Lassen sie uns mal für einen Augenblick unseren kirchenjahreszeitlichen Standpunkt betrachten. Wir haben Himmelfahrt hinter uns, und wir haben das Pfingstfest vor uns. An Himmelfahrt hat sich Jesus von seinen Jüngern verabschiedet - mit einem Auftrag: „Geht hin in alle Welt, lehrt alle Völker und tauft sie!“ Und Pfingsten, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes: Da erhielten die Jünger die Kraft, den Auftrag Jesu nun auch tatsächlichen ausführen zu können.
Versetzen wir uns also einmal in die Situation der Jünger, dann sehen wir: Sie befinden sich in den zehn Tagen zwischen Himmelfahrt und Pfingsten in einer Übergangsphase, in einer Zwischenzeit - in mindestens zweifacher Hinsicht. Zum einen: Sie haben einen Auftrag erhalten, aber es ist noch nicht klar, wie sie ihn werden ausführen können. Zum anderen: Bisher hat ihr Herr und Meister, Jesus selbst, geredet und gehandelt. Nun sind sie an der Reihe, nun sollen sie - in seinem Sinne - reden und handeln.
Wir könnten fast sagen: Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten befinden sich die Jünger in der Phase des Erwachsenwerdens. Bisher waren sie wie Kinder: die Empfangenden und Lernenden. Nun sollen sie etwas weitergeben von dem, was sie empfangen haben. Bisher sind sie einfach mit Jesus mitgegangen. Sie haben ihn beobachtet, sie haben ihm zugehört, sie haben ihn bestaunt und haben sich über ihn gewundert. Sie konnten ihn fragen und konnten mit ihm diskutieren. Und wenn andere sich mit einer Frage an sie wandten, konnten sie sagen: „Da ist unser Herr und Meister, fragt ihn doch selbst.“
Nun ist Jesus nicht mehr da. Nun sind sie auf sich selbst gestellt. Nun müssen sie all das verarbeiten, was sie erlebt, gesehen und gehört haben. Nun müssen sie all ihre Erfahrungen in sich zusammenbringen zu einem Gesamtkonzept. Sie müssen nun den roten Faden finden in all dem, was sie bisher erlebt haben und müssen ihre Erfahrungen kommunikabel machen. Sie müssen nun Worte finden, um das verstehbar weiterzusagen, was sie bisher erlebt haben.
Mich erinnert diese Situation sehr an das Ende meiner Studienzeit und den Beginn meines Vikariats - insbesondere an den Augenblick, als ich meine erste Predigt halten sollte. Das war eine ganz einschneidende Situation. Es ist nämlich etwas fundamental anderes, ob ich nur studiere und lerne oder ob ich anderen etwas weitergeben soll. Bei diesem Weitergeben, der Predigt für andere, ging es ja nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um die Weitergabe von Glauben, von Lebenseinstellungen, von Einstellungen zum Leben und zum Menschen. Das ist ja etwas, was mit der ganzen Person zu tun hat.
Bei der Anfertigung meiner ersten Predigt stellte sich mir in bis dahin nicht gekannter Dringlichkeit die Frage: „Was glaube ich eigentlich? Was ist mir eigentlich wichtig am Leben? Was bedeutet mir eigentlich der Mensch? Wie stehe ich eigentlich zu den Problemen des Lebens und des Menschen - zu Leid und Schuld und überhaupt zu den Grundfragen unseres Daseins? Ich hatte damals bei meiner ersten Predigt auch noch einen so schwierigen Bibeltext auszulegen, in dem stand: „Wen Gott liebt, den straft er.“
Gelesen und gelernt hatte ich vorher einiges. Aber die Ansammlung von Wissen macht noch keinen Glauben. Und allein das Wissen schafft noch nicht die Kraft und die Lust zum Leben.
Es muss etwas hinzukommen, und dieses „Etwas“ nennt die Bibel den Heiligen Geist, also dieses unverfügbare Element, das aus den tausenden von Puzzleteilen unseres Wissens ein sinnvolles und brauchbares Ganzes macht. Und dieser Geist kommt erst Pfingsten, also erst in einer Woche - kirchenjahreszeitlich gesehen.
Im Augenblick also, zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, befinden wir uns in einer Phase der Orientierung, der Suche, der Sammlung, der Entwicklung eines eigenen Konzeptes. Es ist eine Phase des Übergangs vom Wissen zum Glauben.
Wie können wir diesen Übergang schaffen? Wie haben die Jünger diesen Übergang geschafft? Ist er machbar? Kann das jeder: zum Glauben kommen? Was ist das überhaupt, Glauben?
Beim Glauben handelt es sich jedenfalls nicht um das Fürwahrhalten irgendwelcher religiösen Formeln. Glauben hat mit Beziehung zu tun - mit meinem ganz persönlichen Verhältnis zum Leben und zum Menschen.
Wenn ich z. B. zu einem Menschen sage: „Ich glaube an dich“, dann bringe ich damit meine Beziehung zu diesem Menschen zum Ausdruck, was z. B. bedeuten kann, dass ich diesen Menschen nicht aufgebe, auch wenn der mal etwas tut, was nicht so überzeugend wirkt, wenn er mal Fehler macht. Ich glaube an diesen Menschen heißt, dass ich an ihm festhalte, komme, was wolle, immer in der Zuversicht, dass dieser Menschen für mich seine Bedeutung niemals verlieren wird.
Oder wenn ich sage: „Ich glaube an das Leben“ - das heißt doch so viel wie: Ich will das Leben, ich freue mich des Lebens, ich bejahe das Leben. Und ich lass mich von meinem Ja zum Leben auch dann nicht abbringen, wenn es mir mal sauer wird.
Oder wenn ich sage: „Ich glaube an die Kraft der Liebe.“ Das heißt doch so viel wie: Danach will ich mein Leben ausrichten - nach der Liebe. In ihrem Sinne will ich mein Leben gestalten - im Sinne der Liebe zum Mitmenschen. Darin sehe ich den Sinn des Lebens, dass ich liebevoll mit den Mitmenschen und mit allen Geschöpfen und dem ganzen Dasein umgehe. Und darin will ich mich auch nicht beirren lassen, möge ich auch noch so viel Lieblosigkeit erleben. Auch wenn aller Augenschein dagegen spricht: Ich halte an der Liebe fest. Ich glaube an die Liebe.
Wir können uns wohl gut verstellen, dass es Menschen gibt, die ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Dasein, zu ihren Mitmenschen und zum Leben haben. Es gibt auch welche, die sagen: Ich glaube an gar nichts - oder an gar nichts mehr -, und bringen damit ihre Enttäuschung zum Ausdruck über das Leben, über die Menschen, vielleicht auch über sich selbst.
Woher kommt nun der Unterschied? Wie kommt es zu der einen, wie kommt es zu der anderen Beziehung zu den Dingen des Lebens? Wie kommt man zum Glauben?
Die Bibel antwortet darauf bildhaft. Sie sagt: „Es ist der Geist, der Heilige Geist, der den Glauben schafft.“ Irgendetwas muss es ja sein. Greifen wir mal dieses Bild auf: Der Geist schafft den Glauben.
Dann müssen wir feststellen, dass in manchen Menschen der Geist etwas ausrichtet, in anderen nicht. Manche lassen sich begeistern, andere lassen sich nicht begeistern. Bei manchen zündet der Geist nicht, manche Menschen lassen sich nicht entflammen. Das ist dann, wie wenn wir einen Streichholz an ein Stück Eisen halten. Das Stück Eisen wird einfach nicht anfangen zu brennen.
Es gehören also immer zwei dazu: der Geist zum einen, und der Mensch zum anderen, die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Menschen, die Begeisterungsfähigkeit, die Voreinstellung oder wie immer wir das nennen wollen. Da könnten wir verschiedene Bilder verwenden. Wir könnten auch sagen: Der Geist ist wie ein Schlüssel. Mit einem Schlüssel kann man auch nicht jede Tür aufmachen. Er muss in das Schlüsselloch passen.
Nicht jeder Mensch kann mit demselben Schlüssel geöffnet werden. Und nicht jeder Mensch reagiert auf dieselben Worte in der gleichen Weise. Wir können verschiedenen Menschen ein und dieselbe biblische Geschichte erzählen. Die einen werden sagen: „Wie wunderbar!“ Und sie nehmen etwas für ihr Leben mit. Die anderen werden sagen: „Die Geschichte sagt mir nichts.“ Und sie gehen davon, so, wie sie gekommen sind.
In dieser Zwischenphase, wo sich der Glaube erst bildet, befinden sich also die Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Jesus kündigt seinen Jüngern die Ausstattung mit der Kraft des Heiligen Geistes an. Er deutet aber auch schon an, dass es Menschen geben wird, die von diesem Geist nicht berührt werden, die sich nicht bewegen lassen werden, die sich nicht begeistern lassen werden, die ganz im Gegenteil mit Unverständnis und Aggressivität reagieren werden.
Jesus sagt: „Wen dürstet, der wird von mir zu trinken bekommen. Dem wird mein Wasser schmecken, den wird mein Wasser zu neuem Leben erwecken.“ Das ist auch ein schönes Bild - passend übrigens zu dem jüdischen Laubhüttenfest mit der Wasserweihe, das damals gerade in Jerusalem gefeiert wurde.
Wer keinen Durst hat, dem wird das Wasser allerdings auch nicht viel bedeuten.
Und was ist mit dem Durst gemeint? Der Durst nach Leben, nach Liebe, nach Freude, nach Gemeinschaft, nach Mitmenschlichkeit, Hilfe, Geduld, Mut, Vertrauen, Gerechtigkeit, Frieden? Wir können in dieses Wort all das hineinlegen, was uns am Leben besonders wichtig ist, all die Werte, die unserem Leben Sinn geben, die das Leben schön und wertvoll machen. Das werden nicht in erster Linie materielle Dinge sein - die konnte Jesus nicht geben.
Jesus ist die Quelle für die nicht-materiellen Gaben, für all das, was wir mit dem einen Wort „Liebe“ zusammenfassen.
Wer in diesem Sinne Durst hat, der bekommt von Jesus das Wasser des Lebens und der kann dann selbst zu einer Quelle des Lebens für andere werden, wie Luther das so schön formuliert, als er Jesus sagen lässt: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“
Ich wünsche uns allen den Durst nach Leben und nach Liebe. Ich wünsche uns allen, dass wir in Jesus Christus die Quelle des Lebens und der Liebe erkennen und annehmen, und dass wir durch ihn unseren Durst stillen lassen und dann durch ihn selbst zur Quelle des Lebens und der Liebe für andere werden.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 16. Mai 1999)