Jesus heilt an Leib und Seele
10. Oktober 1999
19. Sonntag nach Trinitatis
Markus 1,32-39
Der Predigttext und auch die beiden anderen, die Texte der Epistel und des Evangeliums, haben mit Krankenheilungen zu tun. Dafür ist Jesus ja auch bekannt, dass er Menschen gesund gemacht hat. „Hauptsache gesund“, hören wir immer wieder - und wir sagen es vielleicht selbst auch immer mal wieder. Insofern haben wir es hier mit einem bedeutsamen Thema zu tun.
Damals muss dieses Thema einen noch höheren Stellenwert gehabt haben. Denn es gab ja die medizinische Wissenschaft in unserem Sinne noch gar nicht. Wenn damals jemand, sagen wir, Zahnschmerzen gehabt hat, wer konnte ihm dann helfen? Ich vermute, keiner so richtig. Der arme Mensch musste einfach leiden.
Von Zahnschmerzen habe ich in der Bibel allerdings nichts gelesen, aber vielleicht habe ich da was übersehen. Ansonsten werden jede Menge anderer Krankheiten erwähnt: dass jemand blind ist oder taub oder stumm oder gelähmt oder aussätzig oder dass jemand Epileptiker ist.
Von Jesus werden Wunderheilungen berichtet. Das ist ein Grund, warum manche Menschen die Bibel nicht ernst nehmen und sagen: Das stimmt ja eh nicht, was da drinsteht.
Aber ist es nicht z. B. auch ein Wunder, wenn wir mit einer kleinen weißen Tablette unsere Kopfschmerzen beseitigen können? Wir haben uns daran gewöhnt und das Staunen verlernt. Wir finden es normal, dass die Medizin Lösungen bereit hält, und sind eher erstaunt oder gar verärgert, wenn das mal nicht so ist.
Damals konnte ein Kranker nicht davon ausgehen, dass er überhaupt jemanden finden würde, der ihn wieder würde gesund machen können. Für manche Krankheiten gab es schon die eine oder andere Methode, damit umzugehen und eine Heilung zu ermöglich. Aber wenn jemand wirklich wieder gesund wurde, dann erlebten die Menschen das damals vor allem als ein Wunder.
Mediziner in unserem Sinne gab es noch nicht so recht. Die Priester standen an ihrer Stelle. Und das zeigt schon, dass bei Krankheit und Heilung weniger mit menschlicher Kunst als mit göttlichem Eingreifen gerechnet wurde.
Vielleicht liegt schon an diesem Punkt ein Grund dafür vor, dass Jesus gar nicht wollte, dass seine Heilungstätigkeit allzu bekannt würde. Er hat oft gesagt, wenn er mal jemanden gesund gemacht hat: „Erzähl’s nicht weiter!“ Und hat sich dann selbst schnell davongemacht. Vielleicht hat er Sorge gehabt, er könnte es mit den Priestern zu tun bekommen - oder mit jenen, die sich für die Ordnung in der Gesellschaft verantwortlich fühlten und ihn vielleicht wegen Amtsanmaßung am liebsten vor Gericht gestellt hätten.
Es kommt ja noch eines dazu - und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt: Krankheit galt als Strafe, als Strafe Gottes für irgendein persönliches Vergehen. In uns steckt diese Vorstellung auch immer noch ein wenig, was wir merken, wenn einer mit seiner Krankheit hadert und sagt: „Womit habe ich das verdient!?“ Diese Vorstellung war damals eine weit verbreitete, vielleicht sogar die herrschende Lehre. Und das bedeutete: Wer krank war, hatte irgendwie selbst Schuld. Der Kranke war also nicht nur mit seiner Krankheit „gestraft". Er war nun auch öffentlich als einer erkennbar, der irgendeine Schuld auf sich geladen hatte.
Das ist eigentlich ein schreckliches Konzept, eine furchtbare Einstellung zur Krankheit. Denn sie kann dazu führen, dass die anderen beim Anblick eines Kranken sagen: „Der hat selbst Schuld, nun soll er doch selbst sehen, wie er mit seiner Krankheit zurechtkommt!“ Es steckt etwas ziemlich Unbarmherziges in diesem Erklärungsmuster. Krank zu sein, war von daher in doppelter Hinsicht schlimm.
Dieses Erklärungsmuster ist übrigens immer umstritten gewesen. Im alttestamentlichen Buch Hiob wird es ausführlich in Zweifel gezogen. Jesus hat dieses Konzept ganz eindeutig abgelehnt und hat sich für seine Abschaffung eingesetzt.
Als der Gelähmte zu ihm gebracht wurde zum Beispiel, sagte er zu dem Mann als erstes: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Und dann sagte er zu ihm: „Steh auf und geh!“
Hier sehen wir: Die Krankheit hat zwei Seiten. Die eine ist das körperliche Problem, die Lähmung. Aber dieses körperliche Problem ist ja nach dem damaligen Verständnis verursacht durch eine Schuld des Kranken. Also muss zunächst einmal die Schuld dieses Menschen aus der Welt geschafft werden. Das macht Jesus durch die Vergebung. Er vergibt die Schuld. Damit ist die Ursache der Krankheit beseitigt. Folglich ist der zweite Teil der Übung leicht: Jesus sagt zu dem Mann: „Steh auf!“ Und der steht auf und geht nach Haus.
Man könnte jetzt denken: Wenn Jesus so verfährt, dann akzeptiert er ja doch die Vorstellung von der Krankheit als Strafe Gottes. Dazu kann ich sagen: Nein, das tut er nicht. Er macht, sage ich mal etwas salopp, das Spiel zwar mit. Aber damit führt er das Konzept ad absurdum. Er löst vor den Augen der Menschen das Problem Krankheit innerhalb der Vorstellungen der Zuschauer. Und die merken schon, dass hier etwas nicht stimmt, dass hier etwas Unerhörtes passiert.
Die Zuschauer erregt zunächst gar nicht, dass der Kranke wieder gehen kann. Was sie erregt ist dies: dass Jesus sich erdreistet, dem Kranken die Sünden zu vergeben, denn das stünde nur Gott zu - oder in seiner Vertretung den Priestern - und nicht einem dahergelaufenen Wanderprediger.
Jesus muss dann also wieder zusehen, dass er sich davonmacht, damit ihn die Oberen der Gesellschaft nicht wegen Amtsanmaßung festnehmen lassen können.
Jesus steht für Vergebung. Er hat uns klar gemacht: Der Mensch, jeder Mensch, lebt von der Vergebung. Und diese ist uns von Anfang an zugesagt. Das ist die frohe Botschaft, das Evangelium.
In der Taufe, symbolisch durch das Taufwasser, wird uns die Vergebung Gottes, die ja schon im Vorwege da ist, zeichenhaft zuteil. Damit wird das Konzept von der Krankheit als Strafe Gottes hinfällig. Der Kranke ist von diesem Makel künftig befreit, dass er nun die Strafe Gottes sichtbar an seinem Körper trüge. Und den Zuschauern ist das Argument genommen: „Der hat selbst Schuld. Nun soll er allein zusehen, wie er mit seiner Krankheit zurechtkommt.“
Jesus legt uns ein neues Verhältnis zur Krankheit nahe: Wo immer wir einen kranken Menschen vor uns haben, soll uns dieser eine Herausforderung zur liebevollen Zuwendung sein. Das Leiden ist eine Herausforderung zu liebevoller Zuwendung. In diesem Sinne hat sich im Laufe der Geschichte dann auch ein umfangreiches diakonisches Engagement der Kirche entwickelt.
Und noch eins ist zu sagen. Wir lesen ja auch davon, dass Jesus böse Geister ausgetrieben hat. Das hört sich für unsere Ohren etwas sonderbar an. Und wiederum sagen einige: „Typisch Bibel. Noch ein Grund, sie nicht ernst zu nehmen.“
Aber diese Dämonenaustreibung verdeutlicht eine ganz wunderbare Einstellung zum Menschen und führt zu einer ganz wichtigen Leitlinie im Umgang mit den Menschen.
Es geht wieder um das Thema Schuld. Wie gehen wir mit jemandem um, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen?
Die brutalste Methode ist die, die wir aus der ansonsten sehr beliebten Geschichte von der Arche Noah kennen: Der mit Schuld beladene Mensch wird einfach beseitigt, in dem Fall ertränkt. Mit neuen Menschen wird noch einmal der Versuch gemacht, eine sündenfreie Menschheit zu schaffen. Das hat aber nicht geklappt. Das ist auch den Menschen der biblischen Zeit schnell klar geworden. Die Sünde, das schuldhafte Verhalten des Menschen, kann nicht beseitigt werden, indem der schuldhafte Mensch beseitigt wird. Dann wäre einfach alles vorbei. Eine andere Lösung musste her.
Die Lösung ist eben diese: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Menschen und seiner Schuld. Der Mensch muss von seiner Schuld befreit werden, bzw. von dem, was ihn dazu treibt, schuldig zu werden.
Wir spüren es ja oftmals geradezu physisch, dass wir nicht nur einer sind, sondern mindestens zwei: dass da in uns eine Stimme ist, die sagt: „Tu’s doch!“, während die andere Stimme sagt: „Tu’s lieber nicht!“
In uns sind Kräfte zugange, die uns klarmachen: Wir sind hin- und hergerissen. Manchmal möchten wir direkt sagen: „In uns steckt noch ein kleiner Teufel.“ Und von dem würden wir gern frei werden, damit wir endlich so lieb und nett und freundlich und hilfsbereit und geduldig sein können, wie wir ja eigentlich sein wollen.
So sieht Jesus das auch. Er betrachtet den Menschen als ein im Grunde liebenswertes Geschöpf, als ein geliebtes Kind Gottes mit ganz wunderbaren Qualitäten. Aber im Menschen steckt eben auch noch das andere drin, der kleine „Teufel“, und der gehört ausgetrieben. Davon hat gerade der Evangelist Markus viel geschrieben. Erziehung, finde ich, ist - verzeihen Sie den Vergleich - zu einem guten Teil auch so eine Art Dämonenaustreibung.
Krankheit und Schuld sind zwei große Themen unseres Lebens. Jesus hat sich dem Menschen in beider Hinsicht zugewandt und hat den Menschen geheilt an Leib und Seele.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 10. Oktober 1999)