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Altjahrsabend (31.12.18)


Umkehren, stille sein und hoffen?!

31. Dezember 1992

Altjahrsabend 

Jesaja 30,15


In einem der drei Wagendörfer in Berlin sitzt ein armseliger, schon älterer Mann in seinem ihm als Unterkunft dienenden Bauwagen und wird über seine Lebenssituation befragt. "Warum trinkst du denn so viel Alkohol?“, fragt ihn die Reporterin. "Um nicht nachdenken zu müssen“, antwortet er. 

"Um nicht nachdenken zu müssen." Wenn man ins Grübeln kommt, kann das Leben schwer werden - und schwer erträglich. 

Gerade zum Jahresende hin - ab November - wächst der Druck zum Nachdenken. Die dunkle Jahreszeit richtet den Blick nach innen. Und mit der dunklen Jahreszeit verbünden sich die kirchlichen Feiertage: Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag. Gegen Heiligabend erreicht die Besinnlichkeit einen emotionalen Höhepunkt. Und dann kommt noch der Jahresabschluss mit den vielen Rückblicken auf das zu Ende gehende Jahr. 

Zwei meiner früheren Kollegen - der eine ist bereits im Ruhestand - ist das Belastende des Nachdenkens in ihren Weihnachtsbriefen abzuspüren.

Der eine schrieb: "Mehr noch als in den vergangenen Jahren empfinde ich die Gestaltung der Weihnachtsgottesdienste als schwierig. Zwar hat es noch nie wirklich "Frieden auf Erden" gegeben; aber in diesem Jahr scheint mir die Spannung zwischen der Wirklichkeit und der Botschaft der Christen so besonders krass; ich brauche niemandem Beispiele zu nennen. Was sollen wir tun?", fragt er. "Für eine Stunde die Wirklichkeit ausblenden und den 'Frieden der Herzen' beschwören? Die vielen Aufrufe zum Frieden um einen weiteren - eigenen - vermehren? Zum Frieden im eigenen Bereich mahnen, wenn global schon nichts zu machen ist? Einfach die Weihnachtsgeschichte vorlesen in der Hoffnung, dass sie von selbst wirkt? Und was ist mit denen, die trotz Mölln, Sarajewo und Somalia sagen - und das doch auch mit Recht: Mein persönliches Problem liegt mir doch viel näher als alle Weltprobleme!?"

Wer ernsthaft nachdenkt, kann an den Abgrund der Ratlosigkeit geraten. Die Gefahr des inneren Absturzes kann dann heraufziehen. Gerade in diesem Jahr haben wir hinsichtlich der Weltprobleme Ohnmachtsgefühle nicht nur bei anderen erlebt, sondern auch an uns selbst gespürt.

Wir wollen dem Nachdenken nicht auszuweichen versuchen. Wir wollen auch nicht zur Flasche greifen wie der alte Mann aus dem Wagendorf, um so etwa den im Nachdenken rotierenden Verstand zu benebeln. Was aber kann uns trösten? Was kann uns helfen, wenn wir uns der Grenzen unserer eigenen Macht bewusst werden?

Hilfreich kann vielleicht ein Wort sein wie das aus dem Propheten Jesaja, das uns für diesen Gottesdienst aufgegeben ist: "Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein." Wenn wir uns selbst und anderen nicht helfen können, dann ist „Stillesein und auf Hilfe hoffen" ein vielleicht besonders schwer zu befolgender Rat. Und doch mag uns in manchen Situationen nichts anderes übrig bleiben. Stillesein und Hoffen mag in der Situation der Ohnmacht die letzte angemessene konstruktive lebensbejahende Antwort auf das nicht mehr verfügbare Schicksal sein. 

Ich habe Ihnen in diesem Sinne eine Zeichnung des 1906 in Kassel geborenen Arztes, Theologen und Malers Kurt Reuber kopiert. Er hat die Zeichnung für den Heiligen Abend 1942 angefertigt. Sie werden sie sicherlich kennen. Das Original hängt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. 

Eine Mutter umhüllt bergend ihr Kind. Beide sind umhüllt vom langen Gewand der Frau. Die Geborgenheit, die die Mutter ihrem Kind schenkt, wird zugleich Mutter und Kind zuteil durch einen umfassenderen Schutz, der beide umschließt. Ein zutiefst menschliches Bild, ein Bild der Ruhe, ein Bild der Liebe, der Geborgenheit, der Innigkeit, des Friedens. "Licht, Leben, Frieden" hat Kurt Reuber an den Rand geschrieben. Er hat dabei an die Botschaft des Johannesevangeliums gedacht.

Dieses Bild hat Kurt Reuber für den Heiligabend 1942 gezeichnet - als Trost und Hoffnung für seine Kameraden, die mit ihm eingeschlossen waren im Kessel von Stalingrad.

Der Name Stalingrad steht für die schrecklichste Schlacht des 2. Weltkriegs, für die furchtbaren Folgen von Nationalismus und Rassismus. Von über 250 000 deutschen Soldaten kehrten nur 6000 in die Heimat zurück. Hunderttausende deutscher und russischer Soldaten - und nicht nur Soldaten - verloren ihr Leben und viele mehr verloren ihre Gesundheit, verloren ihre Angehörigen, ihr Hab und Gut. Und viele verloren ihren Glauben, wie ein Soldat nach Hause schrieb: "... in Stalingrad die Frage nach Gott stellen, heißt, sie verneinen ... Vom Himmel kamen Bomben und Feuer, nur Gott war nicht da. Nein, Vater, es gibt keinen Gott." Im November 1942 werden die deutschen Truppen von der Roten Armee eingekesselt. Ein Entrinnen ist nicht mehr möglich.

In einem Erdbunker auf engstem Raum, unterbrochen von Angriffen inmitten des Kessels von Stalingrad, malte Kurt Reuber auf die Rückseite einer russischen Landkarte mit einem Kohlestift diese Frau mit Kind. Wollte er mit diesem Bild die ihn und seine Kameraden umgebenden Schrecken für einen Augenblick ausblenden? Ganz gewiss nicht. Die Schrecken des Kessels sind in diesem Bild enthalten, freilich in verwandelter Form. Kurt Reuber hat die Realität mit dem Herzen abfotographiert, das Negativ hat er dann im übertragenen Sinn in ein Positiv verwandelt. Die Schrecken des Kessels - Angst und Hunger und Kälte und Hass - hat er verwandelt in ein Gegenbild von Liebe und Geborgenheit. 

Umschlossen waren er und seine Kameraden von einer Maschinerie des Todes. Auf dem Bild verwandelt er die Zange des Todes in einen bergenden, schützenden Umhang. Während im Kessel die inzwischen zu Tode verängstigten, halberfrorenen und verhungerten Soldaten einer imperialen Großmacht gefangen sitzen, sehen wir im Mantel Mutter und Kind inneren Frieden ausstrahlend. Nicht todbringende Waffen sind auf die beiden gerichtet, sondern das Licht des Lebens und der Liebe bescheint sie.

Es ist ein Weihnachtsbild. Maria mit ihrem Kind in einer feindseligen Welt, aber doch geborgen in der Liebe Gottes. Der Stall, der armselige Ort der Geborgenheit, ist hier der Mantel. Er umhüllt schützend Mutter und Kind. Und wie der Stall angestrahlt wird vom Stern zu Bethlehem, so wird der Mantel angestrahlt vom Licht Gottes. 

In diesem Bild begegnet uns beides: Die Sehnsucht der geschundenen Kreatur Mensch nach Sicherheit, nach Ruhe, nach Frieden, nach Liebe. Und zugleich die Weihnachtsbotschaft: das uns in dem Geschehen von Bethlehem zuteilgewordene Geschenk der Geborgenheit und des Friedens.

Das Bild von Kurt Reuber hat die Weihnachtsbotschaft in den Kessel von Stalingrad hineingetragen. Auf das Übermaß des Schreckens antwortet dieses Bild mit einem Höchstmaß an Liebe. Dies eben ist das Befreiende, das Erlösende und das Hoffnung Schenkende der christlichen Botschaft: Die göttliche Liebe geht nicht unter im Teufelskreis von Gewalt und Gegenwalt, von Hass und Zerstörungswut. Sie bleibt uns erhalten auch in den größten Schrecken des Todes. 

Gott ließ das Christkind geboren werden in einer Welt der Zerstörung, in einem Volk, das von einer Großmacht beherrscht wurde, in einer Welt, in der Kriege geführt wurden, in der getötet, unterdrückt, in der gekreuzigt wurde. Das Christkind war schon vor der Geburt und auch gleich nach der Geburt vom Tode bedroht. Aber es wurde zum kleinen Licht in der großen Finsternis. Zum Zeichen der Hoffnung, des Trostes. 

Es ist für uns alle ein großes Geschenk, dass Kurt Reuber dieses Bild gemalt hat in einer Situation größter Not, größter Bedrohung, größter menschlicher Niedrigkeit und Schuld. Er hat damit gezeigt, dass die christliche Botschaft eine Kraft hat auch in einer solchen Extremsituation.

Wir persönlich leben nicht in einer solchen Extremsituation. Aber wenn wir dieses Jahr bedenken, das wieder angefüllt war mit mehr als fünfzig Kriegen, mit Millionen von Hungertoten, mit unendlich großem und zahllosem kleinen Leid und wir einmal mehr und in diesem Jahr vielleicht besonders nachrücklich eine große Ohnmacht gespürt haben gegenüber diesem Elend der Welt und uns fragen: "Wie können wir das ertragen, wie können wir damit zurechtkommen?", dann mag uns dieses Bild von Kurt Reuber eine Hilfe sein. Kurt Reuber und seine Kameraden waren so ohnmächtig wie Menschen nur ohnmächtig sein können. Die Botschaft dieses Bildes aber vermittelt dennoch eine große Kraft, Lebenssinn, Trost und Hoffnung. 

Viele Menschen haben gegen Ende des Jahres Kerzen angezündet, um mit dem Licht dem Hass entgegenzutreten. Sie haben damit auf ihre Art in angemessener Weise der Weihnachtsbotschaft Ausdruck gegeben. 

Wir dürfen nicht in Ohnmachtsgefühlen versinken, wir dürfen nicht wegschauen, wir dürfen das Nachdenken nicht mit Alkohol und Drogen zu verhindern versuchen. Hilfreicher ist es, bei der Betrachtung des vergangenen Jahres und mit Blick auf das neue das Bild der Stalingad-Madonna vor uns hinzustellen mit einer Kerze rechts daneben und dieses Bild zu meditieren mit dem Jesajawort im Herzen: "Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein." Das sei uns hiermit anempfohlen. 

Im Angesicht dieses Bildes werden uns neben allem Elend auch die vielen Situationen der Bewahrung, des Schutzes, der Freude einfallen, und vielleicht können wir dann sagen, was Kurt Reuber in einem Brief heute vor fünfzig Jahren, am 31. Dezember 1942, kurz vor dem Ende in Stalingrad schrieb: "...dass ich in allem unendlich dankbar bin für alles, womit mich dieses seltsame Jahr gesegnet hat. Das ist wirklich wahr.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. Dezember 1992

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