hung zwi­schen Chri­sten und Ju­den ha­ben könn­ten. Und wir müs­sen selbst­kri­tisch un­se­re Bi­bel­aus­le­gung über­wa­chen und auf un­se­re Spra­che ach­ten, dass wir da nicht bi­bli­sche For­mu­lie­run­gen und Bil­der ü­ber­neh­men, die im heu­ti­gen Kon­text an­ti­se­mi­ti­sche Gefühle und Ein­stel­lun­gen un­ter­stüt­zen könn­ten.

Um nun auf das Gleich­nis zu­rück­zu­kom­men – es will sa­gen: Die Ju­den ha­ben zwar zum ei­nen „Ja“ ge­sagt zu Gott, d. h. sie ha­ben sich zum Gott Is­raels be­kannt, sie ha­ben sei­ne Aus­er­wäh­lung an­ge­nom­men, sie ha­ben sich in ei­nem Bund mit ihm zur Treue ver­pflich­ten las­sen – sie sind zwar im­mer auch wie­der un­treu ge­wor­den, aber ins­ge­samt sind sie das Volk Got­tes ge­blie­ben und ha­ben es auch sein wol­len. Dann aber sand­te Gott Je­sus von Na­za­reth zur Be­frei­ung und Er­lö­sung von Not und Schuld. Ihn nah­men die Ju­den in ih­rer Mehr­heit und ins­be­son­de­re die re­li­giö­se Füh­rung nicht an. Sie lie­ßen ihn um­brin­gen. Nach ih­rem an­fäng­li­chen „Ja“, so das Gleich­nis, ha­ben sie schließ­lich „Nein“ ge­sagt, „Nein“ zu Je­sus als dem Chri­stus, dem Mes­si­as.

Auf der an­de­ren Sei­te, so wei­ter das Gleich­nis, gä­be es aber an­de­re Men­schen, die hät­ten zu­nächst ei­ne ab­leh­nen­de Hal­tung Gott ge­gen­ü­ber ge­habt, die hät­ten sei­nen Wil­len nicht ge­tan, wie et­wa „Zöll­ner und Hu­ren“, die hät­ten al­so zu­nächst „Nein“ ge­sagt, hät­ten dann aber in Je­sus den Er­lö­ser er­kannt. Sie hät­ten al­so ih­re an­fäng­li­che Ab­leh­nung ber­eut und hätten sich schließ­li­ch zu ei­nem „Ja“ ent­schlos­sen.

Es mag uns ge­wiss schmer­zen, dass Je­sus von Na­za­reth von ei­nem Teil der jü­di­schen Ge­sell­schaft da­mals nicht als der­je­ni­ge er­kannt und an­ge­nom­men wor­den ist, der den Men­schen in sei­ner Per­son die Lie­be Got­tes be­zeu­gen woll­te, dass er viel­mehr von ih­nen zu To­de ge­bracht wor­den ist. Wir müs­sen aber das Un­ver­ständ­nis die­ser Men­schen ak­zep­tie­ren. Wir kön­nen es auch heu­te nicht er­war­ten, dass je­mand in Je­sus Chri­stus ei­ne be­deu­ten­de, ei­ne gott­ge­sand­te Ge­stalt er­kennt, dass je­mand an Chri­stus glaubt und sein Le­ben nach ihm aus­rich­tet. Das kön­nen wir nicht er­war­ten. Wenn da je­mand an­ders denkt, dann müs­sen wir das re­spek­tie­ren. Was wir tun kön­nen, ist dies, dass wir in ein Ge­spräch mit­ein­an­der ein­tre­ten, dass wir et­was von dem wei­ter­sa­gen, was uns wich­tig ist, dass wir aber auch gel­ten las­sen, was uns der an­de­re zu sa­gen hat.

Nun ist si­cher­lich noch zu be­den­ken, dass in der neu­te­sta­ment­li­chen Zeit, al­so zur Zeit der Ent­ste­hung des Glau­bens an Chri­stus, die re­li­gi­ö­se Aus­ein­an­der­set­zung eben nicht nur mit Wor­ten statt­fand. Je­sus wur­de zu To­de ge­bracht, sei­ne An­hän­ger wur­den ver­folgt und auch vie­le von ih­nen muss­ten um ih­res Glau­bens an Chri­stus wil­len ihr Le­ben las­sen. Da wa­ren al­so vie­le Ag­gres­sio­nen mit im Spiel. Das spü­ren wir den neu­te­sta­ment­li­chen Tex­ten noch ganz deut­lich ab. Die Ver­fol­gungs­si­tu­a­tion hat­te die Fron­ten ver­här­tet. Das hat­te dann auch die neu­te­sta­ment­li­che Spra­che be­ein­flusst. Wir als die heu­ti­gen Le­ser die­ser Texte dür­fen uns aber nicht in die­se ag­gres­si­ve Stim­mung hin­ein­zie­hen las­sen und den ag­gres­si­ven Sprach­stil über­neh­men.

Auf un­ser Gleich­nis be­zo­gen, mei­ne ich: Wir kön­nen nicht den­je­ni­gen, die Chri­stus nicht ak­zep­tie­ren, an­dro­hen, sie wür­den nicht ins Reich Got­tes ge­lan­gen. Sie wer­den ent­ge­gen­hal­ten: Es ist im Gleich­nis ja Chri­stus selbst der­je­ni­ge, der spricht, der die­se Dro­hung aus­spricht. Wir müs­sen hier aber be­den­ken, dass wir al­le Wor­te Je­su nicht di­rekt von ihm ha­ben, son­dern aus zwei­ter, drit­ter, vier­ter Hand. Es ist un­ü­ber­seh­bar, dass sich in die­sem Gleich­nis die Ver­fol­gungs­si­tu­a­tion der er­sten christ­li­chen Ge­mein­den spie­gelt.

Wir dür­fen al­so dem re­li­gi­ös An­ders­den­ken nicht ab­spre­chen, dass er ins Reich Got­tes kom­men wür­de. Das müs­sen wir schon Gott selbst über­las­sen, wen er auf­nimmt und wen nicht. Und wir dür­fen ge­gen den An­ders­den­ken­den auch nicht in der Wei­se po­le­mi­sie­ren, dass wir ihm sa­gen: „Dir wird es üb­ler er­ge­hen als de­nen, die in un­se­rer Ge­sell­schaft zu den am mei­sten Ver­ach­te­ten zäh­len.“ Sol­che ab­wer­ten­den Ge­gen­ü­ber­stel­lun­gen soll­ten wir un­ter­las­sen. Wir dür­fen sie auch nicht aus bi­bli­schen Tex­ten, auch nicht aus un­se­rem heu­ti­gen Gleich­nis über­neh­men.

Was al­so bleibt uns von un­se­rem Gleich­nis? Kön­nen wir ihm ei­ne all­ge­mei­ne Aus­sa­ge ent­neh­men, ei­ne Mah­nung an un­ser Ver­hal­ten, un­abhän­gig von der da­ma­li­gen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Chri­sten und Ju­den? Die Mah­nung et­wa, wenn wir ein­mal „Ja“ ge­sagt ha­ben zum Glau­ben, dann nicht wie­der rück­fäl­lig zu wer­den? Auch hier müs­sen wir wohl vor­sich­tig sein. Das mit dem Glau­ben ist nun ein­mal ei­ne nicht so ein­fa­che Sa­che. Da kann es ei­nem selbst bei gro­ßer Ernst­haf­tig­keit pas­sie­ren, dass sich plötz­lich Zwei­fel ein­stel­len. Was ei­nem ge­stern noch klar schien, kann ei­nem heu­te wie­der völ­lig un­klar wer­den. Wo wir uns ge­stern mein­ten klar ent­schei­den zu kön­nen, kön­nen wir heu­te wie­der un­si­cher wer­den. Das muss gar nicht an per­sön­li­cher Un­zu­ver­läs­sig­keit oder an ei­ner wet­ter­wen­di­schen Grund­ein­stel­lung lie­gen. Das er­gibt sich viel­mehr aus der Sa­che selbst her­aus. Die Sa­che des Glau­bens ist schwie­rig ge­nug. Ein neu­er Tag, neue Um­stän­de, neue Men­schen, neue Ge­dan­ken kön­nen uns die Din­ge neu se­hen las­sen und al­les wie­der in­fra­ge stel­len.

Ich möch­te es al­so da­bei be­las­sen, ein­mal ge­gen die­ses Gleich­nis ge­pre­digt zu ha­ben und dem­ge­gen­ü­ber die – ja auch bi­bli­sche – Ein­sicht un­ter­strei­chen, dass es ei­ne Gna­de ist, glau­ben zu kön­nen. Wenn wir uns im Glau­ben an Chri­stus, im Glau­ben an die Lie­be Got­tes zu al­len Men­schen si­cher sind, dann ist das ein wun­der­ba­res Ge­schenk. Wenn wir uns un­si­cher sind, in Zwei­fel ge­ra­ten und so­gar in Wi­der­stand ge­gen den Glau­ben an Chri­stus, dann wol­len wir uns das nicht ge­gen­sei­tig po­le­misch vor­hal­ten, son­dern mit­ein­an­der im wohl­wol­len­den Ge­spräch blei­ben, von­ein­an­der ler­nen, ein­an­der be­ra­ten, stüt­zen und stär­ken.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 22. August 1993)

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