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Exaudi (13.5.18)


Aus dem Herzen heraus tun, was gut ist

15. Mai 1988

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Jeremia 31,31-34 


Ich weiß nicht, wie das Wetter im Mai 1945 gewesen ist – hier in Hamburg.  Einige von Ihnen wissen es und werden sich erinnern. Ich stelle mir vor, dass da auch mal an einem Tag die Sonne geschienen hat – so schön wie heute – und dass da unter dem strahlend blauen Himmel einer vor einem großen Trümmerhaufen saß, nachdenklich, die Trümmer betrachtend und die bunten Blumen, die aus den Gesteinsbrocken heraus ihre Blüten dem hellen Sonnenlicht entgegenstreckten.

Schauen wir in diesen nachdenklichen Betrachter hinein, in seine Gedanken, seine Gefühle, sein Herz: Wir sehen das Ringen in seinem Inneren, die Trauer beim Anblick der Trümmer und die Freude beim Anblick der Blumen. Die Scham über das menschliche Zerstörungswerk und das Staunen über die neue Schöpfung Gottes. Die Trümmer klagen den Menschen an, die Blumen sind wie Boten der Vergebung.

Welch sonderbares Wesen ist der Mensch – erschreckend seine Macht, millionenfach zu töten, erschütternd der Beweis des Machtmissbrauchs! Die Steine klagen an als stumme Zeugen. Weiß denn der Mensch nicht, was gut ist und was böse? „Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht falsch Zeugnis reden! Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“

An Wissen fehlte es nicht. Doch Gebote und Gesetze und Gewissen, Moral und Recht – sie konnten ihr gutes Werk nicht verrichten, sie wurden missachtet, verdreht und missbraucht, in ihr Gegenteil verkehrt. Am Wollen mag es gefehlt haben und am Können, an der Kraft, das Gute zu wollen und das Gewollte zu tun, zu tun, was wir tun sollen.

Der Mensch ist zum Verzweifeln – ein hoffnungsloser Fall? Grenzenloser Verachtung wert – oder trotzdem liebenswert? Ist dem Menschen zu helfen? Ist er der Hilfe wert?

Der Betrachter schaut auf die Trümmer, er schaut auf die Blumen, er schaut hinauf zum Himmel, der mit strahlendem Blau die Werke des Todes und die Schöpfung neuen Lebens umfasst.

Vielleicht hatte so wie unser Betrachter auch Jeremia vor zweitausendsechshundert Jahren dagesessen vor den Ruinen eines Heiligtums im Norden Israels, hin- und hergerissen in seinem Innersten zwischen Zorn und Verzweiflung, Verbitterung und Trauer über die Verstocktheit und Böswilligkeit des eigenen Volkes einerseits und der Sehnsucht und Hoffnung auf eine neue Zukunft mit einem umkehrbereiten Volk andererseits. Jeremia hatte sehr traurige Erfahrungen gemacht und war nicht gut auf sein eigenes Volk zu sprechen gewesen.

Und doch sind diese wunderbaren hoffnungsvollen Worte in ihm gewachsen: „Siehe, es kommt die Zeit ...“ Schon diese einleitenden Worte lassen Hoffnungsvolles erwarten – Visionäres, Bilder einer Zukunft, die die gegenwärtige Realität und die bisherige Erfahrung weit hinter sich lassen: Eines Tages werden unsere Wünsche in Erfüllung gehen, werden unsere Sehnsüchte Wirklichkeit werden, werden wir zur Ruhe kommen, wird sein, was wir jetzt kaum zu hoffen wagen. Eines Tages, in einer noch nicht absehbaren Zukunft, aber die Zeit wird kommen, da wird Gott mit Israel und Juda einen neuen Bund schließen, einen neuen Bund, der anders sein wird als der alte. Es wird nicht mehr heißen: Ich bin dein Gott, ich habe dich aus Ägypten befreit, und du, Volk Israel, sollst meinen Willen tun: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen. Du sollst den Feiertag heiligen. Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Sollst nicht stehlen. Du sollst deinen Mitmenschen nicht verleumden. Du sollst nicht begehren ...

Das war der alte Bund: Die Forderung Gottes an das Volk Israel, der Anspruch Gottes an den Menschen, ein hoher Anspruch, der mit Nachdruck anzusprechen und mit Versprechungen und Drohungen zu versehen war, ein Anspruch, dem die Israeliten nicht gewachsen waren und dem der Mensch schlechthin nicht gewachsen ist.

Die einst auf steinernen Tafeln geschriebenen Forderungen Gottes an den Menschen sind gewiss von fast jedem, der sie seitdem gelesen und gehört hat, bejaht worden. Wir können ihnen nur unsere Zustimmung geben: „Ja, so soll der Mensch sein; das soll er tun.“ Und doch treten sie wie etwas Fremdes an uns heran.

Das Gesetz, die Moral, das Recht, der ethische Anspruch – wer würde nicht sagen: „Ja, das muss sein, in Ordnung!“ Und doch, wer würde nicht zugleich in Deckung gehen?! Der direkt an uns gerichteten Forderung halten wir nicht stand. Sie offenbart unsere ethische Schwäche. Wir sind nicht so, wie wir sein sollen. Wir tun nicht, was uns zu tun aufgetragen ist. In dem alten Bund Gottes sind wir keine ebenbürtigen Partner. Der fordernde Gott ist ein fremder Gott, dem wir nur mit schlechtem Gewissen gegenübertreten könnten. Er hat ja recht. Und wir sind unausweichlich immer wieder im Unrecht.

„Ich will einen neuen Bund mit ihnen schließen: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben.“ Das wird der Neue Bund sein: Nicht mehr auf steinernen Tafeln wird dem Menschen vorgehalten, wie er sein soll. Sondern aus seinem Innersten heraus, aus eigenem Antrieb, wird er tun, was recht und gut ist. Niemand wird dem anderen mehr sagen müssen, wie er sich zu verhalten hat. Jeder wird es aus sich heraus wissen und wird es tun. Eine visionäre Vorstellung, dieser neue Bund. Von einem neuen Menschen ist die Rede, in dem das Sollen und das Wollen und das Können zusammenkommen. Ein neuer Mensch, eine neue Schöpfung Gottes. „Ich will das Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben“, spricht Gott, der Herr.

Welch großartige Vision, niedergeschrieben vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren! Wie kam Jeremia dazu, entgegen aller Lebenserfahrung und aller geschichtlichen Erfahrung dieses Bild vom zukünftigen Menschen zu entwerfen? Vielleicht ließ er sich die bunten Blüten der Blumen in den Trümmern des Heiligtums ein Fingerzeig dafür sein, dass Gott seine Schöpfung „Mensch“ nicht auf Dauer in den selbstzerstörerischen Kräften würde gefangen sein lassen. So, wie er das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt hat, so würde er den Menschen eines Tages aus seiner inneren Gefangenschaft herausführen, aus den Zwängen, das Unrechte zu tun, selbst wenn es als solches erkannt und im Grunde nicht gewollt ist.

Ist in den zweieinhalb Jahrtausenden die Vision des Jeremia Wirklichkeit geworden? Der Mensch ist in dieser langen Zeit hinsichtlich seiner ethischen Qualität wohl der Gleiche geblieben. Im Konkreten hat er in immer erschreckenderer Weise unter Beweis gestellt, dass er den damals auf Stein geschrieben Ansprüchen nicht gewachsen ist.

Als Christen glauben wir allerdings daran, dass in Jesus der Mensch Wirklichkeit geworden ist, den Jeremia als den Menschen des neuen Bundes schildert. Jesus war das Gesetz Gottes in Herz und Sinn geschrieben. Er tat von innen heraus, wozu wir alle berufen sind. Er verkörperte den Willen Gottes. Er blieb, wie wir sagen, ohne Sünde.

In Jesus ist der neue Bund Gottes mit den Menschen stellvertretend für uns alle in Erfüllung gegangen. Wir können nicht sein wie Jesus, aber es hat sich mit ihm doch auch für uns etwas geändert. Denn auch für uns gilt nun der neue Bund. Zwar ist uns das Gesetz noch nicht ins Herz geschrieben. Wir sind noch nicht die neuen Menschen, die aus sich heraus aus freien Stücken tun, was gut und recht ist. Aber wir sehen nun die Gebote Gottes auch nicht mehr nur als Forderungen an uns gerichtet. Sie sind für uns nun eher Hinweise, Hilfestellungen, die wir in voller Mündigkeit zu unserem Wohl ergreifen können. Wir können es auch lassen zu unserem eigenen Schaden.

Wir können die ehemaligen Forderungen Gottes auch weiter wie gesetzlich Forderungen verwenden, wir tun es auch, nämlich untereinander, aber nun als unsere menschliche Ordnung, mit der wir uns gegenseitig zu zähmen und eine lebenserhaltende Ordnung aufrechtzuerhalten versuchen. Aber in unserem Gottesverhältnis sind wir nun freie mündige Menschen, vergleichbar den erwachsenen Kindern, die aus ihrer Kindheit die strenge führende Hand der Eltern kennen, aber nun selbst entscheiden, wie weit sie den von den Eltern erlernten Richtlinien folgen.

In dem neuen Bund, der für uns mit Jesus Christus begonnen hat, werden wir von Gott als reife, mündige Partner anerkannt, obwohl wir selbst bescheidener- und realistischerweise sagen müssen: „Wir haben solche Anerkennung eigentlich nicht verdient.“ Aus dem Anspruch Gottes an uns ist ein Zuspruch geworden. Den Anspruch müssen wir nun selbst an uns richten. Wenn wir scheitern, und das tun wir unausweichlich, dürfen wir uns vertrauensvoll Gott zuwenden. Seiner Vergebung dürfen wir uns gewiss sein.

Die Vision des Jeremia harrt also noch der Vollendung. Aber Jeremia hat uns mit seiner Vision doch ein Bild vom Menschen vor Augen gestellt, auf das wir nun zugehen. Er hat uns die Richtung gewiesen. Wir haben Jesus Christus als Stärkung hinter uns und als Halt bei uns. Das Menschenbild, auf das wir zugehen, ist geprägt von einer Hoffnung, die durch alle Werke menschlicher Zerstörung hindurch an den Glauben an Gottes Liebe zu seiner Schöpfung „Mensch“ festhält. Aus dem millionenfachen von Menschen bewirkten Tod lässt Gott neues Leben entstehen. Aus Hass lässt er neue Liebe wachsen. Die Auferstehung Jesu Christi ist das ausdrucksstärkste Bild für diesen Glauben.

Ich möchte schließen mit dem Bild, das der jüdische Schriftsteller und Theologe Schalom Ben-Chorin in Anlehnung an Jeremia benutzt hat. Es passt zu unserem Bild von den Trümmern und den daraus wachsenden Blumen. Es sind die Worte seines Liedes: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütenzweig leicht im Winde weht. Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 15. Mai 1988)

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