Sein Bestes geben und auf Nachsicht vertrauen
9. Sonntag nach Trinitatis
27. Juli 1986
Philipper 3,7-11
Die Gemeinde in Philippi in Griechenland war die erste europäische Gemeinde, die Paulus gegründet hatte. Paulus hatte zahlreiche Gemeinden gegründet. Er reiste von Ort zu Ort und erhielt die einmal angeknüpften Kontakte durch Briefe aufrecht.
Wenn wir einen Brief schreiben, gehen wir darin auf unseren Adressaten ein. Wir erkundigen uns nach seinem Befinden, nehmen Stellung zu dem, was wir von ihm gehört haben und sprechen vielleicht eine Ermutigung aus, wenn wir meinen, dass dies unserem Adressaten guttun könnte. Wir sagen vielleicht sogar ein kritisches Wort, wenn wir meinen, dass der andere es nötig hat und es vertragen kann. Und wir erzählen etwas über uns. Kurz: Ein Brief ist ein persönliches Schreiben, in dem sich die Wesensart, die Einstellungen und die Situation des Schreibers und des Angeschriebenen spiegeln. Aus diesen persönlichen Zusammenhängen heraus muss ein Brief zunächst einmal verstanden werden. Ein Brief ist keine theoretische Lehrschrift von allgemeingültigem Charakter.
Mit seinem Brief an die Philipper hat Paulus auf bestimmte Vorgänge in der Gemeinde von Philippi Bezug genommen. Es hat da Auseinandersetzungen unter den Christen gegeben, Streitereien, Unstimmigkeiten. Paulus warnt vor bestimmten Leuten. Er lässt sich dabei sogar zu drastischen Formulierungen hinreißen: „Nehmt euch in Acht vor den Hunden“, sagt er, „nehmt euch in Acht vor den böswilligen Arbeitern, nehmt euch in Acht vor der Zerschneidung.“
Wir können nicht mit letzter Präzision erkennen, was das für Leute waren, die Paulus da im Visier hatte. In unserem Predigtabschnitt behandelt er aber einen kritischen Punkt, der auf die Art seiner Gegner schließen läßt und der für Paulus einen besonderen Stein des Anstoßes darstellte. Indem Paulus diesen Punkt behandelt, bringt er seine eigene Biographie und seine ganze innere Einstellung mit ein.
Es geht um den Punkt der Gerechtigkeit, nicht der sozialen Gerechtigkeit, sondern vielmehr um Gerechtigkeit im Sinne der Frage: „Was muss ich tun, wie muss ich sein, damit ich als rechtschaffen gelten kann, dass mir keiner etwas vorwerfen kann, dass ich von mir sagen kann: Du bist in Ordnung. Dir kann keiner was!?“
Diese Frage hatte für Paulus ganz stark religiösen Charakter: „Was muss ich tun, wie muss ich leben, damit ich vor Gott bestehen kann?“ Das war die Frage, die Paulus bewegte und die die Menschen seines Volkes bewegte.
Die Verantwortung des eigenen Lebens vor Gott ist ein Thema, das auch Menschen unserer Zeit - bewusst oder unbewusst - bewegt. Wer sich nicht gern in religiösen Vorstellungen und Wendungen ausdrückt, wird vielleicht dennoch nicht leugnen, dass auch er das Bedürfnis in sich spürt, ein einwandfreies Leben zu führen, in allem gerechtfertigt zu sein, sein Leben verantworten zu können vor einer höheren Instanz, sei es vor der Gesellschaft oder vor der Moral oder vor den künftigen Generationen oder vor sich selbst, seinem Über-Ich oder wie auch immer man diese uns gegenüberstehende Instanz bezeichnen mag.
Das Judentum zur Zeit des Paulus hatte auf die Frage: „Wie können wir vor Gott bestehen?“, die bekannten dem Judentum eigentümliche Antwort gegeben: Es komme alles auf die Befolgung des jüdischen Gesetzes an, welches ja als göttliches Gesetz verstanden wurde. Für Paulus hat dies Thema in seiner eigenen Biographie eine zentrale Rolle gespielt. Er war von Hause aus Pharisäer gewesen, hatte also der jüdischen Gruppierung angehört, die auf die peinlich genaue Gesetzeserfüllung so besonders großen Wert legte. Er war ein überzeugter und engagierter Pharisäer gewesen, eben bis zu dem Punkt, dass er sich an der Verfolgung der christlichen Gemeinde beteiligt hatte, die es bekanntlich mit der Befolgung der jüdischen Vorschriften nicht so genau genommen hatte.
Für Paulus ist die jüdische Gesetzesgerechtigkeit dann aber zu einem großen Problem geworden. Vielleicht ist an diesem Punkt bei Paulus der innere Umschwung erfolgt. Wir lesen von der Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus, wo ihm in einer Vision Christus selbst erschien. Das Damaskuserlebnis teilt die Lebensgeschichte des Paulus in ein Vorher und Nachher.
Die Frage, die mit der Schilderung jenes Erlebnisses nicht beantwortet ist, die uns aber interessiert, ist diese: Welche Einsichten haben Paulus dazu bewogen, sich so radikal und entschieden dem Glauben an Christus zuzuwenden, also eine Wende um 180° zu vollziehen?
Wir dürfen mit Blick auf unseren Predigttext wohl davon ausgehen, dass ihm eben die jüdische Gesetzesfrömmigkeit, in der er aufgewachsen war und die er sich ganz zueigen gemacht hatte, schließlich doch fragwürdig geworden war. Diese Fragwürdigkeit muss ihm vor allem an Jesus Christus aufgegangen sein. Denn an der Person Jesus Christus ging Paulus eine ganz neue Antwort auf die Frage auf: „Wie kann ich vor Gott bestehen?“ Diese neue Antwort erlangte für Paulus eine solche Überzeugungskraft, dass er sich über seine ehemaligen Anschauungen in der abfälligsten Weise äußert. Das alles erachtet er für Dreck, was ihm zuvor heilig gewesen ist: Er sagt: „Was mir damals als Gewinn erschien, das erachte ich nun - durch Christus - als Schaden. Ich erachte das alles für Schaden gegenüber der überschwenglichen Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn.“
Worin diese Erkenntnis Jesu Christi besteht, bezeichnet er wie folgt näher: Sie besteht in der Einsicht, „dass meine Gerechtigkeit nicht aus dem Gesetz kommt, sondern allein aus dem Glauben an Christus, d. h. von Gott - ohne mein vorheriges Zutun.“ Mit anderen Worten: An Christus ist Paulus klar geworden, dass der Mensch vor Gott nicht dadurch Bestand hat, dass er sich vor dem Gesetz untadelig verhält. Vielmehr kann der Mensch vor Gott nur aufgrund der Gnade Gottes bestehen, wie sie durch Christus offenbar geworden ist. Vor denjenigen also warnt Paulus in seinem Brief, die die jüdische Gesetzesfrömmigkeit wieder einführen und sie auch für die Christen zur ersten und obersten und heiligsten Pflicht machen wollen.
Wir hier und heute sind zwar nicht mit dem jüdischen Gesetzesglauben vorbelastet, aber wie schon erwähnt, gibt es doch in allen von uns ein Gefühl der Verantwortung und das starke Bedürfnis, für rechtschaffen befunden zu werden. Es lässt sich niemand gern etwas vorwerfen. Dieser Drang nach Rechtschaffenheit kann gerade unter den Empfindsameren zu einer erheblichen Belastung werden. Denken wir einmal an die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, an den Hunger beispielsweise in Somalia, wo im Augenblick täglich 5000 Menschen an der Unterernährung sterben, oder denken wir an den Krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, wo selbst Krankenhäuser bombardiert und auf Frauen und Kinder geschossen wird, oder denken wir an die vielfältigen Gefährdungen unserer Umwelt.
Wer sich der menschlichen Schuld an diesen unseligen Zuständen bewußt geworden ist, und wer seine persönliche Mitverantwortung für die weitere Entwicklung erkannt hat, der wird die ungeheure Last empfinden, die ihm damit auferlegt ist. Das ist ein ungeheurer moralischer Druck. Von den großen Problemen geht ein Anspruch aus, nämlich an der Lösung der Probleme mitzuwirken. Dieser Anspruch bereitet ein schlechtes Gewissen, und damit müssen wir irgendwie zurechtkommen. Wie gehen wir mit diesem Anspruch um, dem Anspruch zu handeln?
Es gibt unter uns nicht wenige, die sich ansprechen und aufrütteln lassen und sagen: „Wir müssen etwas tun!“, und die sich dann auch tatsächlich in der einen oder anderen Weise engagieren. Das Engagement kann einen geradezu befreienden, erlösenden Charakter haben. Von mancher Seite wird das offen kritisiert. „Die helfen nur, um sich von ihrem schlechten Gewissen zu befreien“, heißt es, oder: „Die überweisen ihre zehn Mark auf das Spendenkonto nur, um sagen zu können: Ich habe meine Schuldigkeit getan.“
Wenn dieser Vorwurf zuträfe, gäbe es eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gesetzesfrömmigkeit, die Paulus kritisiert. Denn dann wäre die gute Tat mit der Vorstellung verbunden, wir könnten uns mit ihr von den an uns gerichteten Ansprüchen befreien. Dies ist aber, wie Paulus erkannt hat, nicht der Fall. Denn was immer wir auch tun, auch an Gutem und gut Gemeintem tun, wir bleiben immer weit hinter dem zurück, was eigentlich zu tun wäre. Wer - wie Paulus - ehrlich und illusionslos sich selbst betrachtet, wird schnell eingestehen müssen, dass das Handeln uns nicht entlastet, sondern uns im Gegenteil sogar durch Frust und Enttäuschung gänzlich zugrunde richten kann. Wir kennen doch alle die ärgerliche Erfahrung, dass, wenn wir ein Problem gelöst haben, wir mit unserer Lösung schon wieder ein neues Problem geschaffen haben. Wenn beispielsweise im Jugoslawienkonflikt zur Lösung der Probleme nun von außen militärisch eingegriffen wird, wird sich möglicherweise zeigen, dass damit wieder neue Probleme entstehen. Der Verstrickung in Schuld ist schwer zu entrinnen, auch nicht durch eine noch so gut gemeinte Tat.
Paulus will uns gewiss nicht dazu aufrufen, die Hände in den Schoß zu legen. Aber bevor wir uns an die Arbeit machen, sollen wir uns doch prüfen: Geht es uns um die Selbstentlastung? Rechnen wir mit dem Erfolg unseres Handelns? Oder bemühen wir uns um ein rechtschaffenes Handeln auch unabhängig davon, ob es uns entlastet oder nicht? Sind wir bereit, das mit dem Helfen verbundene Risiko bewusst auf uns zu nehmen - um der Menschen und der Sache willen?
Die Frage bleibt dann, wie wir ggf. mit dem Scheitern fertig werden. Paulus antwortet uns hierauf mit dem Angebot Jesu Christi. Er sagt: Wir können uns auch durch noch so gutes und rechtschaffenes Handeln nicht selbst entlasten. Aber wir dürfen darauf vertrauen, dass wir - auch in unserem Scheitern - entlastet werden durch die Vergebung Gottes, die uns durch Jesus Christus zuteil wird.
Auf seine zuvorkommende Vergebung, auf seine zuvorkommende Entlastung sind wir angewiesen. Sie steht uns als Angebot zur Verfügung.
Wenn ich mir also in Wahrhaftigkeit klar darüber geworden bin, dass mein Handeln stets überaus mangelhaft sein wird, wie kann ich dann Kraft und Mut zum Handeln haben? Antwort: Indem ich mich davon befreien lasse, in dem zweifelhaften Erfolg meines Handelns meine eigene Rechtschaffenheit zu suchen. Am Anfang muss die Vergebung stehen, wie sie in Christus verkörpert ist. Dann erst sind wir frei zu tun, was von uns gefordert ist, ohne unsere Kräfte zu überschätzen, ohne am Scheitern zu verzweifeln. Dann haben wir den langen Atem der Hoffnung.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. August 1986)