Wir sind erbarmungswürdige Kreaturen
Psalm 130,4
Es ist hilfreich, den ganzen Psalm zu betrachten oder zumindest den vorangehenden Vers mit zu bedenken: „Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, wer könnte bestehen?“ Die Antwort auf diese rhetorische Frage lautet: „Bei dir ist Vergebung.“
Hier schreit einer in seiner Not zu Gott: „Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr, höre meine Stimme.“ Er schreit zu Gott gequält von der Erfahrung der Schuld. Was hat er Unrechtes getan? Wie hat er sich vergangen? Welches belastende Ereignis liegt hinter ihm? Kein konkreter Vorfall wird genannt.
„Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, wer könnte vor dir bestehen?“ Hier schreit nicht nur dieser eine konkrete Beter, hier schreit durch ihn die ganze menschliche Kreatur. Nicht ein einzelnes Ereignis ist es gewesen, gestern, als er ein böses Wort sagte und einen Freund zutiefst verletzte - nicht ein Ereignis ist es gewesen, das den Beter in die Not der Schuld hineingestürzt hätte. Es sind die Ereignisse der ganzen menschlichen Geschichte, die sich in seinen Worten zum Ausdruck bringen. Es ist die endlose Kette der Verfehlungen aller Generationen seit Menschengedenken, die in jedem einzelnen Menschenleben sich nur weiter anreichernde Schuld.
„Wenn du, Herr, uns unsere Sünden anrechnen wolltest, wer könnte vor dir bestehen?“ Niemand könnte vor Gott bestehen, der aller Menschen Schuld kennt, vor dem nichts verborgen ist, auch nicht das Falsche hinter manchem schönen Schein.
Was ist der Mensch? Zum Tun des Guten berufen, doch dazu so wenig fähig. Was ist die Vergangenheit des Menschen? Ein andauernder Fall. Und die Zukunft des Menschen? Wir fallen immer tiefer.
„Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr, höre meine Stimme!“ Der Schrei nach Rettung und Erbarmen ist der angemessene Ausdruck für die Situation des Menschen und steht zu Recht am Beginn eines jeden Gottesdienstes. Dieser Schrei ist nicht unerhört geblieben.
Das ist die gute Botschaft, die wunderbare Kraft der biblischen Texte, des Neuen Testaments insbesondere: dass sie den Gefallenen aufrichtet, nicht durch eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, indem sie den Menschen etwa besser zeichnete als er ist, sondern durch Entlastung. Die erdrückenden Berge von Schuld werden abgetragen, und der Mensch kann sich aufrichten. Er darf sich aufrichten und mit der Gelöstheit des Befreiten auf die vor ihm liegenden Aufgaben zugehen.
„Bei dir, Herr, ist Vergebung.“ So wird uns Zukunft eröffnet: Nicht, weil wir es doch noch geschafft hätten, gut zu werden, sondern weil wir von der Last der Vergangenheit befreit sind.
(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 28. Oktober 1986)