Als Erwachsener Christus entdecken
6. Sonntag nach Trinitatis
10. Juli 1994
Apostelgeschichte 8,26-39
Dies ist eine Happy-end-Geschichte, wie wir sie uns für die Kirche nur wünschen können. Ein ausgewachsener Mann, gebildet, wohlhabend, mächtig, in bester Stellung - er ist Finanzminister der Königin von Äthiopien - ein solcher ausgewachsener Mann lässt sich taufen. Erwachsenentaufen sind bei uns nicht sehr verbreitet. Ich habe in meinen Dienstjahren einige Erwachsene getauft, aber die könnte ich an meinen beiden Händen abzählen. Auch bei den Baptisten, dieser religiösen Gemeinschaft, die dafür bekannt ist, dass sie nur Erwachsene tauft, oder besser gesagt: Religionsmündige ab 14 Jahren - auch bei den Baptisten kommen solche Taufen nicht oft vor. Die Baptistengemeinde in der Grindelallee beispielsweise hat ohnehin nur ca. 300 Mitglieder. Es gibt Jahre, in denen dort auch mal gar nicht getauft wird.
Wie kommt es in unserer Happy-end-Geschichte zur Erwachsenentaufe? Da gibt es zunächst einmal in der Person des späteren Täuflings eine sehr günstige Voraussetzung: Der Mann ist religiös interessiert. Er hat einen Hang zur Religion, zur jüdischen Religion. Wir wissen nicht warum. Vielleicht hat er dieses Interesse in seiner Kindheit von seinen Eltern übernommen. Vielleicht hat er mal eine angenehme Bekanntschaft mit Juden gemacht, vielleicht hat er mal eine nette Jüdin kennengelernt - so etwas hilft, solche persönlichen Begegnungen können einen nachhaltigen Einfluss ausüben.
Jedenfalls ist dieser Mann nicht in die jüdische Religionsgemeinschaft hineingeboren. Er ist ein von außen kommender Interessierter. Und sein Interesse ist ernsthafter Natur. Das können wir an dem erkennen, was er tut: Er tritt eine lange Reise an - von Äthiopien nach Israel. Dort will er im Tempel von Jerusalem beten. Seinem beruflichen Stand entsprechend unternimmt er die Reise mit einer Kutsche. In Jerusalem, nach dem Tempelbesuch, kauft er sich eine Schriftrolle mit einem Text aus dem Propheten Jesaja. Auch der Kauf dieser Schriftrolle unterstreicht sein religiöses Interesse. Wir sehen, der Mann will sich gezielt weiterbilden auf dem religiösen Sektor. Er ist wissbegierig - vielleicht sollten wir besser sagen: Er ist auf der Suche. Denn diesen Eindruck vermittelt uns doch der Text, dass dieser Mann nicht nur ein akademisches Interesse an den religiösen Dingen hat. Er kauft sich die Schriftrolle nicht, wie man sich z. B. einen Reiseführer kauft. Der Mann ist auf der Suche nach etwas, das für sein Leben wichtig ist. Was kann das sein?
Der Mann ist gebildet und wohlhabend und mächtig - was sucht er noch? Vielleicht fragt er sich nach dem Sinn seines Leben. Bildung, Geld und Macht - das ist ja noch nicht alles. Vielleicht fehlt ihm etwas im persönlichen Bereich. Vielleicht ist er aber auch einfach empfindsam für die religiöse Dimension des Lebens: dass das Leben ein Wunder ist, dass es gar nicht selbstverständlich ist, dass wir leben, dass wir zu essen und zu trinken haben, dass wir arbeiten und dass wir uns weiterbilden können. Vielleicht sind Gefühle der Dankbarkeit sein leitendes Motiv.
Vielleicht machen ihm aber auch die Probleme des Lebens zu schaffen, die Not, die materielle Not, unter der er zwar nicht selbst zu leiden hat, die er um sich herum aber mehr als genug wahrnehmen kann. Vielleicht hat er durch eine Krankheit gemerkt, dass das Leben, dass das Wohlbefinden immer am seidenen Faden hängt. Vielleicht machen ihm auch zwischenmenschliche Probleme zu schaffen, die Erfahrung, dass es so schwer ist, selbst bei gutem Willen, mit anderen auszukommen. Und vielleicht fühlt er sich auch als Außenseiter - Eunuch soll er sein. Vielleicht fühlt er sich - trotz seiner gesellschaftlichen Position - gering geachtet oder wegen seiner Position beneidet und von Missgunst umgeben. Oder vielleicht belastet ihn auch einfach die Verantwortung seines hohen Amtes.
Also, wir können uns viele Probleme ausdenken, die einen Menschen dazu bringen können, über das Leben nachzudenken und zu fragen: Wo ist die Lösung? Wie kann ich das alles auf die Reihe bringen? Wie kann ich zur Ruhe kommen? Wie kann ich meinen Frieden finden? Oder auch: Wie kann ich meiner Aufgabe als Mensch gerecht werden?
Unser Mann aus Äthiopien macht sich also auf den Rückweg. Er sitzt auf seiner Kutsche und liest in der Schriftrolle den Text aus dem Propheten Jesaja. Da trifft er auf einen Wanderer am Weg. Der fragt ihn: „Verstehst du, was du da liest?“ Unser Mann antwortet ohne Scham: „Nein, ohne Anleitung kann ich diesen Text nicht verstehen.“ Er muss diese Begegnung mit dem Wanderer wie eine höhere Fügung empfinden. Er lädt den Fremden in seinen Wagen ein in der wagen Ahnung, da könnte ihm Hilfe zuteil werden.
Der, den er da aufgeladen hat, ist Philippus, einer der Jünger Jesu. Diese Begegnung mit Philippus soll nun für den Äthiopier die Wende seines Lebens bringen. Die beiden lesen gemeinsam in der Schriftrolle. Es geht darin gerade um die Stelle, die von dem leidenden Gottesknecht handelt.
Sie haben diese Stelle vielleicht noch nicht selbst gelesen. Es lohnt sich, da einmal nachzuschlagen. Lesen Sie ruhig einmal zuhause beim Propheten Jesaja Kapitel 53 und vielleicht noch die Kapitel drum herum. Sie werden eine erstaunliche Entdeckung machen, eine Entdeckung, die der Äthiopier selbst noch nicht machen konnte.
In dem alttestamentlichen Prophetentext ist die Rede von einem Mann, dessen Beschreibung auf einen anderen passt, den wir aus dem Neuen Testament kennen: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Und weiter: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.“ Dies sind Worte aus dem Propheten Jesaja. Und auf wen passt diese Beschreibung? Philippus sagt es dem reisenden Äthiopier: Der Mensch, der da in der Schriftrolle beschrieben wird, der ist gekommen - in der Gestalt Jesus von Nazareth.
„Ich habe ihn erlebt“, kann Philippus dem erstaunten Äthiopier sagen. Philippus berichtet von seinen Erfahrungen mit Jesus und stellt den Zusammenhang her zu demjenigen, der in der Prophetenschrift vorhergesagt wird.
Die Auslegung beeindruckt den Äthiopier zutiefst. Wir wissen wiederum nicht, was für ihn das Beeindruckende war. Vielleicht empfindet er das stellvertretende Leiden Jesu auch für sich persönlich als eine befreiende Botschaft. Vielleicht erkennt er darin die große Menschlichkeit Gottes. Vielleicht war es ihm bisher ein Problem gewesen, dass Krankheit, Not und Elend als Strafen Gottes ausgelegt worden waren. Und vielleicht empfindet er die Auslegung nun wie eine Erlösung, dass Gott den Kranken und Leidenden in dem mitleidenden Christus gerade besonders nahe ist, dass Krankheit und Not nicht Strafen Gottes sind, sondern Herausforderungen zur Liebe, zum Beistand, zum mitmenschlichen Engagement.
Der Äthiopier ist jedenfalls von der Auslegung des Philippus beeindruckt. Er möchte nun zu denen gehören, die in Jesus von Nazareth denjenigen erkannt haben, der die befreiende Botschaft verkörpert hat. Er möchte zur Gemeinschaft der Christgläubigen gehören. Der Einstieg in diese Gemeinschaft geht über die Taufe als Zeichen des Neubeginns, der Vergebung, der Liebe Gottes.
Als der Wagen wie zufällig an einem Gewässer vorbeikommt, sagt der Äthiopier: „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Der Wagen hält, die beiden steigen ins Wasser, und Philippus tauft unseren Mann. Dann entschwindet Philippus und der Äthiopier reist fröhlich weiter.
Dies ist eine Happy-end-Geschichte. Da hat jemand gesucht und gefunden. Für den Äthiopier war das ein beglückendes Erlebnis; denn er hat etwas von Jesus Christus erfahren, von der Liebe Gottes zu den Menschen, von der Hinwendung Gottes zu den Leidenden. Vielleicht hat er darin den Sinn des Lebens neu entdeckt - in der Menschlichkeit Gottes als Trost für die Schwachen und als Auftrag für die Starken.
Für Philippus wird das Erlebnis beglückend gewesen sein, weil man nicht jeden Tag einem religiös so interessierten Menschen begegnet wie dem Äthiopier, der ernsthaft Fragen stellt, der selbst in der Schrift liest, der zuhört und schließlich auch versteht, was über Jesus als den Christus zu sagen ist.
Eine Happy-end-Geschichte also, wie wir sie uns nur wünschen können. Ich meine, sie ereignet sich durchaus immer wieder - nicht so sehr in der Weise, dass sich Erwachsene taufen ließen, aber doch so, dass sich denkende Menschen den christlichen Inhalten öffnen, dass sie die Bedeutung und den Wert dessen verstehen, was uns die christliche Botschaft zu geben hat. Dass es dann nicht immer zur Taufe kommt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die meisten Erwachsenen ohnehin schon getauft sind. Aber es kann zu einem Engagement kommen - in dieser Form oder jener, einem Engagement für Mitmenschen, einem Engagement in der Kirche oder einfach zu einem wohlwollenden Verhalten gegenüber dem, was der christliche Glaube und die Kirche darstellen.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 10. Juli 1994)