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21. Sonntag nach Trinitatis (20.10.24)


Sollen wir, was wir nicht können?

20. Oktober 1991

21. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 5,38-48


Als Jesus sah, dass sich viele Menschen um ihn herum versammelt hatten, ging er auf einen Berg und setzte sich. Vor sich hatte er seine Jünger, und hinter ihnen stand die Menge des Volkes. Ihnen allen hielt er eine Rede, die uns von Matthäus als die Bergpredigt Jesu überliefert ist. Herr Heller hat vorhin einen Abschnitt daraus vorgelesen. „Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf die rechte Backe, dem biete die andere auch dar.“

Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört! Und wie oft haben wir uns über ihn gewundert! Wir empfinden ihn vielleicht als einen typisch biblischen Satz, als einen Satz, der nicht ganz von dieser Welt ist. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ - das klingt zwar nicht gerade christlich, manchen erscheint dieser Satz dafür aber um so realistischer. Vergeltung - „Gleiches mit Gleichem vergelten“ - „Wie du mir, so ich dir“ - das kennen wir aus unserer täglichen Erfahrung. Solches Verhalten achten wir alle zwar wahrscheinlich nicht sehr hoch. Aber es scheint besser in unsere Welt, wie sie nun einmal beschaffen ist, hineinzupassen - nach dem Motto: „Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns alles gefallen ließen!“ 

Es gäbe ja auch noch ein bedenklicheres Verfahren, wenn wir uns nämlich nach dem Grundsatz verhalten würden: „Haust du mich einmal, dann hau ich dich zweimal.“ Auch dieses Verfahren wird praktiziert, mit der Vorstellung nämlich, nur so könne der Gegner vor einer Wiederholung seiner Untat wirksam abgeschreckt werden. Dagegen erscheint die Regel, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, geradezu als Fortschritt. 

Bei näherer Betrachtung ist die Vergeltung mit gleicher Tat aber doch eine recht altertümliche Verfahrensweise. Und sie ist gar nicht typisch für das Alte Testament. Denn da werden in der Regel Ersatzleistungen zum Ausgleich für einen Schaden zugelassen. Also konkret gesprochen: Wenn einer das Schaf seines Nachbarn zu Tode gebracht hat, dann darf nicht der Nachbarn nun seinerseits das Schaf des anderen zu Tode bringen. Vielmehr muss der Unrechtstäter Schadensersatz leisten, d. h. eine Summe zahlen, so viel, wie das Schaf eben wert gewesen ist. 

Nach diesem Verfahren werden auch im Alten Testament im allgemeinen die Rechtsprobleme gelöst. Es wird in der Regel die Unrechtstat also nicht mit genau der gleichen Tat vergolten. 

Aber im Alten Testament steht eben dieser Satz: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Und der eignet sich nun besonders gut als Gegensatz zu dem, was Jesus zum Ausdruck bringen will.

„Ich aber sage euch“ - mit diesen Worten leitet Jesus seine Weisung ein. Was dann folgt, geht weit über das hinaus, was man vernünftigerweise als Regelung eines Rechtsproblems erwarten würde. Wenn uns jemand eins auf die rechte Wange haut, würden wir ihm vielleicht spontan gern rechts und links eins wiedergeben. Gut, das unterlassen wir. Wir schlagen gar nicht zurück. Denn zur Selbstjustiz lassen wir uns nicht hinreißen. Wir würden es aber doch gern sehen, wenn der andere in irgendeiner Weise bestraft würde, durch Verurteilung zu einem Bußgeld zumindest.

Was Jesus seinen Zuhörern dagegen anempfiehlt, ist eine Haltung, die die Frage aufwirft: „Wie kann er das nur gemeint haben?“ Denn auf den ersten Blick liegt seine Empfehlung jenseits dessen, was wir für vernünftig und praktikabel ansehen können. „Ihr sollt dem Bösen nicht widerstreben. Sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf die rechte Backe, dem halte auch noch die linke hin. Und wenn dir jemand deinen Rock nehmen will, dem gib auch noch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“

Es haben schon viele darüber gerätselt, wie diese Worte Jesu auszulegen sind. Manche sagen: „Diese Worte Jesu gelten nicht für das Verhalten in der jetzigen Welt. Das sind Weisungen für das Leben im Reich Gottes, und in dem befinden wir uns noch nicht.“ Das wäre ja eine elegante Lösung. Dann könnten wir die Bergpredigt ganz gelassen als erbauliche Unterhaltungslektüre lesen und unser Leben so weiterführen wie gehabt nach den Spielregeln, die in unserer Welt eben üblich sind. 

Andere sind auf eine andere elegante Lösung gekommen. Sie unterscheiden einfach zwischen zwei Arten von Geboten, den ganz strengen und den weniger strengen. Die ganz strengen gelten nur für besondere Menschen, wie z. B. die Mönche. Und die weniger strengen gelten für jeden Christen. Dann wären wir wiederum fein heraus. Denn da wir uns ja vermutlich alle als ganz normale Christen verstehen, könnte uns der hohe Anspruch der Bergpredigt nichts anhaben. Er würde nicht für uns gelten. 

Gegen diese doppelbödige Auslegung und die  Zweiteilung in normale und besondere Christen hat sich schon Martin Luther gewandt. Er hat seinerseits unterstrichen: Die Bergpredigt gilt - wie das ganze Evangelium - jedem Christen. Dann stellt sich aber erneut die Frage: „Wie sind diese anspruchsvollen Worte Jesu auszulegen?“

Ist es so, wie die Schwärmer z. Z. Luthers und später Tolstoi, die religiösen Sozialisten und andere gemeint haben, dass die von Jesus in der Bergpredigt erteilten Weisungen das neue Gesetz sind, das im wörtlichen Sinn erfüllt werden soll und auch erfüllt werden kann? So hat es vielleicht auch Matthäus selbst gemeint. Sollen wir tatsächlich - im wörtlichen Sinne - die linke Wange hinhalten, wenn uns jemand auf die rechte Wange geschlagen hat? Und sollen wir tatsächlich im Rechtsstreit dem Gegner nachgeben und seine unberechtigten Forderungen sogar noch übererfüllen? Sollen wir das und können wir das? Und was ist, wenn wir das sollen, es aber nicht können? 

Wenn ich daran denke, dass ich mich selbst kürzlich mit Hilfe eines Rechtsbeistands gegen die unberechtigte Geldforderung einer Firma zur Wehr gesetzt habe, dann muss ich zumindest für meine Person sagen: Selbst im vollen Bewusstsein von Matthäus 5, Vers 40, wäre ich der Firma nicht zu Willen gewesen, geschweige denn hätte ich ihr auf die unberechtigte Forderung noch einen Tausender draufzu gezahlt. Bin ich deswegen ein nichtswürdiger Mensch? Darf ich mich künftig nicht mehr als Christ bezeichnen?

Martin Luther kann hier mit der für ihn typischen Antwort einen Schritt weiterhelfen. Er hat ausdrücklich davor gewarnt, die Forderungen der Bergpredigt für erfüllbar zu halten. Wer meint, dem hohen Anspruch Jesu gerecht werden zu können, der macht sich etwas vor. Zwar gelten Jesu Forderungen uneingeschränkt, aber sie sind nicht erfüllbar, sagt er. Darum erkennt sich der Mensch im Spiegel der Bergpredigt als Sünder. Als solchen soll er sich auch erkennen, allerdings nicht um gedemütigt und erniedrigt zu werden, sondern um frei zu werden von einer unheilsamen Selbstüberschätzung, Selbsttäuschung, Selbstgerechtigkeit und Heuchelei. 

Mir leuchtet diese Auslegung Luthers ein. Denn ich gestehe freimütig: Der Anspruch der Bergpredigt geht über das hinaus, was ich unter den gegebenen Bedingungen unserer Gesellschaft zu realisieren in der Lage bin. Und ich finde es im Sinne Luthers sehr in Ordnung, den gegenwärtigen Zustand unserer Welt nicht als Entschuldigung für dieses Unvermögen zu akzeptieren, sondern das Unvermögen als schuldhaftes Verhalten, als Sünde also, gelten zu lassen. Denn nur so bleibt der Anspruch der Bergpredigt gewahrt: dass wir doch eine Verantwortung tragen für den Zustand unserer Gesellschaft.

Bedeutet nun die Einsicht in die Unerfüllbarkeit der Forderungen Jesu, dass sie für unser tatsächliches Verhalten ohne praktische Bedeutung sind? Ist die Bergpredigt nur die Formulierung einer Gesinnungsethik? Wenn wir diese Frage einfach mit Ja beantworten, haben wir wieder eine Zweiteilung des Menschen vorgenommen - auf der einen Seite seine Gesinnung, auf der anderen Seite sein Verhalten. Eine solche Aufspaltung ist aber vom Übel. Das Unbehagen dagegen drückt sich z. B. in Vorwürfen gegen Festtagsreden aus, deren hehre Aussagen im Alltag nicht eingelöst werden, oder in Anwürfen gegen Christen, die in der Kirche fromm sind und sich draußen von Nichtchristen in nichts unterscheiden. 

Wie also lässt sich die Bergpredigt angemessen auslegen?Vielleicht hat jeder Ausleger in gewisser Weise Recht. Es käme dann darauf an, alle Auslegungen in einem Konzept zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. 

Die Forderungen Jesu gelten uneingeschränkt für jeden Menschen für unser Leben in dieser unserer Welt. Sie sind freilich nicht im wörtlichen Sinne zu erfüllen. Insofern halten sie uns wie ein Spiegel unsere Unfähigkeit, unsere Sünde vor Augen. Indem Jesus seine Forderungen formuliert, stellt er uns eine Ethik vor, wie sie nach dem Willen Gottes unter uns gelten sollte. Nach ihr sollen wir unser Verhalten ausrichten. Jeder Versuch in dieser Richtung wäre ein Schritt in Richtung auf das Reich Gottes. Jesus ist auf diesem Weg vorangegangen. In seinem konkreten Verhalten hat das Reich Gottes sichtbar seinen Anfang genommen. Er hat in seiner Person stellvertretend für uns alle das erfüllt, wozu wir nicht vollkommen in der Lage sind. Mit seinem stellvertretenden Handeln hat er uns von einem Druck befreit, von der Sorge nämlich, dass wir verworfen  werden wegen unserer ethischen Unvollkommenheit. Wir brauchen uns nicht für unwert zu halten. Seine Stellvertretung entlastet uns jedoch nicht von dem vollen ethischen Anspruch: Diesen sollen wir ernst nehmen und das uns Mögliche tun, ihn in unserer Lebenswirklichkeit zur Geltung zu bringen. Wir sind in die Nachfolge Jesu berufen. Die Vergebung ermöglicht uns, dass wir uns dem ethischen Anspruch in seinem vollen Umfang täglich neu stellen. 

Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute. Er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Dies ist ein schlichtes, aber eindrückliches Bild: Gott wendet sich allen Menschen in gleicher Weise, mit gleicher Liebe zu. Seine Gerechtigkeit besteht nicht darin, dass er den Bösen verdammt und vernichtet. Er überwindet das Böse mit Gutem. Darum hat er Christus gesandt. Wir sind weit entfernt von einer Welt, in der solche Liebe regiert. Den Wert einer solchen Liebe wissen wir aber sehr wohl zu schätzen, wenn sie uns selbst zuteil wird. Liebe nicht nur zu empfangen, sondern sie auch zu geben in der Nachfolge Jesu - unterschiedslos jedem Menschen ohne Ansehen der Person - dazu ruft uns die Bergpredigt auf. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. Oktober 1991)

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