Brief aus Fleisch und Blut
20. Oktober 1996
20. Sonntag nach Trinitatis
2. Korinther 3,3-9
Kürzlich lag ich am Strand und beobachtete eine junge Frau, sie hatte gerade ihr Kind gestillt. Nachdem das Kleine sein Bäuerchen gemacht hatte, setzte sie sich bequem auf ihren Liegestuhl, die Rückenlehne hoch, die Beine angezogen und gegen die Oberschenkel gelegt vis-a-vis ihr kleines Kind. Die Sonne schien. Das kretische Meer rauschte, im Hintergrund die Berge, und vor sich hatte die Mutter ihr Kind. Mit ihrem rechten Zeigefinger streichelte sie eines der kleinen Füße. Sie sah dabei ihr Kind an, sie sah es an und wollte nicht aufhören, es zu betrachten.
Es war, als würde sie in diesem Kind lesen, als hätte ihr jedes der kleinen Körperteile etwas zu sagen, die kleinen weichen Haare, die winzigen Ohren, die Augen mit ihrer noch unbestimmten Farbe, die stupsige Nase, die Fettpölsterchen an den Armen und den Beinen, die kleinen Hände mit den gekrümmten Fingern, die Füße mit den winzigen Zehen. Die Mutter betrachtete jedes Teilchen mit Ruhe und Ausdauer, als wären es Buchstaben, die zu entziffern wären, als hätte sie mit diesem Kind eine Botschaft vor sich, einen Brief in Fleisch und Blut. Wer diese Frau beobachtete, konnte sehen, dass es eine frohe Botschaft sein musste. Denn auf dem Gesicht der Frau lag ein Frieden, die Ruhe eines vollkommenen Glücks. Es war, als empfände sie dieses kleine irdische Wesen wie einen Gruß aus einer anderen Welt.
Es ergab sich so, dass ich diese Frau mehrfach am Strand beobachten konnte. Sie hatte noch drei weitere kleine Kinder. Und wenn ihr Mann auch ganz offensichtlich ein sehr liebevoller und hilfsbereiter Vater war, so konnte man doch sehen, dass es im Laufe des Tages immer wieder stressige Phasen gab mit Streit unter den Kindern, mit Problemen der Sicherheit am Wasser und den ganz normalen Erschwernissen eines Daseins am sandigen Strand. Die Aufmerksamkeit und die Geduld der Frau und ihre Bereitschaft, alles irgendwie zum Guten zu regeln, waren voll gefordert. Das Zuschauen allein war schon anstrengend. Aber die Mutter dieser Kinder schien von einer enormen Kraft erfüllt zu sein.
Ich sah sie dann noch einmal, wie sie in einem ruhigen Moment ihr Kleinstes wieder vor sich hatte gegen die Oberschenkel gelehnt, wie sie es wieder betrachtete, wie sie wieder in dem Kind las. Und ich meinte zu erkennen, dass die Kraft, die die Mutter für die vielen Anforderungen des Tages aufbrachte, von dem Kind ausging. Es war wohl, so vermute ich, die Dankbarkeit für dieses Kind, das dankbare Staunen über dieses kleine Wunderwerk der Schöpfung, das der Frau so viel Kraft gab und sie wie selbstverständlich die mit dem Kind und den Kindern verbundenen Aufgaben wahrnehmen ließ.
Ich habe Ihnen diese kleine Strandbeobachtung jetzt etwas ausführlich erzählt, weil mich der Apostel Paulus durch ein schönes Bild in unserem heutigen Predigtabschnitt an diese Strandszene erinnert hat. Er sagt in seinem 2. Brief an die Korinther, aus dem ich vorhin vorgelesen habe, zu den Gemeindegliedern in der griechischen Hafenstadt Korinth: „Ihr seid ein Brief Christi.“
Ihr seid ein Brief Christi - diese Worte müssen wir uns einmal auf der Zunge zergehen lassen. Und dann müssen wir uns einmal vorzustellen versuchen, was mit diesen bildhaften Worten ausgesagt ist: Ihr seid ein Brief Christi. Das heißt doch: Wer euch betrachtet, wer euch beobachtet, der nimmt etwas wahr, was über euch hinausweist. Ihr seid mit Eurer Erscheinung, mit Eurem Auftreten, mit eurem Handeln, eurem Reden, mit eurem ganzen Dasein eine Botschaft. Wer euch beobachtet, bekommt etwas mitgeteilt von einem Dritten wie in einem Brief, allerdings nicht in Schriftform, sondern in der Form konkreter, leibhaftiger, menschlicher Begegnung.
Wir haben bei dem Kind und der Mutter gesehen, wie das gemeint sein kann. Ihr Kind hatte ihr etwas zu sagen, hatte ihr viel zu sagen, auch wenn es noch gar nicht reden konnte. Als sie ihr Kind beobachtet hat, hat sie in ihrem Kind gelesen wie in einem Brief, wie in einem langen Brief. Sie hat gelesen vom Wunder der Schöpfung, vom Geheimnis des Lebens, von Schenken und Beschenkt-werden, von Hingabe und Liebe, von Zartheit und Zerbrechlichkeit, von Hilfsbedürftigkeit und Gefährdung, von Verantwortung, von Hoffnung und Mut, von Vertrauen und von Kraft. Natürlich konnte sie in ihrem Kind nur lesen, weil ihr Herz für die Botschaft des Kindes offen war und sie den Schlüssel des Verstehens in sich trug. Die Liebe zu ihrem Kind war der Dechiffriercode, der sie dazu befähigte, die äußere Erscheinung ihres Kindes wie eine Botschaft zu lesen.
Wie jenes Kind für die Mutter, so sollen auch die Jünger sich als leibhaftige Botschaften verstehen, als Botschaften Jesu Christi, die gelesen werden können wie ein Brief Christi, aber nicht Schwarz auf Weiß, sondern als Botschaft in Menschengestalt. Auch diese Botschaft kann freilich nur derjenige lesen und verstehen, der die innere Bereitschaft dazu besitzt.
Was Paulus über die Gemeindeglieder in Korinth sagt, das gilt übrigens von Jesus Christus selbst ebenso und zu allererst. Der Evangelist Johannes hat das auf die kurze Formel gebracht: „Das Wort ward Fleisch“ - oder anders gesagt. Das Wort wurde Mensch. Damit wollte er sagen: Wer und was und wie Gott ist, und was Gott von uns will, das können wir an Jesus von Nazareth ablesen und durch diesen Menschen leibhaftig erfahren. Jesus Christus ist mit seiner ganzen Person wie ein Empfehlungsschreiben Gottes.
Nach dem Erdenleben Jesu kann diese leibhaftige Erfahrung weiterhin in denjenigen gemacht werden, die vom Geist Jesu Christi erfüllt sind. Als solche sollen sich nach Paulus die Gemeindeglieder in Korinth verstehen dürfen. Er, Paulus, hatte ihnen durch seine Missionstätigkeit den Geist Christi vermittelt. Nun waren sie wie ein Empfehlungsschreiben Jesu. Wer etwas über Gott erfahren wollte, wer wissen wollte, wie und wer und was Gott ist, und was Gott von uns will, der sollte dies an den Gemeindegliedern in Korinth ablesen können.
Paulus macht da gewagte Aussagen. Aber es ist gut, dass er dieses Wagnis eingegangen ist. Die schwierige Frage, die hinter seinen Aussagen steht, ist die: Wie können wir etwas über Gott erfahren? Wo ist die Quelle der Erkenntnis? Die Antwort auf diese Frage kann sehr unterschiedlich ausfallen - und sie ist immer sehr unterschiedlich ausgefallen, auch schon zu biblischer Zeit. Martin Luther hat den Blick der nach Gott fragenden Menschen auf die Bibel lenken wollen als der ausschließlichen verbindlichen Quelle. „Sola scriptura“ sagte er, „allein die Schrift“. Das war eine kämpferische Aussage, die aus seiner Auseinandersetzung mit der damaligen Kirche zu verstehen ist, die aber, wie ich meine, den Blick unglücklich verengt hat.
Die Menschen zur Zeit des Paulus hatten noch gar nicht die Bibel in unserem Sinne. Das Neue Testament war noch nicht geschrieben. Sie hatten nur die Schriften des Alten Testaments mit Mose und den Geboten. Und da sagt Paulus: Wer den Blick der nach Gott Fragenden exklusiv auf diese Schriften lenken will, der verengt den Blick. Was Mose als den Willen Gottes auf steinernen Tafeln präsentiert hat, das ist nicht alles. Nicht nur auf steinerne Tafeln hat Gott geschrieben, sondern auch auf fleischerne Tafeln. Wer etwas von Gott wissen will, darf nicht nur in den Geboten lesen - und ich füge nun hinzu: Der darf nicht nur in diesem Buch, in der Bibel, lesen, der muss auch in den Menschen lesen. Paulus hat das - etwas überspitzt - so formuliert: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Der Geist Gottes weht, wo er will. Er begegnet uns natürlich auch aus den Buchstaben der Bibel, auch aus den geschriebenen Geboten. Aber eben nicht nur da, er begegnet uns in lebendigen Menschen ebenso und in seiner ganzen lebendigen Schöpfung.
Als die Mutter so ausgiebig ihr Kind betrachtete, war dies wie Lesen in der Bibel, oder vielleicht sogar noch schöner, weil anschaulicher und persönlicher. Die Betrachtung ihres Kindes war eine Begegnung mit Gott, mit Gott, dem Schöpfer allen Lebens, dem Schöpfer dieses kleinen Wunders, das sie da als Geschenk und Aufgabe auf ihren Knien halten durfte.
Auch Begegnungen mit Menschen sind Begegnungen mit Gott. Menschen sind wie Briefe Gottes. In ihnen zu lesen, ist nicht jedem gegeben. Es gehört eine Offenheit dazu, eine innere Bereitschaft, eine Liebe zum Menschen. Und diese wiederum ist eine Gnade Gottes.
Wenn Paulus die Gemeindeglieder in Korinth als Briefe Christi bezeichnet, dann nicht, weil sie besonders fromme und vollkommene Menschen gewesen wären. Im Gegenteil. Trotz ihrer menschlichen Schwächen sollten sie als Botschaften Christi und damit als Botschaften Gottes gelesen werden können. Gott begegnet uns auch in dem unvollkommenen Menschen. So erleben wir das auch an zahlreichen biblischen Gestalten, auch an Abraham, dem Urvater des Glaubens, auch an David, dem König und Vorfahren Jesu Christi, beispielsweise. Auch sie hatten allzu menschliche Schwächen.
Wenn wir auf der Suche nach Gott sind, dann werden wir viel Hilfreiches in diesem Buch finden. Wir können und sollen zusätzlich unseren Blick aber auch auf Menschen richten und in ihnen zu lesen versuchen, in lebendigen Menschen, und in allem, was geschaffen ist. Mit Gottes Hilfe werden wir auch da fündig werden.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. Oktober 1996)