Wir sind zu vorbildlichem Verhalten berufen
16. Juli 2000
4. Sonntag nach Trinitatis
1. Petrus 3,8-15a(15b-17)
Der heutige Predigttext in 1. Petrus 3 enthält eine Mahnung an die Gemeinde, eine Aufforderung an die Gemeinde, sich so zu verhalten und nicht anders. Wir können diese Mahnung oder Verhaltensempfehlung einmal so verstehen, als wäre sie direkt an uns als Gemeinde St. Markus gerichtet. Bevor ich den Text lese, könnten wir uns aber selbst fragen: „Wie sollten wir als Gemeinde denn sein?“ Und mit Gemeinde meine ich jetzt all die Menschen, die sich in irgendeiner Weise St. Markus so verbunden fühlen, dass andere sagen würden: „Der - oder die - gehört zu St. Markus.“ Das könnten also Mitarbeiter sein, hauptamtliche oder ehrenamtliche, alle, die hier eine kleine oder größere Aufgabe übernommen haben, und alle, die hier mehr oder weniger regelmäßig in den diversen Veranstaltungen der Gemeinde auftauchen, sodass, wie gesagt, Außenstehende meinen, den oder die Betreffende mit der Gemeinde identifizieren zu dürfen.
Machen wir uns mal den Blick von außen zu eigen. Gerade dann wird nämlich schnell deutlich, dass eine Gemeinde eine Ansammlung von Menschen darstellt, von denen zumindest erwartet wird, dass sie sich in einer bestimmten Weise verhalten. An eine Gemeinde werden – und, wie ich finde, zurecht - erhöhte Anforderungen gestellt, was das Verhalten der ihr zugehörigen Menschen anbetrifft.
Wie die Realitäten dann aussehen, ist eine andere Frage. aber dass da zunächst einmal Standards sind - so und so sollten wir sein und so und so sollten wir nicht sein -, das lässt sich nicht leugnen, und das hat auch seine Richtigkeit. Wenn wir uns jetzt mal nach diesen Standards fragen, dann kommen wir, vermute ich, ganz schnell auf dieselben Verhaltensempfehlungen, die uns in unserem Predigttext gegeben werden. Da heißt es nämlich - ich fasse das mal zusammen:
„Seid untereinander einig, seid mitfühlend, seid brüderlich, barmherzig, demütig, vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern segnet vielmehr. Hütet euch davor, dass eure Zunge Böses redet, dass eure Lippen betrügen. Wendet euch vom Bösen ab und tut Gutes, sucht den Frieden, seid gerecht.“
So gut können wir gar nicht sein, wie hier von uns erwartet wird, aber mit diesen Standards ist doch ein Ziel angegeben, auf das hin wir uns als Gemeinde bemühen könnten und sollten.
Wir könnten nun die einzelnen Standards diskutieren. „Seid untereinander einig!“ Vielleicht würde da der eine oder andere sagen: „Es muss doch auch in einer Gemeinde möglich sein, unterschiedliche Meinungen und Positionen zu vertreten.“ Ja, sicher! Aber wenn es zu richtigem Streit, zu tiefsitzendem und dauerhaftem Streit kommt, dann wäre das einer Gemeinde gewiss unangemessen. Die Bereitschaft, einen Konflikt zügig und nachhaltig zu lösen, sollte in einer Gemeinde besonders groß sein.
Natürlich sollte sich jeder - auch außerhalb einer Kirchengemeinde - um Friedfertigkeit und Versöhnungsbereitschaft bemühen. Aber gerade uns wird es besonders übel genommen, wenn es bei uns nicht klappt. Als christliche Gemeinde haben wir eine gewisse Vorbildfunktion. Das macht auch einen guten Teil unserer gesellschaftlichen Bedeutung aus. Die Gesellschaft braucht die Kirche, braucht die Kirchengemeinden, in denen sich die dort zugehörigen Menschen in besonderer Weise bemühen, hohe Standards des mitmenschlichen Umgangs zu erfüllen. Unsere Gesellschaft wäre möglicherweise viel unmenschlicher, viel kälter, wenn es die Kirchengemeinden nicht gäbe.
„Seid mitfühlend, barmherzig, brüderlich“, sagen wir besser: „geschwisterlich!" Als Christen könnten wir niemals das Recht des Starken gelten lassen. Es ist vom Wesen unseres Glaubens her unser Auftrag, uns mit besonderer Aufmerksamkeit den Schwachen und Benachteiligten zuzuwenden. Wer stark ist, wer besonders begabt oder begütert ist, der soll seine Vorzüge nicht nur selbst genießen, der ist vielmehr dazu aufgerufen, seine Gaben auch zum Wohle anderer einzusetzen. Der Egoismus steht einem Christen nicht gut zu Gesichte. Der steht natürlich niemandem gut zu Gesichte. Aber wenn wir das in dieser allgemeinen Form so empfinden, dann eben deshalb, weil christliche Standards doch auch heute noch einigermaßen in unserer Gesellschaft verwurzelt sind - als Allgemeingut sozusagen. Das kann aber auch verlorengehen.
Es kann sich in einer Gesellschaft auch der Egoismus als Standard durchsetzen. Das wäre schrecklich. Vielleicht ist das in der Praxis weitgehend sogar schon so. Wir müssen ja auch unterscheiden zwischen dem, was wir - zumindest in der Theorie - noch für gut und richtig halten, und dem, was praktiziert wird, was wir vielleicht selbst praktizieren - nach dem Motto: Mitmenschlichkeit ist mehr was für die Sonntagsrede und Egoismus ist mehr was für das wahre Leben. „Ich bin doch nicht blöd“, wird auch als ein Argument für den Egoismus genommen. Theologisch etwas vornehmer formuliert, spricht man von der „Torheit des Kreuzes“, was eben so viel heißt wie: Sich für andere einsetzen, für andere gar persönliche Opfer bringen, ist dumm.
Es ist ja auch wahr, dass der mitfühlende, geschwisterliche, barmherzige Einsatz für andere einem nicht unbedingt Vorteile bringt, oftmals nicht einmal Dank und statt dessen nicht selten sogar Nachteile und Enttäuschungen. „Nächstenliebe lohnt sich nicht“, möchte manch einer manchmal vielleicht sagen. Aber solche Enttäuschungen dürfen nicht das Leitmotiv unseres Verhaltens werden. Jesus Christus ist gekreuzigt worden. Ihm ist sein Einsatz für den Menschen auch nicht gedankt worden. Dennoch hat er an seiner Liebe zu den Menschen festgehalten. Das macht ja gerade das Schöne und Wunderbare des christlichen Glaubens aus, dieses „Dennoch“, dieses liebevolle Dennoch. Wenn wir unser Verhalten nach all den unerfreulichen Erfahrungen des Alltags ausrichten würden, dann würde uns das Leben bald nicht mehr viel Freude bereiten.
Enttäuschte, verbitterte, resignierte, nur noch auf sich selbst bezogene Menschen machen keine gute Gesellschaft. Nein, es ist wichtig, dass wir schöne, hehre, erhabene Ziele vor Augen haben; die dürfen ruhig weit über die Realitäten hinausweisen. Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit, Liebe, Frieden, das sind in gewisser Weise mehr Ziele als Realitäten. Sie geben uns eine Richtung an, in die zu gehen sich lohnt. Es lohnt sich - nicht unbedingt sofort in barer Münze und unmittelbarem Erfolg -, aber doch in dem Sinne, dass unser Leben einen Sinn und eine Würde erhält.
Ich möchte lieber im Bemühen um Nächstenliebe enttäuscht werden, als ein erfolgreicher Egoist sein. Christus ist an der Liebe gescheitert. Aber dass er dennoch an der Liebe festgehalten hat, hat ihn zum Hoffnungsträger der Menschheit gemacht. Das macht das Frohe an der frohen Botschaft des Neuen Testaments aus.
Um nochmal auf unsere Kirchengemeinde zurückzukommen: Von uns wird viel erwartet, und wir selbst sollten auch viel von uns erwarten. Wir sollten unsere Standards hochhalten und unser Bestes geben, sie zu erfüllen. Natürlich werden wir - auch beim besten Willen - immer hinter unseren guten Absichten zurückbleiben und nur unvollkommen das verwirklichen, was wir für gut und richtig erkannt haben. Aber das Versagen, das Scheitern wird uns ja nachgesehen, und wir dürfen immer wieder einen neuen Anfang machen.
Wir werden nachher das Abendmahl feiern. Da stehen wir dann im Kreis als diejenigen, die unvollkommen und fehlerhaft sind und die dennoch geliebt und angenommen sind. Wir stehen dann im Kreis um denjenigen herum, der uns trotz all unserer Unvollkommenheiten für wert befunden hat, sich bis zur Hingabe seines Lebens für uns einzusetzen. Wir nehmen ihn, Jesus Christus, in der Gestalt von Brot und Wein in uns auf, weil er selbst uns mit seiner Kraft stärken möchte aus unserem Inneren heraus.
Manchmal sagen wir, wenn jemand des Öfteren etwas Gemeines sagt oder tut: „In dem steckt wohl ein kleines Teufelchen.“ Der kleine Teufel steckt vielleicht in jedem von uns irgendwo. Aber von dem dürfen wir uns nicht regieren lassen. Es ist doch besser, wir haben jemand anderen in uns, der unser Verhalten bestimmt. Und den eben nehmen wir zeichenhaft durch das Brot und den Wein des Abendmahls in uns auf.
Es kommen also in einer Kirchengemeinde zwei Dinge zusammen: zum einen ein hoher Anspruch an das Verhalten der ihr zugehörigen Menschen und zum anderen das Vertrauen, sich trotz aller menschlichen Unvollkommenheiten hohe Ziele setzen zu dürfen und zu sollen und bei Versagen immer wieder einen neuen Versuch machen zu dürfen. „Seid allezeit zur Verantwortung bereit“, heißt es auch in unserem Predigttext. Jedem sei Dank, der mit guten Zielen und mit Mut und Vertrauen Verantwortung für unsere menschliche Gemeinschaft übernimmt.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. Juli 2000)