Die Rechtfertigungslehre aus viererlei Sicht
14. August 1994
11. Sonntag nach Trinitatis
Galater 2,16-21
In diesem etwas komplizierten Text geht es um ein zentrales Thema unseres christlichen Glaubens. Es geht um die sog. Rechtfertigungslehre. Was es damit auf sich hat, möchte ich – auch auf die Gefahr hin, etwas klischeehaft zu verfahren – an vier Personen deutlich zu machen versuchen. Bei den vier Personen handelt es sich um die Hausfrau X, um Martin Luther, um den Apostel Paulus und um den jungen Geschäftsmann Y.
Fangen wir mit der Hausfrau X an. Ich frage die Hausfrau X: Was bedeutet der Satz: „Vor Gott werde ich nicht gerecht durch Werke des Gesetzes, sondern nur durch den Glauben an Christus!“? Sie antwortet spontan: „Ich kann noch so viel Gutes tun, das nützt mir vor Gott gar nichts; ich muss glauben.“ Und mit Glauben meint sie: Glauben daran, dass z. B. Jesus über das Wasser gelaufen ist, dass er Wasser in Wein verwandelt hat, dass er einen Blinden mit Schlamm wieder sehend gemacht hat, dass er von einer Jungfrau geboren wurde, dass er Tote auferweckt hat u. ä. „Solche Sachen muss man glauben“, sagt sie, „das zählt. Das gefällt Gott. Gutes tun allein, reicht nicht.“
Was die Hausfrau X so bodenständig formuliert, ist nicht die Rechtfertigungslehre. Es geht nicht um den Gegensatz von Dogmatik und Ethik. Und es geht nicht um die Rangfolge: an erster Stelle der dogmatischer Glaube, an zweiter Stelle das Tun des Guten. Manche sehen das Höchste und Größte darin, Dinge einfach zu glauben, die sie gar nicht verstehen und die sie innerlich auch gar nicht nachvollziehen können. „Das muss man eben glauben!“, sagen sie. Dieses heroische „Den Verstand abschalten und glauben“, kann uns nicht gottwohlgefällig machen.
Wenn wir nach der Hausfrau X nun Martin Luther fragen könnten, was das wohl heißt: „Vor Gott werden wir nicht durch gute Werke, sondern allein durch den Glauben an Jesus Christus gerecht“, dann würde er uns vielleicht mit dem Hinweis auf seine persönlichen Probleme in jungen Jahren etwa wie folgt antworten: „Ich habe einen strengen Vater gehabt. Und so habe ich mir auch Gott vorgestellt. Ich habe mich unter Druck gesetzt gefühlt und gemeint, ich müsste ein tadelloses Leben führen, sonst würde ich nichts taugen. Deswegen wollte ich Mönch werden. Mir ist aber bald schmerzlich klar geworden, dass ich niemals vollkommen sein würde, auch wenn ich mich noch so sehr um einen frommen und einwandfreien Lebenswandel bemühen würde. Zunächst hat mich diese Einsicht fertiggemacht. Ich kam mir schlecht vor, hatte beständig ein schlechtes Gewissen und traute mich kaum noch, in die Kirche zu gehen oder ein Christusbild anzuschauen. Aber dann wurde mir beim Lesen des Neuen Testaments plötzlich klar: Gott ist gar nicht wie ein strenger, unerbittlich fordernder und strafender Vater. Ganz im Gegenteil: Er ist wie ein liebender Vater, voller Nachsicht und Vergebung. Er ist wie Christus, der Strafen, die wir verdient hätten, stellvertretend auf sich nimmt, damit wir frei sind. Vor Gott also haben wir Bestand nicht, weil wir so gut sind und so viel Gutes tun, sondern weil er uns gernhat und uns all unsere Unvollkommenheiten und das Ungute und Böse an uns verzeiht.“
So in etwa könnte Martin Luther antworten. Er hätte damit in der Tat die Rechtfertigungslehre dargestellt in einer Weise, wie sie für uns weiterhin bedeutsam ist. Das bleibt eine erlösende Einsicht, die Einsicht nämlich, dass wir vor Gott liebenswerte Kreaturen sind und bleiben trotz all unserer Mängel und Verfehlungen.
Wenden wir uns nun der dritten Gestalt zu, dem Apostel Paulus. In dessen Briefen hatte Martin Luther gelesen, und bei Paulus hatte Luther seine eben beschriebene erlösende Einsicht gewonnen. Aber Paulus hatte mit seiner Rechtfertigungslehre eigentlich noch etwas anderes gemeint.
Wenn wir Paulus fragen könnten, wie er das gemeint hatte, dass wir vor Gott nicht durch die Werke des Gesetzes, sondern nur durch den Glauben an Christus gerecht werden, was würde er uns darauf antworten?
Paulus würde vielleicht mehr sozial und gesellschaftlich oder kulturell, interkulturell argumentieren. Er könnte etwa so reden: „Was mich als Jude gestört hat, ist, dass meine jüdischen Freunde die Nichtjuden immer etwas abfällig betrachtet haben. Für uns spielen ja die Gebote eine große Rolle, die zehn Gebote und andere, und das“, so könnte Paulus sagen, „das war für uns Juden immer das Größte: die Gebote möglichst genau einzuhalten. Dann konnte man sich rechtschaffen und fromm nennen und mit dem Wohlgefallen Gottes rechnen. Die armseligen anderen Völker, die diese göttlichen Gebote gar nicht haben, die Heiden, die“, so Paulus, „waren aus unserer jüdischen Sicht bedauernswerte Sünder. Um Gott wohlgefällig leben zu können, hätten sie nach Meinung meiner jüdischen Freunde zur jüdischen Religionsgemeinschaft übertreten und das jüdische Gesetz annehmen müssen.“
Mit dieser Diskriminierung zwischen Juden und Nichtjuden hat Paulus sich nicht abgefunden. Das kann nicht sein, sagte er sich, dass die sog. Heiden vor Gott kein Wohlgefallen finden, dass sie erst das Wohlgefallen Gottes erlangen, wenn sie das jüdische Gesetz annehmen. Das Gesetz, so erkannte Paulus, macht uns ja gar nicht zu Menschen, die besser sind als andere. Das Gesetz ist für viele nur dazu da, übertreten zu werden. Viele benutzen es, anderen ihre Verfehlungen vorzuhalten, ohne sich selbst aber an die Gebote zu halten. Das Gesetz verführt zur Selbstgerechtigkeit, zur Heuchelei; und Paulus fand noch einige weitere Schattenseiten des Gesetzes heraus. Natürlich braucht man die Gebote, braucht man die Gesetze. Aber der Mensch wird durch sie nicht wirklich besser. Kein Mensch ist tadellos, und keiner kommt ohne Vergebung aus. Auf die Vergebung sind Juden wie Nichtjuden in gleicher Weise angewiesen. Und diese Vergebung wird allen Menschen, Juden wie Nichtjuden, in gleicher Weise zuteil in Jesus Christus.
Das ist es, was Paulus herausstreicht. Die Vergebung Gottes, wie sie in Christus sichtbar geworden ist, ist das Entscheidende, nicht das Gesetz. Paulus ging es also um die Beendigung einer kulturellen Diskriminierung.
Und auch dies ist ein wesentlicher und weiterhin bedeutsamer Bestandteil der Rechtfertigungslehre: Hinsichtlich der moralischen Qualität gibt es keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Menschen, zwischen Einzelnen, zwischen Volkgruppen oder Völkern. In jedem und in allen steckt das Böse, und jedermann ist auf Nachsicht und Vergebung angewiesen. Und diese wird allen Menschen gleich welcher Volkszugehörigkeit zuteil. Christus ist für alle Menschen gekommen.
Dies ist also durchaus ein anderer Ansatz als der von Luther. Beides zusammen macht die bleibende Bedeutung der Rechtfertigungslehre aus.
Und nun noch die vierte Person in unserer Reihe, der junge Geschäftsmann Y, der erfolglose Geschäftsmann Y, dessen Selbstbewusstsein unter seiner Erfolglosigkeit leidet und der ein offenes Ohr hat für alle Lehren, die Methoden der Selbsterlösung von den eigenen Schwächen anbieten, und sei es auch gegen einen hohen Preis.
Frage ich diesen Mann, was es bedeuten könnte, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes, sondern nur durch den Glauben an Christus vor Gott gerecht wird, dann würde er vielleicht sagen: „Das ist ein nutzloser Irrglaube. Man ist verloren, wenn man sich von jemand anderem abhängig macht. Man muss das Schicksal selbst in die Hand nehmen. Man muss die Gesetzmäßigkeiten des Daseins erkennen und die Spielregeln mitspielen, die zum Erfolg führen. Was aus einem wird, das hängt von einem selbst ab.“
Auch in dieser Negativäußerung wird etwas deutlich von dem, was die Rechtfertigungslehre aussagt. Zur Rechtfertigungslehre gehört die Einsicht, dass der Mensch – bei allem eigenen Bemühen - sein Schicksal letztlich eben nicht in der Hand hat, und dass es auch keine Methode, kein Gesetz, keine Spielregel gibt, es in die Hand zu bekommen. Da ist viel Unverfügbares, ja überwiegend Unverfügbares. Und darum ist das Vertrauen so lebenswichtig, das Vertrauen in den guten Grund und Sinn unseres Lebens. Zu eben diesem Vertrauen ermuntert uns Christus. An ihn glauben, heißt, daran glauben, dass bei allen Unwägbarkeiten unseres Daseins, bei allem Schönen und Schrecklichen, bei allen Höhen und Tiefen, den Größen und Niedrigkeiten unser Leben durchzogen ist von der Liebe Gottes. Ohne ein solches Vertrauen sind wir nicht lebensfähig. Ohne ein solches Vertrauen fehlt uns die Kraft der Hoffnung, fehlt uns die Kraft, Krisen zu durchstehen, Hindernisse zu überwinden, Schmerzen auszuhalten, nach Enttäuschungen noch einmal einen neuen guten Anfang zu wagen.
Vier Personen habe ich Ihnen vorstellt in dem Versuch, dem, was so abstrakt als Rechtfertigungslehre bezeichnet wird, Fleisch zu geben.
Die Rechtfertigungslehre ist von individueller, gesellschaftlicher und allgemein menschlicher Bedeutung. Sie stellt uns unsere menschlichen Begrenztheiten vor Augen, aber nicht um uns klein zu machen, sondern um uns aufzubauen. Das, was wir selbst mit unseren eigenen Kräften nicht vermögen, kann uns dennoch als Geschenk zuteil werden. Überhaupt ist dies das Erste, wovon wir leben: das, was wir als Geschenk empfangen. Das Leben selbst haben wir uns nicht selbst gegeben, sondern es ist uns zuteil geworden. Und das Größte, was uns im Leben geschehen kann, nämlich dass wir geliebt werden, ist ebenfalls nur als Geschenk zu erlangen.
Die liebevolle Zuwendung Gottes in Jesus Christus gilt allen Menschen aller Völker in gleicher Weise. Dieser Glaube kann uns eine persönliche Hilfe sein. Er ist zugleich ein gesellschaftlicher Auftrag.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. August 1994)