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10. Sonntag nach Trinitatis (24.8.25)


Christlicher Glaube und politische Mitverantwortung

11. August 1985

10. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 19,41-48 


Vor vierzig Jahren, im August 1945, nahm Pastor Martin Niemöller, eine der führenden Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, auf einer Kirchenkonferenz Stellung zur Frage der Schuld für die schlimmen Ereignisse der zurückliegenden dreizehn Jahre. Er sagte dabei unter anderem: „Die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder erst, wenn es zu spät war.“ 

Zwei Monate später, am 18. Oktober 1945, gibt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in Stuttgart eine förmliche Schulderklärung ab. Darin steht der Satz: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Ich möchte nun nicht einen Vortrag zum Thema „Die Kirche und das Dritte Reich“ halten. Das steht mir in diesem Rahmen nicht zu. Ich möchte vielmehr unseren heutigen Predigttext auslegen. Aber dieser Predigttext aus dem Evangelium des Lukas legt es sehr nahe, einen Blick zurück in unsere jüngste politische Vergangenheit zu werfen.

Bei Lukas heißt es: „Jesus weinte über Jerusalem und sagte: „Wenn doch auch du an diesem Tag erkennen würdest, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und sie werden dich und deine Kinder in dir zerschmettern und keinen Stein in dir auf dem anderen lassen, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du gnädig heimgesucht worden bist.“

Diese Andeutungen einer furchtbaren Katastrophe nehmen Bezug auf ein konkretes historisches politisches Ereignis: die Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. durch die römische Besatzungsmacht. 

Die Zerstörung Jerusalems, wie sie in den Worten Jesu angedeutet ist, hat stattgefunden. Man mag sich darüber streiten, ob Jesus zu seinen Lebzeiten die Katastrophe wirklich vorausgesagt hat über vier Jahrzehnte hinweg oder ob Lukas ihm diese Weissagung nur in den Mund gelegt hat. Lukas hat sein Evangelium ja erst etwa zwei Jahrzehnte nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben. 

Ob Vorhersage oder nicht, darauf kommt es nicht an. Wesentlich ist vielmehr ein anderes Merkmal dieses Textes: dass hier nämlich ein konkretes politisches Ereignis theologisch gewertet und in den Zusammenhang einer Schuld gestellt wird, die mit dem Verhältnis zu Gott, zu Jesus Christus insbesondere, zu tun hat. Wenn Jesus in unserem Text der Weissagung der Katastrophe die Begründung anschließt: „Weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du gnädig heimgesucht worden bist“, dann hält er damit den Verantwortlichen Jerusalems vor, sie würden das Unglück über Jerusalem schuldhaft verursachen, weil sie in ihm, Jesus, nicht den Christus, den Gottgesandten, erkennen würden.

Jesus spricht in unserem Text diese Worte am Tag seines Einzugs in die Stadt Jerusalem: „Wenn doch auch du an diesem Tag erkennen würdest, was zum Frieden dient!“ Die Menge der Jünger jubelt und begleitet Jesus mit Lobpreisungen: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“

Die Anhänger Jesu verkünden in ihren Jubelrufen öffentlich: „Hier kommt der König des Friedens.“ Aber Pharisäer, die am Wege stehen, warnen Jesus: „Bringe doch deine Jünger zum Schweigen. Man wird dich in Jerusalem zur Rechenschaft ziehen.“ Und Jesus antwortet: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, dann werden die Steine schreien.“ – „Dann werden die Steine schreien“, auch hierin dürfen wir einen Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems sehen. Wieder machen die Worte Jesu hier den Zusammenhang deutlich: Die Katastrophe wird die Folge der Ablehnung Jesu sein, Folge der Unfähigkeit und des Unwillens, in ihm den von Gott gesandten Retter und Erlöser zu erkennen und anzunehmen.

Lukas sieht dieses Unvermögen zunächst auf Seiten der führenden Männer von Jerusalem. Als Jesus sich in den Tempelbezirk begibt und auch dort seinen Anspruch geltend macht, indem er den Tempelbezirk von den Händlern reinigt und die, wie er sagt, „Räuberhöhle“ wieder zum Bethaus macht und dann täglich im Tempel lehrt, findet er bei der Bevölkerung offene Ohren, großes Interesse und Zustimmung. Die Hohepriester, Schriftgelehrten und Vornehmsten des Volkes dagegen suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen. Aber später sind es nicht nur die führenden Männer Jerusalems. Als Jesus der Prozess gemacht wird und er vor Pilatus steht, ruft die ganze Menge der Bevölkerung: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“

„Wenn doch auch du an diesem Tag erkennen würdest, was dem Frieden dient!“ Mit dieser Klage über Jerusalem stellt Jesus einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem Glauben an ihn und dem politischen Wohlergehen dieser Stadt her. Die Schuld für die Zerstörung Jerusalems sieht er im Unglauben der Jerusalemer begründet.

Ist es nicht ein ungeheuerlich gewagtes, problematisches Unterfangen, einen solchen Zusammenhang herzustellen?! Kann da überhaupt etwas Wahres dran sein? Wäre das Schicksal der Stadt ein anderes gewesen, wenn Jesus in Jerusalem mit offenen Armen aufgenommen worden wäre, wenn man ihn als den Christus, den Messias erkannt und gepriesen und ihm die entsprechende Ehre erwiesen hätte?

Wenn wir einmal in einem Geschichtsbuch nachlesen, wie es zur Zerstörung Jerusalems gekommen ist, dann wird uns deutlich werden, wie verwickelt die Vorgänge waren, die zu dieser Katastrophe geführt haben. Da waren unzählige einzelne Ereignisse, die alle irgendwie eine Rolle gespielt haben. Und eine Unmenge einzelner Personen und Gruppierungen waren da, die in einem komplizierten Spiel der Kräfte und Gegenkräfte den Weg gebahnt haben, der schließlich zur Zerstörung Jerusalems führte. Wie kann da einer angesichts dieser verwickelten Vorgänge behaupten, es wäre anders gekommen, wenn die Jerusalemer sich zu Jesus als den Christus bekannt hätten?! Zumal doch viele Entscheidungen gar nicht in Jerusalem und nicht von den Juden gefällt worden sind, sondern von Andersgläubigen in Rom und an anderen Stellen des riesigen römischen Reiches.

Ist es nicht abwegig und letztlich auch ungerecht, die Schuld für diese politische Katastrophe an einer ganz bestimmten Stelle, bei ganz bestimmten Menschen, in einer ganz bestimmten Verhaltensweise fest machen zu wollen?! Ist die Schuld für ein solches Ereignis wie die Zerstörung Jerusalems nicht etwas völlig Ungreifbares, Undefinierbares, etwas Vages und Schwammiges, jedenfalls nicht konkret Benennbares?

Wenn wir nun wieder auf die Ereignisse unserer eigenen jüngsten Vergangenheit zurückkommen: Ist die Schuld für die Zerstörung Berlins, Dresdens, Hamburgs, Hiroshimas und Nagasakis nicht ebenso schwer fassbar? Haben da nicht unzählige Menschen in unterschiedlichster Weise und unzählige Ereignisse eine Rolle gespielt, die in einem komplizierten Zusammenwirken schließlich zur Bombardierung dieser Städte führten? Von einem objektiven Standpunkt her betrachtet ist es unmöglich und unzulässig, die Schuld für solche Ereignisse an einer bestimmten Stelle, bei bestimmten Menschen festzumachen.

Und dennoch ist es notwendig und sinnvoll, die Frage nach der Schuld zu stellen und zu beantworten. Die Antwort kann nur subjektiv persönlich sein, im Sinne eines persönlichen Bekenntnisses zur Schuld, eines Bekenntnisses, das auf die Beweisführung im Einzelnen verzichtet. Jede Beweisführung würde letztlich im Sande verlaufen. Es wäre ein Leichtes aufzuzeigen, dass kein einzelner Mensch und keine einzelne Gruppe an den großen politischen Ereignissen, Katastrophen die Schuld trägt. Und dennoch liegt schuldhaftes Verhalten vor, denn sonst wäre es zu den Katastrophen nicht gekommen.

Diese vage, im Einzelnen schwer aufweisbare, aber doch existierende Schuld kann nur jeder Einzelne ganz persönlich für sich auf sich nehmen und sich zu ihr bekennen – im Sinne einer Mitverantwortung im Kleinsten. In diesem Sinne können auch einzelne Gruppen Schuld übernehmen. 

Martin Niemöller hat dies in Bezug auf die Vorgänge im Dritten Reich für die Kirche, besonders für die Bekennende Kirche, und der Rat der EKD hat es für die evangelische Kirche in Deutschland getan. Es handelt sich hierbei um Schuldbekenntnisse. Sie bringen zum Ausdruck, dass die Linien der Verantwortung auch für die großen politischen Ereignisse und Katastrophen bis in die Kirche, die Gemeinden, den Glauben und das Verhalten des einzelnen Christen hinein führen. 

Das Bekenntnis zur Schuld ist das Bekenntnis zur Verantwortung, und dies ist zugleich das Bekenntnis zur menschlichen Freiheit, der Freiheit der Entscheidung zwischen Gut und Böse zu wählen; solche Freiheit ist Wesensmerkmal unserer menschlichen Würde. So ist das Bekenntnis zur Schuld zugleich das Bekenntnis zum Menschen als eines mit Verantwortung und Freiheit begabten Wesens.

Jesus weint über Jerusalem. Er stellt einen Zusammenhang zwischen dem mangelnden Glauben der Jerusalemer an ihn als den Christus und der Zerstörung der Stadt her. Wir dürfen diesen Zusammenhang nicht im Sinne eines direkten Aufweises von Ursache und Wirkung verstehen. Vielmehr wird uns hier gesagt, dass der Glaube an Christus seine Folgen hat auch für die politischen Verhältnisse und Ereignisse. 

Wäre nicht vielleicht doch manches in der Vergangenheit anders verlaufen, wenn Christen sich mutiger zu Christus bekannt, treuer gebetet, fröhlicher geglaubt und brennender geliebt hätten? Gewiss wird auch der stärkste Glaube nicht zu einem sicheren Mittel zur – ich sage dies in Anführungszeichen – „Verbesserung der Welt“. Aber wir sind doch gehalten, unseren Glauben an Christus als eine Kraft zu begreifen, die unsere Lebensverhältnisse, auch unsere persönlichen Lebensverhältnisse mitgestaltet und über Wohl und Wehe unseres gesellschaftlichen Daseins mit entscheidet.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. August 1986)

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