Jerusalem - Stadt des Friedens?
16. August 2009
10. Sonntag nach Trinitatis - Israelsonntag
Lukas 19,41-44a
Wie gern würden wir in Frieden miteinander leben auf diesem Erdball! Wie schwer fällt es uns aber, Frieden zu halten und Frieden zu schaffen! Hier und dort und hin und wieder gelingt es - ein wenig. Seit Menschengedenken ist der Frieden eine Sehnsucht. Er wird wohl noch lange eine Sehnsucht bleiben.
Die Hoffnung dürfen wir nicht aufgeben. Es gibt Grund zur Hoffnung. Die Gegenwart gibt Beispiele dafür, dass Unglaubliches geschehen kann: Nach Jahrzehnten ungerechter Gefängnishaft kehrt einer in die Gesellschaft zurück und setzt sich aktiv für die Versöhnung ein - zwischen Schwarzen und Weißen - in Südafrika. Und nach vierzig Jahren Spaltung unseres Landes führt eine gewaltlose Revolution wieder zusammen, was zusammengehört.
Und vor zweitausend Jahren: In einem kleinen, von einer Großmacht besetzten Land zieht einer durch die Dörfer und Städte bis hin nach Jerusalem und predigt von der Liebe, von der Versöhnung, vom Frieden, von Heilung und Heil und tut, was er sagt und nimmt es auf sich - ohne Verbitterung, missverstanden zu werden, abgelehnt zu werden, verfolgt, geschunden und schließlich hingerichtet zu werden.
Warum ist es so schwer mit dem Frieden, wo wir ihn doch alle in der Tiefe unseres Herzens eigentlich wollen? Es liegt an vielem - nicht zuletzt an uns selbst, an der Unruhe in uns, an den widerstreitenden Kräften in uns, von denen immer mal wieder diejenigen siegen, die Unfrieden stiften und Schaden anrichten. Das fängt in frühester Kindheit an und hört nicht auf, bevor wir nicht endgültig die Augen wieder geschlossen haben.
Der Mensch ist trotzdem ein liebenswertes und geliebtes Geschöpf - das ist die christliche Botschaft. Sie hat für uns, die wir hier versammelt sind, leibhaftige Gestalt angenommen in dem Menschen, der nach den biblischen Texten in Bethlehem geboren und in Jerusalem zu Tode gebracht wurde.
Jener Jesus von Nazareth war in der Tradition seines Volkes groß geworden, das an den einen Gott glaubte, den letztlichen Schöpfer aller Menschen, das sich von diesem Gott auserwählt fühlte und begleitet auf dem beschwerlichen und leidvollen Weg durch die Geschichte - und das daran glaubt, dass sich eines Tages alle Völker friedlich im Bekenntnis an diesen einen Gott vereinen werden.
Jerusalem ist für sein Volk zum Inbegriff dieses allumfassenden himmlischen Friedens geworden: Das himmlische Jerusalem.
Es ist heute tatsächlich so, dass Menschen aus aller Welt in Jerusalem versammelt sind, erfüllt von dem Glauben an den einen Gott. Nur: Es fehlt der Frieden.
Gott, der geheimnisvolle Urgrund allen Seins, der letztliche Schöpfer aller Menschen, der, in dem alles Wissen und alle Weisheit, Anfang und Ende, der Sinn, das Warum verborgen sind - Gott, der Unergründliche und Unfassbare hat in den Hirnen und Herzen der Menschen unterschiedliche Gestalt angenommen. In den unterschiedlichsten Formen geben Menschen ihrem Glauben an den geheimnisvollen Gott konkreten Ausdruck und deuten seinen Willen sehr unterschiedlich und ziehen sehr verschiedene Schlussfolgerungen für die Wertmaßstäbe und die Gestaltung ihrer Lebensführung.
Obwohl wir das Wesen und die Größe Gottes nicht erfassen können und Gott für alle Menschen ein Geheimnis bleibt, hat sich das Bedürfnis der einen, die so glauben, über die anderen, die anders glauben, zu bestimmen, dennoch als sehr groß erwiesen.
Die biblischen Texte sind von der ersten bis zur letzten Seite gefüllt mit Berichten über das Ringen um den rechten Glauben. Sie schildern nicht nur ein Ringen im Herzen einzelner Menschen. Sie schildern auch handgreifliche, gewalttätige bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen von Gruppen und Stämmen und Völkern, um ihren Glauben zu verteidigen und durchzusetzen und anderen aufzuerlegen.
Nicht nur die biblischen Texte schildern uns solche Auseinandersetzungen. Die ganze menschliche Geschichte ist davon angefüllt bis auf den heutigen Tag.
Wir können uns fragen: Warum ist das so? Vielleicht weil der Glaube so sehr das Menschenbild und die Wertegrundlage der Gesellschaft bestimmt. Der Glaube ist nicht, wie irrtümlich oft angenommen wird und von interessierter Seite gelegentlich gefordert wird, etwas für das stille Kämmerlein. Der Glaube ist von gesellschaftlicher Relevanz und gelegentlich von gesellschaftlicher Brisanz.
Religion und Politik sind von daher immer, mal mehr, mal weniger, ineinander verwoben. Mit unterschiedlichem Glauben und folglich unterschiedlichen Wertevorstellungen und Lebenskonzepten innerhalb einer Gesellschaft zurechtzukommen, setzt ein hohes Maß an gegenseitiger Akzeptanz, Toleranz, Selbstkritik, Kommunikations- und Kompromissbereitschaft voraus.
Jerusalem war stets und ist bis heute auch Inbegriff dieser brisanten Mischung unterschiedlicher religiöser und politischer Werte und Ziele.
König David, der erste König Israels, erwählte sich Jerusalem als Hauptstadt seines Königreichs und als Zentrum seines Glaubens an den einen Gott Israels, Jahwe. Die Vormacht dieses Glaubens hatte er für seinen Herrschaftsbereich gegen den Glauben der Kanaanäer und anderer erkämpft. Sein Sohn Salomo baute den ersten Tempel in Jerusalem und festigte damit den Glauben an den einen Gott. Die Auseinandersetzungen mit der kanaanäischen Religion, mit der ägyptischen, der assyrischen, der babylonischen, der persischen, der griechischen und der römischen Religion führten in den folgenden Jahrhunderten zu immer neuen - teilweise kriegerischen - Maßnahmen bis hin zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem und Zerstörung der Stadt und Verschleppung und Vertreibung der Bevölkerung ins babylonische Exil und in die weite Welt.
Aus unserem heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium haben wir gehört: „Jesus weinte über Jerusalem.“ Jesus weinte über Jerusalem, weil er die Zerstörung der Stadt durch die römischen Besatzer vor seinen inneren Augen voraussah. Im Jahre 70 wurde Jerusalem zerstört. In der Folge wurden die Juden in alle Welt zerstreut und waren dann in manchen Kulturen nicht wohlgelitten. Die Nationalsozialisten versuchten in ihrem Einflussbereich auf grausamste Weise, dem Judentum ein endgültiges Ende zu bereiten. Nach dem 2. Weltkrieg konnten Juden in den neu geschaffenen Staat Israel zurückkehren. Sie erwählten wieder Jerusalem als ihre Hauptstadt. Die Auseinandersetzung mit der ansässigen palästinensischen Bevölkerung und den muslimischen Unterstützern von außerhalb ist seitdem ein blutiges Dauerthema, dessen Ende nicht abzusehen ist.
Jesus von Nazareth hat aus der religiösen Tradition seines Volkes heraus den barmherzigen, vergebenden, liebenden Gott verkündigt und gelebt. Er hat mit klaren Worten, mit Gleichnissen, mit beherztem, mutigem Handeln für seinen Glauben geworben. Er hat mit seinem Reden und Handeln dafür geworben, in seiner Person den liebenden Gott in leibhaftiger Gestalt wahrzunehmen - in der Tradition der jüdischen Hoffnung auf den seit Jahrhunderten erwarteten Messias.
Nur eine kleine Gruppe seiner jüdischen Mitmenschen hat sich auf sein Anliegen eingelassen und ist ihm gefolgt. Andere sahen in Jesus einen Aufrührer, sorgten für sein gewaltsames Ende und stellten auch seinen Anhängern nach. Die neutestamentlichen Texte sind nicht nur von der wunderbaren Botschaft Jesu erfüllt, sondern auch von den Auseinandersetzungen um seine Person und dem Groll seiner Anhänger über die geringe Anerkennung und gewaltsame Verfolgung.
Im weiteren Verlauf der Ausbreitung des christlichen Glaubens und seiner staatlichen Anerkennung und der Herausbildung einer weltweiten Kirche hat sich der christliche Glaube als der einzig Wahre zu profilieren versucht - mit zeitweise schrecklichen Folgen.
Es ist eine bleibende große Aufgabe, das Miteinander von christlicher und jüdischer Religion in gegenseitiger Wertschätzung zu gestalten, dann auch im Gespräch mit der muslimischen Religion und schließlich mit den Weltreligionen überhaupt.
Gott ist zu groß und zu geheimnisvoll, als dass wir ihn mit menschlichem Verstand und Glauben erfassen könnten. Es ist der Größe und dem Geheimnis Gottes angemessen, dass wir verschiedene Wahrheiten nebeneinander gelten lassen.
Der Frieden besteht nicht darin, dass wir alle einer Meinung und eines Glaubens sind, sondern dass wir einander annehmen mit unseren Unterschiedlichkeiten und uns ggf. auseinandersetzen - mit Mitteln allerdings, die Leib und Leben und Würde des anderen respektieren.
Wir sehnen uns alle nach einem friedlichen und gedeihlichen Miteinander und sind auch bereit, einiges dafür zu tun. Gott stärke den guten Willen in uns und in vielen Menschen und erhalte in uns allen die Hoffnung - und den Glauben daran, dass er Unglaubliches geschehen lassen kann.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. August 2009)