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Reformationstag (31.10.21)


Kirchentür zwischen vita und scriptura

31. Oktober 2003

Reformationstag


Epheser 5,1


Begrüßung: Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Er nutzte die Kirchentür als einen Ort der Kommunikation. Er wollte etwas mitteilen und zur Diskussion anregen. Das Thema, um das es ihm ging, hatte etwas mit dem zu tun, was sich an Weltlichem vor der Kirchentür abgespielt hatte, und was an Theologischem hinter der Kirchentür von der Kanzel nach Auffassung Luthers zu verkündigen war. Die Kirchentür als Ort der Grenze, einer durchlässigen Grenze zwischen Himmlischem und Weltlichem.

Was sich damals draußen vor der Tür abgespielt und das Missfallen Luthers erregt hatte, war ziemlich weltlicher Natur, wenn es auch im Gewande des Kirchlichen und Göttlichen daherkam. Es war der Ablass. Wer gesündigt hatte, konnte sich von der Sündenstrafe freikaufen. Das Geld sollte dem Bau des Petersdoms in Rom zugutekommen.

Was von drinnen her, aus der Tiefe der biblischen Botschaft zu sagen war, das hat Luther mit den Worten des Apostels Paulus auf den Punkt gebracht, indem er betonte: Die Vergebung Gottes kann nicht erkauft werden. Die Gnade Gottes ist ein Geschenk.

Die Kirchentür also der Ort der Kommunikation zwischen innen und außen. Luther nagelte dort seine Gedanken an, in 95 Thesen entfaltet, in lateinischer Sprache, um mit den Gelehrten und den Kirchenoberen in einen Disput einzutreten.

Und an dieser Stelle nun die Frage: Neue Kirchentür – neue Thesen? Fragezeichen. Kann unsere gestern eingeweihte neue Kirchentür für uns am heutigen Reformationstag vielleicht ein Anlass sein zu fragen, was denn heute an dieser Schnittstelle zwischen Kirche und Welt, zwischen Himmlischem und Weltlichem zu sagen wäre – in einigen Thesen zusammengefasst?

Predigt: Neue Tür – neue Thesen? Fragezeichen. Was haben wir heute – thesenartig – an der Schnittstelle zwischen innen und außen, an der Schnittstelle zwischen Kirche und Welt zu sagen?

Wenn ein fragender, suchender Mensch auf unsere Kirchentür zutreten und dort einen thesenartigen Aushang sehen würde, was würde er dort zu lesen hoffen? Und umgekehrt: Welche Sätze sollten wir einem interessierten Betrachter an der Kirchentür zu lesen geben, wir als diejenigen, die zur Wahrung und Auslegung und Weitergabe der biblischen Botschaft beauftragt sind? Ich versuche jetzt einmal, ein paar Gedanken aus dieser zweiten Perspektive zu formulieren, wie es meinem Beruf und meiner jetzigen Aufgabe entspricht.

1. Die Sätze, das sage ich als Erstes, müssten in deutscher Sprache abgefasst sein, und zwar so, dass sie verstanden werden können. Was heute kirchlich zu sagen ist, darf sich nicht nur an die gelehrte Öffentlichkeit richten. Jeder muss angesprochen werden und in das Gespräch einbezogen werden. Wir sind im Gegensatz zu damals heute alle mündige Christen.

Dafür hatte Luther selbst gesorgt – mit seiner Bibelübersetzung, mit seiner Organisierung des Bildungswesens, mit seinem Katechismus, damit jeder in die Lage versetzt würde, den biblischen Text selbst zu lesen und sich anhand dessen eigene Gedanken zu machen, statt auf die Auslegungen der Geistlichkeit, der höheren Geistlichkeit und der höchsten Geistlichkeit angewiesen zu sein. Die damals beginnende Buchdruckerkunst hatte das Ihre dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen wirklich Zugang zum biblischen Text bekamen und auch die Gedanken verschiedener Ausleger lesen konnten.

Heute sind die Bildungs- und Informationsmöglichkeiten durch damals überhaupt nicht vorstellbare Medien geradezu fast grenzenlos. Sie haben den Einzelnen in einen selbstständigen mündigen Menschen verwandelt, der dadurch nun auch als voll verantwortliches Wesen anzusprechen ist.

Hinzu kommt die seitdem veränderte politische Struktur: Auch von Staats wegen – durch die demokratische Verfassung – ist der Mensch zur Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft berufen.

Und darum ist dies an erster Stelle zu sagen: Was wir aus dem Kircheninneren heraus, aus der biblischen Botschaft heraus, weiterzugeben haben, das haben wir nicht einem kleinen Zirkel von Gebildeten, von Wohlhabenden und von Mächtigen zu sagen, sondern jedermann. „Liebe Christinnen und Christen!“, so könnte heute die Anrede lauten.

Als mündiger Christ müsste sich heute jedermann ansprechen lassen. Wir könnten es heute nicht gelten lassen, dass einer auf „die da oben“ verweist, wenn er sich beklagen möchte. Jeder müsste sich heute zunächst einmal selbst prüfen, ob er seine Informationsmöglichkeiten genutzt hat, ob er seine politischen und gesellschaftlichen Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, ob er die vielleicht erforderliche Zivilcourage aufgebracht hat und ob er seine eigenen materiellen Möglichkeiten eingesetzt hat, um die Mängel zu beheben, die er beklagt.

Die Kirche, das sind wir alle. Das gibt uns eine große Würde. Das bedeutet aber auch eine große Mitverantwortung für jeden von uns.

Das wäre also das Erste, was zu sagen wäre: Wir sind mündige Christen.

2. Zum Zweiten bleibt dennoch die Aufgabe der Kirche, das, was sie zu sagen hat, so verständlich zu sagen, wie es irgend geht, und in bestmöglicher Weise die Hilfestellungen zum Verständnis zu geben, die ihr zur Verfügung stehen.

Was die Kirche zu sagen hat, was sie zu verkündigen hat, muss nicht nur in deutscher Sprache, sondern auch in verständlicher deutscher Sprache abgefasst sein.

Die Ausdrucksweise der Theologen und Kirchenvertreter ist über Jahrhunderte hinweg eine so schwierige, umständliche Sprache gewesen – und ist es teilweise noch, dass die Aussagen auch für den gutwilligen Zuhörer und Leser letztlich doch immer wieder unverständlich geblieben sind. Das lag und liegt nicht nur an den manchmal nicht einfachen theologischen Inhalten. Manche Predigt war so abgefasst, dass sie letztlich doch nur von einem Fachpublikum, von ausgebildeten Theologen verstanden werden konnte. Die umständliche theologische Ausdrucksweise wird etwas ironisch als „Sprache Kanaans“ bezeichnet. Das ist inzwischen viel besser geworden. Aber da ist noch Handlungsbedarf.

3. Dieses Kommunikationsproblem – das sage ich als Drittes – hat nicht zuletzt auch mit Luthers wohlgemeinter und in der damaligen Situation sinnvollen Formel zu tun: „Sola scriptura“, allein die Schrift, allein die biblische Schrift. Mit dieser Formel wollte er klarmachen, dass die Worte des Papstes nicht das Wort Gottes sind, dass nicht seine Worte die höchste Autorität haben, sondern allein der Bibeltext.

Durch diese Formel „sola scriptura, allein die Schrift“ haben sich Theologen, haben sich Prediger vielfach dazu verleiten lassen, sich in ihrer Auslegung so sehr in den Bibeltext zu vertiefen, dass sie sich darin gelegentlich auch verlaufen haben und der Zuhörer ihnen nicht mehr folgen konnte.

Darum ist als Drittes die Formel Luthers zu ergänzen, und das entspräche wohl auch dem Anliegen Luthers: Statt „sola scriptura“ – „Allein die Schrift“, sollte es heißen „vita et scriptura“ – „Das Leben und die Schrift“. Denn jede biblische Auslegung sollte vom Leben des Menschen herkommen und sollte Antworten anbieten auf die Fragen und Probleme des Menschen.

Die Bibelauslegung in der Predigt darf kein Selbstzweck sein und darf nicht zu einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung werden. Der Mensch, der erwartungsvoll vor die Kirchentür tritt und sich überlegt, ob er vielleicht eintreten sollte, kommt mit den Fragen seines Alltags, mit dem, was sein Herz bewegt, mit dem, was er in der Zeitung gelesen, in den Nachrichten gehört und im Fernsehen gesehen hat und was er gerade in seiner Familie erlebt hat, in der Schule und am Arbeitsplatz, im Geschäft und auf der Straße. Er kommt auch mit dem, was er vielleicht gerade mit sich selbst durchmacht, mit seinen eigenen Gefühlen, seinen Glücksgefühlen und Depressionen, seinen Fragen und Zweifeln, seinen Schwächen, seinen Fehlern – er tritt mit seinem ganzen Leben vor die Kirchentür – und dann vielleicht durch die Kirchentür hinein ins Innere. Und da möchte er etwas hören, was seinem Leben dient. Da haben wir anzusetzen, bei seiner „vita“, seinem Leben. Und dann können wir ihm etwas geben aus der „scriptura“, aus der Heiligen Schrift, denn darin sind Worte für das Leben enthalten, Worte des Lebens, eines Lebens, wie es vom Schöpfer zu unserem Wohl gemeint ist. Also „vita et scriptura“ – „Das Leben und die Schrift“.

4. Unser Leben – das wäre als Viertes zu unterstreichen – ist voller unabweisbarer existentieller Fragen und Probleme. Diese sind ein bleibender Grund für die Notwendigkeit von Kirche.

Unsere existentielle Situation besteht darin, dass wir ungefragt in diese Welt hineingesetzt worden sind, dass wir über die Grenzen von Geburt und Tod nicht hinauszuschauen vermögen, dass das Leben ein unergründliches Geheimnis ist und bleibt, dass es voller manchmal schwer erträglicher Ungereimtheiten ist und mit Beschwernissen und Leid verbunden ist, dass es im Leben aber ebenso unendlich viele unerklärliche Schönheiten und Großartigkeiten gibt. Zur existentiellen Situation unseres Daseins gehört, dass das Leben für uns – bei allem eigenen Tun – letztlich unverfügbar bleibt und dass wir auch uns selbst als Menschen mit unseren Wesensarten, unseren Wünschen und Bedürfnissen nicht in den Griff bekommen, dass der Mensch also nicht Gott selbst ist, sondern Geschöpf ist mit unüberschreitbaren Begrenzungen und wir von daher Grund zur Bescheidenheit und Demut haben. Wir müssen eingestehen, dass wir nicht alles können und vermögen. Das ist aber zugleich Grund zum Vertrauen und zur Hoffnung. Denn wir dürfen bekennen, dass nicht alles von uns selbst abhängt.

Das also war das Vierte: Unsere existentielle Angewiesenheit. Sie treibt uns – früher oder später – geradezu auf die Kirchentür zu.

5. Und wenn der fragende und suchende Mensch da hindurchschreitet, dann – und das wäre als Fünftes deutlich zu machen, dann kann er fündig werden. Er kann fündig werden in den biblischen Texten. Denn die biblischen Texte enthalten einen Schatz. Sie enthalten Worte des Lebens, Worte, die wertvoller sind als Gold und Silber, Worte, die gut sind für den Leib und die Seele, die Kraft geben, die uns sinnvolle Aufgaben geben und uns lohnende Ziele vor Augen stellen und uns einen guten Weg weisen.

6. Als Sechstes könnten wir an der Kirchentür einige dieser wunderbaren Worte aushängen. Es könnten grundlegende Aussagen über das Gottes- und Menschenbild sein, über Aufgaben und Ziele und Wege, wie sie dem Wort und Willen Gottes entsprechen. Sätze wie: „Gott ist die Liebe.“ Oder: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.“ Oder hinsichtlich der Friedensproblematik Sätze wie diesen: „Vergeltet das Böse nicht mit Bösem, sondern mit Gutem!“ Oder hinsichtlich des zwischenmenschlichen Umgangs allgemein: „Behandle den anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest!“ Oder hinsichtlich von Not und Elend bei uns und in weiten Teilen der Welt das Wort Jesu: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“

Also, wir hätten schon Bedeutsames und Hilfreiches und Heilsames an die Tür zu hängen, was in der heutigen Zeit unter uns allen zu diskutieren und im Zusammenhang mit der biblischen Botschaft zu bedenken wäre.

Unsere neue Kirchentür verbindet in ihrer Gestalt das Heutige mit einer Wertschätzung des Überkommenen. Sie hat damit etwas Zukunftsweisendes.

Wir könnten neue Thesen an die Kirchentür hängen. Noch besser wird es aber wohl sein, wenn wir die Kirchentür weit öffnen und einladen einzutreten, damit Kirche und Welt sich begegnen und wir als Menschen unter dem Wort Gottes zusammenkommen. Das wird uns allen guttun und Gott die Ehre geben.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. Oktober 2003) 

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