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6. Sonntag nach Ostern (28.5.17)


Im Glauben erwachsen werden

16. Mai 1999

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 7,37-39


Las­sen sie uns mal für ei­nen Au­gen­blick un­se­ren kir­chen­jah­res­zeit­li­chen Stand­punkt be­trach­ten. Wir ha­ben Him­mel­fahrt hin­ter uns, und wir ha­ben das Pfingst­fest vor uns. An Him­mel­fahrt hat sich Je­sus von sei­nen Jün­gern ver­ab­schie­det - mit ei­nem Auf­trag: „Geht hin in al­le Welt, lehrt al­le Völ­ker und tauft sie!“ Und Pfing­sten, das Fest der Aus­gie­ßung des Hei­li­gen Gei­stes: Da er­hiel­ten die Jün­ger die Kraft, den Auf­trag Je­su nun auch tat­säch­li­chen aus­füh­ren zu kön­nen.

Ver­set­zen wir uns al­so ein­mal in die Si­tu­a­tion der Jün­ger, dann se­hen wir: Sie be­fin­den sich in den zehn Ta­gen zwi­schen Him­mel­fahrt und Pfing­sten in ei­ner Über­gangs­pha­se, in ei­ner Zwi­schen­zeit - in min­de­stens zwei­fa­cher Hin­sicht. Zum ei­nen: Sie ha­ben ei­nen Auf­trag er­hal­ten, aber es ist noch nicht klar, wie sie ihn wer­den aus­füh­ren kön­nen. Zum an­de­ren: Bis­her hat ihr Herr und Mei­ster, Je­sus selbst, ge­re­det und ge­han­delt. Nun sind sie an der Rei­he, nun sol­len sie - in sei­nem Sin­ne - re­den und han­deln.

Wir könn­ten fast sa­gen: Zwi­schen Him­mel­fahrt und Pfing­sten be­fin­den sich die Jün­ger in der Pha­se des Er­wach­sen­wer­dens. Bis­her wa­ren sie wie Kin­der: die Emp­fan­gen­den und Ler­nen­den. Nun sol­len sie et­was wei­ter­ge­ben von dem, was sie emp­fan­gen ha­ben. Bis­her sind sie ein­fach mit Je­sus mit­ge­gan­gen. Sie ha­ben ihn be­ob­ach­tet, sie ha­ben ihm zuge­hört, sie ha­ben ihn be­staunt und ha­ben sich über ihn ge­wun­dert. Sie konn­ten ihn fra­gen und konn­ten mit ihm di­sku­tie­ren. Und wenn an­de­re sich mit ei­ner Fra­ge an sie wand­ten, konn­ten sie sa­gen: „Da ist un­ser Herr und Mei­ster, fragt ihn doch selbst.“

Nun ist Je­sus nicht mehr da. Nun sind sie auf sich selbst ge­stellt. Nun müs­sen sie all das ver­ar­bei­ten, was sie er­lebt, ge­se­hen und ge­hört ha­ben. Nun müs­sen sie all ih­re Er­fah­run­gen in sich zu­sam­men­brin­gen zu ei­nem Ge­samt­kon­zept. Sie müs­sen nun den ro­ten Fa­den fin­den in all dem, was sie bis­her er­lebt ha­ben und müs­sen ih­re Er­fah­run­gen kom­mu­ni­ka­bel ma­chen. Sie müs­sen nun Wor­te fin­den, um das ver­steh­bar wei­ter­zu­sa­gen, was sie bis­her er­lebt ha­ben.

Mich er­in­nert die­se Si­tu­a­tion sehr an das En­de mei­ner Stu­dien­zeit und den Be­ginn mei­nes Vi­ka­ri­ats - ins­be­son­de­re an den Au­gen­blick, als ich mei­ne er­ste Pre­digt hal­ten soll­te. Das war ei­ne ganz ein­schnei­den­de Si­tu­a­tion. Es ist näm­lich et­was fun­da­men­tal an­de­res, ob ich nur stu­die­re und ler­ne oder ob ich an­de­ren et­was wei­ter­ge­ben soll. Bei die­sem Wei­ter­ge­ben, der Pre­digt für an­de­re, ging es ja nicht nur um Wis­sens­ver­mitt­lung, son­dern um die Wei­terg­abe von Glau­ben, von Le­bens­ein­stel­lun­gen, von Ein­stel­lun­gen zum Le­ben und zum Men­schen. Das ist ja et­was, was mit der gan­zen Per­son zu tun hat.

Bei der An­fer­ti­gung mei­ner er­sten Pre­digt stell­te sich mir in bis da­hin nicht ge­kann­ter Dring­lich­keit die Fra­ge: „Was glau­be ich ei­gent­lich? Was ist mir ei­gent­lich wich­tig am Le­ben? Was be­deut­et mir ei­gent­lich der Mensch? Wie ste­he ich ei­gent­lich zu den Prob­le­men des Le­bens und des Men­schen - zu Leid und Schuld und über­haupt zu den Grund­fra­gen un­se­res Da­seins? Ich hat­te da­mals bei mei­ner er­sten Pre­digt auch noch ei­nen so schwie­ri­gen Bi­bel­text aus­zu­le­gen, in dem stand: „Wen Gott liebt, den straft er.“

Ge­le­sen und ge­lernt hat­te ich vor­her ei­ni­ges. Aber die An­samm­lung von Wis­sen macht noch kei­nen Glau­ben. Und al­lein das Wis­sen schafft noch nicht die Kraft und die Lust zum Le­ben.

Es muss et­was hin­zu­kom­men, und die­ses „Et­was“ nennt die Bi­bel den Hei­li­gen Geist, al­so die­ses un­ver­füg­ba­re Ele­ment, das aus den tau­sen­den von Puzz­le­tei­len un­se­res Wis­sens ein sinn­vol­les und brauch­ba­res Gan­zes macht. Und die­ser Geist kommt erst Pfing­sten, al­so erst in ei­ner Wo­che - kir­chen­jah­res­zeit­lich ge­se­hen.

Im Au­gen­blick al­so, zwi­schen Him­mel­fahrt und Pfing­sten, be­fin­den wir uns in ei­ner Pha­se der Orien­tie­rung, der Su­che, der Samm­lung, der Ent­wick­lung ei­nes ei­ge­nen Kon­zep­tes. Es ist ei­ne Pha­se des Über­gangs vom Wis­sen zum Glau­ben.

Wie kön­nen wir die­sen Über­gang schaf­fen? Wie ha­ben die Jün­ger die­sen Über­gang ge­schafft? Ist er mach­bar? Kann das je­der: zum Glau­ben kom­men? Was ist das über­haupt, Glau­ben?

Beim Glau­ben han­delt es sich je­den­falls nicht um das Für­wahr­hal­ten ir­gendwel­cher re­li­gi­ö­sen For­meln. Glau­ben hat mit Be­zie­hung zu tun - mit mei­nem ganz per­sön­li­chen Ver­hält­nis zum Le­ben und zum Men­schen.

Wenn ich z. B. zu ei­nem Men­schen sa­ge: „Ich glau­be an dich“, dann brin­ge ich da­mit mei­ne Be­zie­hung zu die­sem Men­schen zum Aus­druck, was z. B. be­deu­ten kann, dass ich die­sen Men­schen nicht auf­ge­be, auch wenn der mal et­was tut, was nicht so über­zeu­gend wirkt, wenn er mal Feh­ler macht. Ich glau­be an die­sen Men­schen heißt, dass ich an ihm fest­hal­te, kom­me, was wol­le, im­mer in der Zu­ver­sicht, dass die­ser Men­schen für mich sei­ne Be­deu­tung nie­mals ver­lie­ren wird.

Oder wenn ich sa­ge: „Ich glau­be an das Le­ben“ - das heißt doch so viel wie: Ich will das Le­ben, ich freue mich des Le­bens, ich be­ja­he das Le­ben. Und ich lass mich von mei­nem Ja zum Le­ben auch dann nicht ab­brin­gen, wenn es mir mal sau­er wird.

Oder wenn ich sa­ge: „Ich glau­be an die Kraft der Lie­be.“ Das heißt doch so viel wie: Da­nach will ich mein Le­ben aus­rich­ten - nach der Lie­be. In ih­rem Sin­ne will ich mein Le­ben ge­stal­ten - im Sin­ne der Lie­be zum Mit­men­schen. Dar­in se­he ich den Sinn des Le­bens, dass ich lie­be­voll mit den Mit­men­schen und mit al­len Ge­schöp­fen und dem gan­zen Da­sein um­ge­he. Und da­rin will ich mich auch nicht beir­ren las­sen, mö­ge ich auch noch so viel Lieb­lo­sig­keit er­le­ben. Auch wenn al­ler Au­gen­schein da­ge­gen spricht: Ich hal­te an der Lie­be fest. Ich glau­be an die Lie­be.

Wir kön­nen uns wohl gut ver­stel­len, dass es Men­schen gibt, die ein ganz an­de­res Ver­hält­nis zu ih­rem Da­sein, zu ih­ren Mit­men­schen und zum Le­ben ha­ben. Es gibt auch wel­che, die sa­gen: Ich glau­be an gar nichts - oder an gar nichts mehr -, und brin­gen da­mit ih­re Ent­täu­schung zum Aus­druck über das Le­ben, über die Men­schen, viel­leicht auch über sich selbst.

Wo­her kommt nun der Un­ter­schied? Wie kommt es zu der ei­nen, wie kommt es zu der an­de­ren Be­zie­hung zu den Din­gen des Le­bens? Wie kommt man zum Glau­ben?

Die Bi­bel ant­wor­tet dar­auf bild­haft. Sie sagt: „Es ist der Geist, der Hei­li­ge Geist, der den Glau­ben schafft.“ Ir­gendet­was muss es ja sein. Grei­fen wir mal die­ses Bild auf: Der Geist schafft den Glau­ben. 

Dann müs­sen wir fest­stel­len, dass in man­chen Men­schen der Geist et­was aus­rich­tet, in an­de­ren nicht. Man­che las­sen sich be­gei­stern, an­de­re las­sen sich nicht be­gei­stern. Bei man­chen zün­det der Geist nicht, man­che Men­schen las­sen sich nicht ent­flam­men. Das ist dann, wie wenn wir ei­nen Streich­holz an ein Stück Ei­sen hal­ten. Das Stück Ei­sen wird ein­fach nicht an­fan­gen zu bren­nen. 

Es ge­hö­ren al­so im­mer zwei da­zu: der Geist zum ei­nen, und­ der Mensch zum an­de­ren, die Auf­nah­me­fä­hig­keit und -be­reit­schaft des Men­schen, die Be­gei­ste­rungs­fä­hig­keit, die Vor­ein­stel­lung oder wie im­mer wir das nen­nen wol­len. Da könn­ten wir ver­schie­de­ne Bil­der ver­wen­den. Wir könn­ten auch sa­gen: Der Geist ist wie ein Schlüs­sel. Mit ei­nem Schlüs­sel kann man auch nicht je­de Tür auf­ma­chen. Er muss in das Schlüs­sel­loch pas­sen.

Nicht je­der Mensch kann mit demsel­ben Schlüs­sel ge­öff­net wer­den. Und nicht je­der Mensch rea­giert auf die­sel­ben Wor­te in der glei­chen Wei­se. Wir kön­nen ver­schie­de­nen Men­schen ein und die­sel­be bi­bli­sche Ge­schich­te er­zäh­len. Die ei­nen wer­den sa­gen: „Wie wun­der­bar!“ Und sie neh­men et­was für ihr Le­ben mit. Die an­de­ren wer­den sa­gen: „Die Ge­schich­te sagt mir nichts.“ Und sie ge­hen da­von, so, wie sie ge­kom­men sind.

In die­ser Zwi­schen­pha­se, wo sich der Glau­be erst bil­det, be­fin­den sich al­so die Jün­ger zwi­schen Him­mel­fahrt und Pfing­sten. Je­sus kün­digt sei­nen Jün­gern die Aus­stat­tung mit der Kraft des Hei­li­gen Gei­stes an. Er deu­tet aber auch schon an, dass es Men­schen ge­ben wird, die von die­sem Geist nicht be­rührt wer­den, die sich nicht be­we­gen las­sen wer­den, die sich nicht be­gei­stern las­sen wer­den, die ganz im Ge­gen­teil mit Un­ver­ständ­nis und Aggres­si­vi­tät rea­gie­ren wer­den.

Je­sus sagt: „Wen dür­stet, der wird von mir zu trin­ken be­kom­men. Dem wird mein Was­ser schmecken, den wird mein Was­ser zu neu­em Le­ben er­wecken.“ Das ist auch ein schö­nes Bild - pa­ssend übri­gens zu dem jü­di­schen Laub­hüt­ten­fe­st mit der Was­ser­wei­he, das da­mals ge­ra­de in Je­ru­sa­lem ge­feiert wur­de.

Wer kei­nen Durst hat, dem wird das Was­ser al­ler­dings auch nicht viel be­deu­ten.

Und was ist mit dem Durst ge­meint? Der Durst nach Le­ben, nach Lie­be, nach Freu­de, nach Ge­mein­schaft, nach Mit­mensch­lich­keit, Hil­fe, Ge­duld, Mut, Ver­trau­en, Ge­rech­tig­keit, Frie­den? Wir kön­nen in die­ses Wort all das hin­ein­le­gen, was uns am Leben be­son­ders wich­tig ist, all die Wer­te, die un­se­rem Le­ben Sinn ge­ben, die das Le­ben schön und wert­voll ma­chen. Das wer­den nicht in er­ster Li­nie ma­te­riel­le Din­ge sein - die konn­te Je­sus nicht ge­ben.

Je­sus ist die Quel­le für die nicht-ma­te­riel­len Ga­ben, für all das, was wir mit dem ei­nen Wort „Lie­be“ zu­sam­men­fas­sen.

Wer in die­sem Sin­ne Durst hat, der be­kommt von Je­sus das Was­ser des Le­bens und der kann dann selbst zu ei­ner Quel­le des Le­bens für an­de­re wer­den, wie Lu­ther das so schön for­mu­liert, als er Je­sus sa­gen lässt: „Wer an mich glaubt, von des­sen Leib wer­den Strö­me le­ben­di­gen Was­sers flie­ßen.“

Ich wün­sche uns al­len den Durst nach Le­ben und nach Lie­be. Ich wün­sche uns al­len, dass wir in Je­sus Chri­stus die Quel­le des Le­bens und der Lie­be er­ken­nen und an­neh­men, und dass wir durch ihn un­se­ren Durst stil­len las­sen und dann durch ihn selbst zur Quel­le des Le­bens und der Lie­be für an­de­re wer­den.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 16. Mai 1999)

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