Vorsicht mit dem biblischen Text!
Wir haben hier wieder eines der vielen Gleichnisse vor uns. Von einem Vater und zwei Söhnen ist hier die Rede. Dies erinnert uns an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Da war ja auch ein Vater mit zwei Söhnen. Und auch da war ein Sohn, der zunächst „Nein!“ sagte, zu seinem Elternhaus nämlich, der dann aber bereute und umkehrte. Ich gestehe Ihnen, dass mir das Gleichnis vom Verlorenen Sohn besser gefällt als das heutige Gleichnis von den ungleichen Söhnen. Das Gleichnis heute bezieht sich nämlich auf ein Problem, mit dem ich eigentlich nicht so umgehen möchte, wie dies in diesem Gleichnis geschieht. Ich fühle mich also herausgefordert, zunächst einmal, verzeihen Sie, gegen dieses Gleichnis zu predigen.
Das Gleichnis enthält ein Problem, von dem das ganze Neue Testament durchzogen ist, das Problem nämlich, dass Jesus von Nazareth nur von einem Teil der Juden als Messias angenommen, von der Mehrheit der Juden und vor allem von der herrschenden religiösen Schicht, jedoch abgelehnt worden ist. Diejenigen, die nicht an Jesus als den von Gott gesandten Retter, den Christus, glaubten, sind in unserem Gleichnis in dem Sohn dargestellt, der zunächst „Ja“ sagt, aber dann doch nicht tut, was er zugesagt hat. Gegen sie polemisiert unser Gleichnis. Ihnen wird der Zugang zum Reich Gottes versperrt bleiben, droht das Gleichnis. Eher würden Rechtsbrecher und Randständige wie Zöllner und Huren, ins Reich Gottes kommen als solche ungläubigen Juden.
Das Gleichnis wirft also die Frage nach dem Umgang mit religiös Andersdenkenden auf. Es könnte jemand gegenhalten, der Konflikt zwischen Anhängern und Gegnern des Christus sei zwar der historische Hintergrund, aber nicht die für uns aktuelle Aussage. Für uns ginge es mehr um das Thema „Zuverlässigkeit“ im Sinne etwa der kindlichen Regel „Versprochen ist versprochen!“ oder um das Thema „Wie sich einer eines Besseren besonnen hat“. Um diese Themen geht es wohl auch.
Aber es ist nicht gut, wenn wir den historischen Hintergrund, den Konflikt zwischen Christusanhängern und Christusgegnern, und die Art des Umgangs mit diesem Konflikt nicht in unser Bewusstsein heben.
Das Problem ist doch, dass von diesem Gleichnis, wie übrigens von vielen neutestamentlichen Texten, ein Einfluss auf unsere Einstellungen ausgeht, zumindest ausgehen kann, den wir eigentlich gar nicht wollen. Am vergangenen Sonntag war der Gedenktag der Zerstörung Jerusalems und die Kollekte war für die Versöhnungsarbeit zwischen Juden und Christen bestimmt.
Versöhnung zwischen Juden und Christen - das ist das Thema, um das es mir geht. Unser heutiges Gleichnis scheint mir eher geeignet zu sein, Gräber weiter aufzureißen als zuzuschütten, Christen und Juden eher zu trennen als zu versöhnen.
Das Problem des Antisemitismus hat sich ja bis heute nicht erledigt. Wir erfahren aus den Medien immer wieder von Schändungen jüdischer Friedhöfe, jüdischer Gedenkstätten, von antisemitischen Parolen, und auch im Zusammenhang mit der bevorstehen Bürgerschaftswahl in Hamburg scheuen sich einige nicht, solche Gefühle, denen der Antisemitismus entspringt, zu schüren und zu entfachen.
Wir haben gestern Nachmittag auf Initiative des Arbeitskreises „Ökumenische Nachbarschaft Harvestehude, Hoheluft, Rotherbaum“, dem auch unsere Gemeinde angehört, einige der ehemals jüdischen Stätten in unserem Einzugsbereich besucht, u. a. ein ehemaliges jüdisches Altenheim in der Sedanstraße, die ehemalige Talmud-Tora-Schule am Grindelhof und den ehemaligen Israelitischen Tempel in der Oberstraße, wo sich heute der Konzertsaal des NDR befindet.
An jeder der fünf Stätten, die wir besucht haben, wurde an die schrecklichen Ereignisse von vor 50-60 Jahren erinnert, als die Juden in Hamburg schrittweise ihrer Wirkungs- und Lebensmöglichkeiten beraubt und schließlich deportiert und umgebracht wurden.
Jener Antisemitismus hatte seine Quellen auch in der christlichen Kirche. Diejenigen, die antisemitische Einstellungen zu rechtfertigen versuchten, beriefen sich u. a. auch auf die Bibel. Und da konnten sie genügend Texte finden, die ihnen Recht zu geben schienen.
Darum können wir mit der Bibel nicht naiv umgehen, als gäbe es die schreckliche Geschichte des Antisemitismus nicht.
Wir können es nicht zulassen, dass uns Texte, seien es auch biblische Texte, suggerieren, wir als Christen – ich sage das mal mit den englischen Worten – wir als Christen seien die „good guys“ und die Juden seien die „bad guys“, also wir seien die Guten und die Juden die Bösen.
Natürlich meint die Bibel das nicht. Aber viele biblische Texte könnten so missverstanden und missbraucht werden, auch unser heutiges Gleichnis. Da müssen wir auf der Hut sein. Und wenn es uns auch ungewohnt sein mag und uns gewiss schwerfällt: Wir müssen auch den Formulierungen der biblische Texte gegenüber eine kritische Distanz wahren und ihre Wirkung bedenken, die sie hinsichtlich der Beziehung zwischen Christen und Juden haben könnten. Und wir müssen selbstkritisch unsere Bibelauslegung überwachen und auf unsere Sprache achten, dass wir da nicht biblische Formulierungen und Bilder übernehmen, die im heutigen Kontext antisemitische Gefühle und Einstellungen unterstützen könnten.
Um nun auf das Gleichnis zurückzukommen – es will sagen: Die Juden haben zwar zum einen „Ja“ gesagt zu Gott, d. h. sie haben sich zum Gott Israels bekannt, sie haben seine Auserwählung angenommen, sie haben sich in einem Bund mit ihm zur Treue verpflichten lassen – sie sind zwar immer auch wieder untreu geworden, aber insgesamt sind sie das Volk Gottes geblieben und haben es auch sein wollen. Dann aber sandte Gott Jesus von Nazareth zur Befreiung und Erlösung von Not und Schuld. Ihn nahmen die Juden in ihrer Mehrheit und insbesondere die religiöse Führung nicht an. Sie ließen ihn umbringen. Nach ihrem anfänglichen „Ja“, so das Gleichnis, haben sie schließlich „Nein“ gesagt, „Nein“ zu Jesus als dem Christus, dem Messias.
Auf der anderen Seite, so weiter das Gleichnis, gäbe es aber andere Menschen, die hätten zunächst eine ablehnende Haltung Gott gegenüber gehabt, die hätten seinen Willen nicht getan, wie etwa „Zöllner und Huren“, die hätten also zunächst „Nein“ gesagt, hätten dann aber in Jesus den Erlöser erkannt. Sie hätten also ihre anfängliche Ablehnung bereut und hätten sich schließlich zu einem „Ja“ entschlossen.
Es mag uns gewiss schmerzen, dass Jesus von Nazareth von einem Teil der jüdischen Gesellschaft damals nicht als derjenige erkannt und angenommen worden ist, der den Menschen in seiner Person die Liebe Gottes bezeugen wollte, dass er vielmehr von ihnen zu Tode gebracht worden ist. Wir müssen aber das Unverständnis dieser Menschen akzeptieren. Wir können es auch heute nicht erwarten, dass jemand in Jesus Christus eine bedeutende, eine gottgesandte Gestalt erkennt, dass jemand an Christus glaubt und sein Leben nach ihm ausrichtet. Das können wir nicht erwarten. Wenn da jemand anders denkt, dann müssen wir das respektieren. Was wir tun können, ist dies, dass wir in ein Gespräch miteinander eintreten, dass wir etwas von dem weitersagen, was uns wichtig ist, dass wir aber auch gelten lassen, was uns der andere zu sagen hat.
Nun ist sicherlich noch zu bedenken, dass in der neutestamentlichen Zeit, also zur Zeit der Entstehung des Glaubens an Christus, die religiöse Auseinandersetzung eben nicht nur mit Worten stattfand. Jesus wurde zu Tode gebracht, seine Anhänger wurden verfolgt und auch viele von ihnen mussten um ihres Glaubens an Christus willen ihr Leben lassen. Da waren also viele Aggressionen mit im Spiel. Das spüren wir den neutestamentlichen Texten noch ganz deutlich ab. Die Verfolgungssituation hatte die Fronten verhärtet. Das hatte dann auch die neutestamentliche Sprache beeinflusst. Wir als die heutigen Leser dieser Texte dürfen uns aber nicht in diese aggressive Stimmung hineinziehen lassen und den aggressiven Sprachstil übernehmen.
Auf unser Gleichnis bezogen, meine ich: Wir können nicht denjenigen, die Christus nicht akzeptieren, androhen, sie würden nicht ins Reich Gottes gelangen. Sie werden entgegenhalten: Es ist im Gleichnis ja Christus selbst derjenige, der spricht, der diese Drohung ausspricht. Wir müssen hier aber bedenken, dass wir alle Worte Jesu nicht direkt von ihm haben, sondern aus zweiter, dritter, vierter Hand. Es ist unübersehbar, dass sich in diesem Gleichnis die Verfolgungssituation der ersten christlichen Gemeinden spiegelt.
Wir dürfen also dem religiös Andersdenken nicht absprechen, dass er ins Reich Gottes kommen würde. Das müssen wir schon Gott selbst überlassen, wen er aufnimmt und wen nicht. Und wir dürfen gegen den Andersdenkenden auch nicht in der Weise polemisieren, dass wir ihm sagen: „Dir wird es übler ergehen als denen, die in unserer Gesellschaft zu den am meisten Verachteten zählen.“ Solche abwertenden Gegenüberstellungen sollten wir unterlassen. Wir dürfen sie auch nicht aus biblischen Texten, auch nicht aus unserem heutigen Gleichnis übernehmen.
Was also bleibt uns von unserem Gleichnis? Können wir ihm eine allgemeine Aussage entnehmen, eine Mahnung an unser Verhalten, unabhängig von der damaligen Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden? Die Mahnung etwa, wenn wir einmal „Ja“ gesagt haben zum Glauben, dann nicht wieder rückfällig zu werden? Auch hier müssen wir wohl vorsichtig sein. Das mit dem Glauben ist nun einmal eine nicht so einfache Sache. Da kann es einem selbst bei großer Ernsthaftigkeit passieren, dass sich plötzlich Zweifel einstellen. Was einem gestern noch klar schien, kann einem heute wieder völlig unklar werden. Wo wir uns gestern meinten klar entscheiden zu können, können wir heute wieder unsicher werden. Das muss gar nicht an persönlicher Unzuverlässigkeit oder an einer wetterwendischen Grundeinstellung liegen. Das ergibt sich vielmehr aus der Sache selbst heraus. Die Sache des Glaubens ist schwierig genug. Ein neuer Tag, neue Umstände, neue Menschen, neue Gedanken können uns die Dinge neu sehen lassen und alles wieder infrage stellen.
Ich möchte es also dabei belassen, einmal gegen dieses Gleichnis gepredigt zu haben und demgegenüber die – ja auch biblische – Einsicht unterstreichen, dass es eine Gnade ist, glauben zu können. Wenn wir uns im Glauben an Christus, im Glauben an die Liebe Gottes zu allen Menschen sicher sind, dann ist das ein wunderbares Geschenk. Wenn wir uns unsicher sind, in Zweifel geraten und sogar in Widerstand gegen den Glauben an Christus, dann wollen wir uns das nicht gegenseitig polemisch vorhalten, sondern miteinander im wohlwollenden Gespräch bleiben, voneinander lernen, einander beraten, stützen und stärken.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 22. August 1993)