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2. Sonntag nach Weihnachten (5.1.25)


Leben ist mehr als der Alltag

4. Januar 2004

2. Sonntag nach Weihnachten

1. Johannes 5,11-13


Am heutigen zweiten Sonntag nach Weihnachten und ersten Sonntag des neuen Jahres sagt uns unser Predigttext aus dem 1. Johannesbrief noch einmal in sehr abstrakt-theologischen Worten, was es mit diesem Jesus auf sich hat, dessen Geburt wir zu Heiligabend wieder gefeiert haben. 

„Er ist das Zeugnis dafür, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat. Und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben.“

In Jesus Christus also begegnet uns das ewige Leben. Und wir haben Anteil am ewigen Leben durch ihn.

Das klingt sehr geheimnisvoll. Diese Worte werden wohl auch geheimnisvoll bleiben. 

Und das ist schon Teil der Botschaft: dass das Leben ein Geheimnis ist. Leben besteht nicht nur in dem, was wir anschauen, erfahren, analysieren können. Leben bedeutet nicht nur, dass unser Herz schlägt und unser Kreislauf funktioniert. Die Frage: Wann beginnt das Leben?, erschöpft sich nicht in der Antwort: Das Leben beginnt mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle. Und die Frage: Wann endet das Leben? erschöpft sich nicht in der Antwort: Das Leben endet, wenn das Herz zu schlagen aufhört. Solche und ähnliche Versuche, Anfang und Ende des Lebens zu definieren, beziehen sich auf das Leben im Sinne der Körperfunktionen. 

Leben im Sinne unseres christlichen Glaubens ist aber mehr als das Funktionieren unseres Körpers. Auf dieses Mehr weist unser Körper durchaus hin. Aber um dieses Mehr wahrnehmen zu können, brauchen wir den entsprechenden Sinn für das Überkörperliche. 

Wenn z. B. Eltern den kleinen Körper ihres gerade neugeborenen Kindes in den Armen halten, spüren sie, dass sie mehr in den Armen halten als nur einen Körper. Sie spüren, dass ihnen ein Wunder geschenkt ist, etwas Geheimnisvolles, Unbegreifliches, das fast wie aus dem Nichts entstanden ist. Angesichts ihres Neugeborenen werden Eltern kaum jemals das Gefühl haben, dass sie selbst diesen Körper gemacht haben. Sie haben ein wenig beigetragen. Aber das ist vergleichsweise nichts gegenüber den komplizierten Vorgängen, die in Gang gesetzt wurden, als ein Spermium aus einer Vielzahl von Millionen von Spermien auf die eine Eizelle traf. 

Wir sind in dieser Hinsicht als einzelner Mensch ein Zufallsprodukt aus einer endlosen Vielzahl möglicher Kombinationen. Millionen und Abermillionen anderer Kombinationen von Samen und Eizellen hätte es geben können, alles Menschen, die nicht geboren sind, die aber als reale Möglichkeiten vorhanden waren und vorhanden sind und vorhanden sein werden. 

Der einzelne Mensch, der einzelne Leib, das einzelne konkrete körperliche Leben weist weit über sich selbst hinaus auf diese unfassbaren, unbegreiflichen, nicht realisierten Möglichkeiten. Und diese weisen auf das große Geheimnis, auf die geheimnisvolle Dimension unseres Daseins. Das einzelne konkrete Leben weist über sich hinaus auf ein umfassenderes Leben, in dem alle Lebensmöglichkeiten beschlossen sind. 

Menschen der biblischen Zeit haben die Geburt jenes Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, als die Ankunft eines Boten aus jener geheimnisvollen Welt verstanden, als den menschgewordenen Gruß aus jener umfassenden göttlichen Welt. „Er ist der Sohn Gottes“, haben sie gesagt. Er verkörpert noch deutlicher und intensiver als jeder andere Mensch das umfassende ewige göttliche Leben. Seine leibhaftige Gegenwart ließ Menschen in besonderer Weise das Geheimnis des Daseins und die göttliche Größe und Herrlichkeit erahnen.

Er war nicht nur Leib. Er war zugleich Geist und erstrahlte im göttlichen Licht.

Dieser konkrete Mensch, von einer jungen Frau in Bethlehem geboren, führte ein konkretes Leben. Von allem, was er sagte und tat, ging eine große Kraft und Autorität aus. Dieser Mensch war nicht nur von dieser Welt. Das spürten die Menschen wohl. Was er sagte, hatte mehr Gewicht als das, was üblicherweise geredet wurde. Und was er tat, war bedeutungsschwer. Sein Leben war nicht nur sein Leben. Sein Leben strahlte in die Leben anderer Menschen hinein und gab ihren Leben einen göttlichen Glanz.

Wir empfinden unser Leben manchmal als sehr erdenschwer. Wir empfinden die Beschwernisse des Lebens, die Lasten des Körperlichen und Materiellen. Das kann uns herunterziehen und niederdrücken. 

Es kann aber auch sein, dass wir uns über unseren Körper erheben, dass wir aus uns selbst heraustreten oder über uns selbst hinausgehoben werden und engelgleich dahinschweben.

Es kann manchmal einfach schöne Musik sein, die uns über uns selbst hinaushebt in eine andere Welt. Wenn die Musik zu Ende ist, kann es sein, dass wir innerlich wieder zu Boden fallen - oder im besseren Fall wieder auf den Boden herabschweben. 

Eine solche Wirkung hatte und hat jener Jesus von Nazareth, in Bethlehem geboren. Sein Leben ist wie himmlische Musik, die uns in eine andere Welt hineinträgt, die uns mit jenem anderen Leben erfüllt, dem weiten, göttlichen, ewigen Leben. 

Wenn Sie in den vergangenen Tagen an irgendeiner der Taizé-Andachten teilgenommen haben, vielleicht in einer der Messehallen mit einigen tausend anderen Menschen, dann haben Sie dort vielleicht etwas hiervon gespürt: von der erhebenden Kraft der Musik und von der erhebenden Kraft der guten Worte und Bilder, die uns von dem göttlichen Menschen, dem Sohn Gottes, überliefert sind. 

Junge Menschen sind hunderte und z. T. tausende von Kilometern gereist, um gemeinsam mit schönen Liedern und schlichten Texten und einem bescheidenen Leben etwas von jener göttlichen Welt zu spüren, von jenem göttlichen Leben, das unser eigenes Leben übersteigt. Es war für viele von ihnen - und vielleicht auch für einige von uns - eine intensive spirituelle Erfahrung. 

Unser normales, alltägliches, erdenschweres Leben geht weiter.  Aber es ist doch gut und hilfreich und heilsam, immer mal wieder die Erfahrung zu machen, dass unser Leben mehr ist als unser Alltag, dass unser Leben mehr ist als das Erdenschwere, dass unser Leben mehr ist als das, was zwischen Geburt und Tod anschaubar, beschreibbar, analysierbar ist. Es ist gut, wenn uns unsere Gottesdienste diese Erfahrung des Himmlischen ermöglichen können.

Jener Jesus von Nazareth, dessen Geburt uns der Evangelist Lukas in seiner Weihnachtsgeschichte so anschaulich schildert - jener Jesus von Nazareth vermittelt uns einen Einblick in den Bereich des Göttlichen, in den Bereich des Himmlischen. Wenn wir ihn betrachten, stellt sich uns das Himmlische als das wahrhaft Menschliche im besten Sinne des Wortes dar. Der Bereich des Überirdischen ist nicht nur das endlose, kalte, unheimliche Universum. Der Bereich des Überirdischen ist nicht allein in mathematischen Formeln erfaßbar. 

Das Überirdische, das Göttliche, das Himmlische trägt für uns ein menschliches Antlitz. Den Urgrund allen Seins, den Schöpfer aller Dinge, den, der alles bewegt, nennen wir Vater, und der über ihn Auskunft gibt, ist für uns Gottes Sohn. Wenn ein Kind fragt: „Wo war ich, als ich noch nicht geboren war?“, können wir sagen: „Du warst im Herzen Gottes.“ Und wenn einer fragt: „Wo werde ich sein, wenn mein Herz nicht mehr schlägt und mein Körper in Staub zerfällt?“, können wir sagen: „Dann wirst du wieder im Herzen Gottes wohnen - in alle Ewigkeit.“ Wir könnten es auch noch persönlicher sagen: „Du warst in unseren Herzen und wirst in unseren Herzen bleiben.“

Zu Weihnachten ist der Himmel auf die Erde gekommen. Ein Schein des Göttlichen hat unsere Welt erhellt. Gott ist Mensch geworden. Wir können - und sollten - diese Erfahrung täglich machen - in der ruhigen Besinnung auf den, der uns zu Weihnachten geschenkt wurde: im Lesen der biblischen Texte, im Gebet, in gemeinsamen Gottesdiensten, im Hören auf schöne Musik. Und wir können und sollten diese Erfahrung weitergeben, indem wir mithelfen, das Göttliche in wahrer Menschlichkeit zu leben - so, wie Christus es uns gelehrt und vorgelebt hat: in Güte und Barmherzigkeit, in Vergebung, in Liebe. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. Januar 2004) 

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