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11. Sonntag nach Trinitatis (11.8.24)


Die Rechtfertigungslehre aus viererlei Sicht

14. August 1994

11. Sonntag nach Trinitatis

Galater 2,16-21


In die­sem et­was kom­pli­zier­ten T­ext geht es um ein zen­tra­les The­ma un­se­res christ­li­chen Glau­bens. Es geht um die sog. Recht­fer­ti­gungs­leh­re. Was es da­mit auf sich hat, möch­te ich – auch auf die Gefahr hin, et­was kli­schee­haft zu ver­fah­ren – an vier Per­so­nen deut­lich zu ma­chen ver­su­chen. Bei den vier Per­so­nen han­delt es sich um die Haus­frau X, um Mart­in Lu­ther, um den Apo­stel Pau­lus und um den jun­gen Ge­schäfts­mann Y.

Fan­gen wir mit der Haus­frau X an. Ich fra­ge die Haus­frau X: Was be­deu­tet der Satz: „Vor Gott wer­de ich nicht ge­recht durch Wer­ke des Ge­set­zes, son­dern nur durch den Glau­ben an Chri­stus!“? Sie ant­wor­tet spon­tan: „Ich kann noch so viel Gu­tes tun, das nützt mir vor Gott gar nichts; ich muss glau­ben.“ Und mit Glau­ben meint sie: Glau­ben dar­an, dass z. B. Je­sus über das Was­ser ge­lau­fen ist, dass er Was­ser in Wein ver­wan­delt hat, dass er ei­nen Blin­den mit Schlamm wie­der se­hend ge­macht hat, dass er von ei­ner Jung­frau ge­bo­ren wur­de, dass er To­te auf­er­weckt hat u. ä. „Sol­che Sa­chen muss man glau­ben“, sagt sie, „das zählt. Das ge­fällt Gott. Gu­tes tun al­lein, reicht nicht.“

Was die Haus­frau X so bo­den­stän­dig for­mu­liert, ist nicht die Recht­fer­ti­gungs­leh­re. Es geht nicht um den Ge­gen­satz von Dog­ma­tik und Ethik. Und es geht nicht um die Rang­fol­ge: an er­ster Stel­le der dog­ma­ti­scher Glau­be, an zwei­ter Stel­le das Tun des Gu­ten. Man­che se­hen das Höch­ste und Größ­te dar­in, Din­ge ein­fach zu glau­ben, die sie gar nicht ver­ste­hen und die sie in­ner­lich auch gar nicht nach­voll­zie­hen kön­nen. „Das muss man eben glau­ben!“, sa­gen sie. Die­ses he­ro­i­sche „Den Ver­stand ab­schal­ten und glau­ben“, kann uns nicht gott­wohl­ge­fäl­lig ma­chen.

Wenn wir nach der Haus­frau X nun Mar­tin Lu­ther fra­gen könn­ten, was das wohl heißt: „Vor Gott wer­den wir nicht durch gu­te Wer­ke, son­dern al­lein durch den Glau­ben an Je­sus Chri­stus ge­recht“,  dann wür­de er uns viel­leicht mit dem Hin­weis auf sei­ne per­sön­li­chen Pro­ble­me in jun­gen Jah­ren et­wa wie folgt ant­wor­ten: „Ich ha­be ei­nen stren­gen Va­ter ge­habt. Und so ha­be ich mir auch Gott vor­ge­stellt. Ich ha­be mich un­ter Druck ge­setzt ge­fühlt und ge­meint, ich müss­te ein ta­del­lo­ses Le­ben füh­ren, sonst wür­de ich nichts tau­gen. Des­we­gen woll­te ich Mönch wer­den. Mir ist aber bald schmerz­lich klar ge­wor­den, dass ich nie­mals voll­kom­men sein wür­de, auch wenn ich mich noch so sehr um ei­nen from­men und ein­wand­freien Le­bens­wan­del be­mü­hen wür­de. Zu­nächst hat mich die­se Ein­sicht fer­tigge­macht. Ich kam mir schlecht vor, hat­te be­stän­dig ein schlech­tes Ge­wis­sen und trau­te mich kaum noch, in die Kir­che zu ge­hen oder ein Chri­stus­bild an­zu­schau­en. Aber dann wur­de mir beim Le­sen des Neu­en Te­sta­ments plötz­lich klar: Gott ist gar nicht wie ein stren­ger, un­er­bitt­li­ch for­dern­der und stra­fen­der Va­ter. Ganz im Ge­gen­teil: Er ist wie ein lie­ben­der Va­ter, vol­ler Nach­sicht und Ver­ge­bung. Er ist wie Chri­stus, der Stra­fen, die wir ver­dient hät­ten, stell­ver­tre­tend auf sich nimmt, da­mit wir frei sind. Vor Gott al­so ha­ben wir Be­stand nicht, weil wir so gut sind und so viel Gu­tes tun, son­dern weil er uns gernhat und uns all un­se­re Un­voll­kom­men­hei­ten und das Un­gu­te und Bö­se an uns ver­zeiht.“

So in et­wa könn­te Mar­tin Lu­ther ant­wor­ten. Er hät­te da­mit in der Tat die Recht­fer­ti­gungs­leh­re dar­gestellt in ei­ner Wei­se, wie sie für uns wei­ter­hin be­deut­sam ist. Das bleibt ei­ne er­lö­sen­de Ein­sicht, die Ein­sicht näm­lich, dass wir vor Gott lie­bens­wer­te Kre­a­tu­ren sind und blei­ben trotz all un­se­rer Män­gel und Ver­feh­lun­gen.

Wen­den wir uns nun der drit­ten Ge­stalt zu, dem Apo­stel Pau­lus. In des­sen Brie­fen hat­te Mar­tin Lu­ther ge­le­sen, und bei Pau­lus hat­te Lu­ther sei­ne eben be­schrie­be­ne er­lö­sen­de Ein­sicht ge­won­nen. Aber Pau­lus hat­te mit sei­ner Recht­fer­ti­gungs­leh­re ei­gent­lich noch et­was an­de­res ge­meint.

Wenn wir Pau­lus fra­gen könn­ten, wie er das ge­meint hat­te, dass wir vor Gott nicht durch die Wer­ke des Ge­set­zes, son­dern nur durch den Glau­ben an Chri­stus ge­recht wer­den, was wür­de er uns dar­auf ant­wor­ten?

Pau­lus wür­de viel­leicht mehr so­zi­al und ge­sell­schaft­lich oder kul­tu­rell, in­ter­kul­tu­rell ar­gu­men­tie­ren. Er könn­te et­wa so re­den: „Was mich als Ju­de ge­stört hat, ist, dass mei­ne jü­di­schen Freun­de die Nicht­ju­den im­mer et­was ab­fäl­lig be­trach­tet ha­ben. Für uns spie­len ja die Ge­bo­te ei­ne gro­ße Rol­le, die zehn Ge­bo­te und an­de­re, und das“, so könn­te Pau­lus sa­gen, „das war für uns Ju­den im­mer das Größ­te: die Ge­bo­te mög­lichst ge­nau ein­zu­hal­ten. Dann konn­te man sich recht­schaf­fen und fromm nen­nen und mit dem Wohl­ge­fal­len Got­tes rech­nen. Die arm­se­li­gen an­de­ren Völ­ker, die die­se gött­li­chen Ge­bo­te gar nicht ha­ben, die Hei­den, die“, so Pau­lus, „wa­ren aus un­se­rer jü­di­schen Sicht be­dau­erns­wer­te Sün­der. Um Gott wohl­ge­fäl­lig le­ben zu kön­nen, hät­ten sie nach Mei­nung mei­ner jü­di­schen Freun­de zur jü­di­schen Re­li­gions­ge­mein­schaft über­tre­ten und das jü­di­sche Ge­setz an­neh­men müs­sen.“

Mit die­ser Dis­kri­mi­nie­rung zwi­schen Ju­den und Nicht­ju­den hat Pau­lus sich nicht ab­ge­fun­den. Das kann nicht sein, sag­te er sich, dass die sog. Hei­den vor Gott kein Wohl­ge­fal­len fin­den, dass sie erst das Wohl­ge­fal­len Got­tes er­lan­gen, wenn sie das jü­di­sche Ge­setz an­neh­men. Das Ge­setz, so er­kann­te Pau­lus, macht uns ja gar nicht zu Men­schen, die bes­ser sind als an­de­re. Das Ge­setz ist für vie­le nur da­zu da, über­tre­ten zu wer­den. Vie­le be­nut­zen es, an­de­ren ih­re Ver­feh­lun­gen vor­zu­hal­ten, oh­ne sich selbst aber an die Ge­bo­te zu hal­ten. Das Ge­setz ver­führt zur Selbst­ge­rech­tig­keit, zur Heu­che­lei; und Pau­lus fand noch ei­ni­ge wei­te­re Schat­ten­sei­ten des Ge­set­zes her­aus. Na­tür­lich braucht man die Ge­bo­te, braucht man die Ge­set­ze. Aber der Mensch wird durch sie nicht wirk­lich bes­ser. Kein Mensch ist ta­del­los, und kei­ner kommt oh­ne Ver­ge­bung aus. Auf die Ver­ge­bung sind Ju­den wie Nicht­ju­den in gleich­er Wei­se an­ge­wie­sen. Und die­se Ver­ge­bung wird al­len Men­schen, Ju­den wie Nicht­ju­den, in gleich­er Wei­se zu­teil in Je­sus Chri­stus.

Das ist es, was Pau­lus her­aus­streicht. Die Ver­ge­bung Got­tes, wie sie in Chri­stus sicht­bar ge­wor­den ist, ist das Ent­schei­den­de, nicht das Ge­setz. Pau­lus ging es al­so um die Be­en­di­gung ei­ner kul­tu­rel­len Dis­kri­mi­nie­rung.

Und auch dies ist ein we­sent­li­cher und wei­ter­hin be­deut­sa­mer Be­stand­teil der Recht­fer­ti­gungs­leh­re: Hins­icht­lich der mo­ra­li­schen Qua­li­tät gibt es kei­ne grund­sätz­li­chen Un­ter­schie­de zwi­schen Men­schen, zwi­schen Ein­zel­nen, zwi­schen Volk­grup­pen oder Völ­kern. In je­dem und in al­len steckt das Bö­se, und je­der­mann ist auf Nach­sicht und Ver­ge­bung an­ge­wie­sen. Und die­se wird al­len Men­schen gleich wel­cher Volks­zu­ge­hö­rig­keit zu­teil. Chri­stus ist für al­le Men­schen ge­kom­men.

Dies ist al­so durch­aus ein an­de­rer An­satz als der von Lu­ther. Bei­des zu­sam­men macht die blei­ben­de Be­deu­tung der Recht­fer­ti­gungs­leh­re aus.

Und nun noch die vier­te Per­son in un­se­rer Rei­he, der jun­ge Ge­schäfts­mann Y, der er­folg­lo­se Ge­schäfts­mann Y, des­sen Selbst­be­wusst­sein un­ter sei­ner Er­folg­lo­sig­keit lei­det und der ein of­fe­nes Ohr hat für al­le Leh­ren, die Me­tho­den der Selbst­er­lö­sung von den ei­ge­nen Schwä­chen an­bie­ten, und sei es auch ge­gen ei­nen ho­hen Preis.

Fra­ge ich die­sen Mann, was es be­deu­ten könn­te, dass der Mensch nicht durch Wer­ke des Ge­set­zes, son­dern nur durch den Glau­ben an Chri­stus vor Gott ge­recht wird, dann wür­de er viel­leicht sa­gen: „Das ist ein nutz­lo­ser Irr­glau­be. Man ist ver­lo­ren, wenn man sich von je­mand an­de­rem ab­hän­gig macht. Man muss das Schick­sal selbst in die Hand neh­men. Man muss die Ge­setz­mä­ßig­kei­ten des Da­seins er­ken­nen und die Spiel­re­geln mit­spie­len, die zum Er­folg füh­ren. Was aus ei­nem wird, das hängt von ei­nem selbst ab.“

Auch in die­ser Ne­ga­ti­väu­ße­rung wird et­was deut­lich von dem, was die Recht­fer­ti­gungs­leh­re aus­sagt. Zur Recht­fer­ti­gungs­leh­re ge­hört die Ein­sicht, dass der Mensch – bei al­lem ei­ge­nen Be­mü­hen - sein Schick­sal letzt­lich e­ben nicht in der Hand hat, und dass es auch kei­ne Me­tho­de, kein Ge­setz, kei­ne Spiel­re­gel gibt, es in die Hand zu be­kom­men. Da ist viel Un­ver­füg­ba­res, ja über­wie­gend Un­ver­füg­ba­res. Und da­rum ist das Ver­trau­en so le­bens­wich­tig, das Ver­trau­en in den gu­ten Grund und Sinn un­se­res Le­bens. Zu eben die­sem Ver­trau­en er­mun­tert uns Chri­stus. An ihn glau­ben, heißt, dar­an glau­ben, dass bei al­len Un­wäg­bar­kei­ten un­se­res Da­seins, bei al­lem Schö­nen und Schreck­li­chen, bei al­len Hö­hen und Tie­fen, den Grö­ßen und Nie­drig­kei­ten un­ser Le­ben durch­zo­gen ist von der Lie­be Got­tes. Oh­ne ein sol­ches Ver­trau­en sind wir nicht le­bens­fä­hig. Oh­ne ein sol­ches Ver­trau­en fehlt uns die Kraft der Hoff­nung, fehlt uns die Kraft, Kri­sen zu durch­ste­hen, Hin­der­nis­se zu über­win­den, Schmer­zen aus­zu­hal­ten, nach Ent­täu­schun­gen noch ein­mal ei­nen neu­en gu­ten An­fang zu wa­gen.

Vier Per­so­nen ha­be ich Ih­nen vor­stellt in dem Ver­such, dem, was so ab­strakt als Recht­fer­ti­gungs­leh­re be­zeich­net wird, Fleisch zu ge­ben.

Die  Recht­fer­ti­gungs­leh­re ist von in­di­vi­duel­ler, ge­sell­schaft­li­cher und all­ge­mein mensch­li­cher Be­deu­tung. Sie stellt uns un­se­re mensch­li­chen Be­grenzt­hei­ten vor Au­gen, aber nicht um uns klein zu ma­chen, son­dern um uns auf­zu­bau­en. Das, was wir selbst mit un­se­ren ei­ge­nen Kräf­ten nicht ver­mö­gen, kann uns den­noch als Ge­schenk zu­teil wer­den. Über­haupt ist dies das Er­ste, wo­von wir le­ben: das, was wir als Ge­schenk emp­fan­gen. Das Le­ben selbst ha­ben wir uns nicht selbst ge­ge­ben, son­dern es ist uns zu­teil ge­wor­den. Und das Größ­te, was uns im Le­ben ge­sche­hen kann, näm­lich dass wir ge­liebt wer­den, ist eben­falls nur als Ge­schenk zu er­lan­gen.

Die lie­be­vol­le Zu­wen­dung Got­tes in Je­sus Chri­stus gilt al­len Men­schen al­ler Völ­ker in gleich­er Wei­se. Die­ser Glau­be kann uns ei­ne per­sön­li­che Hil­fe sein. Er ist zu­gleich ein ge­sell­schaft­li­cher Auf­trag.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. August 1994)

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