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3. Sonntag nach Trinitatis (7.7.19)


Sich eines Besseren besinnen

3. Sonntag nach Trinitatis

27. Juni 2004

1. Timotheus 1,12-17


„Umkehr“ ist das Stichwort des heutigen Tages. Von zwei Personen, die eine Kehrtwende in ihrem Leben vollzogen haben, war schon in den Lesungen die Rede: vom „Verlorenen Sohn“ und von Paulus. Der Sohn hatte mit dem vorzeitig ausgezahlten Erbe sein Elternhaus verlassen, um die Welt zu entdecken. Er scheiterte dann an den harten Realitäten des Alltags, weil er sich nicht ernsthaft genug auf sie eingestellt hatte. Er dachte zunächst an seinen Spaß, und dann fehlten ihm die Reserven für den Ernstfall. Hilfesuchend kehrte er in sein Elternhaus zurück. 

Bei Paulus lag die Situation anders. Paulus, ursprünglich Saulus, vollzog eine geistige Wende. Als überzeugter Jude verfolgte er die ersten Christen. Dann hatte er sein Bekehrungserlebnis. Von da an wurde er zum engagiertesten Missionar des christlichen Glaubens. 

Zwei Menschen, zwei Lebenswege, zweimal eine radikale Kehrtwende. Zweimal die Einsicht, den falschen Weg gegangen zu sein. Und zweimal eine Korrektur und ein Neuanfang in der Hoffnung und dann Gewissheit, neu anfangen zu dürfen. 

Dies Letzte möchte ich jetzt unterstreichen. Es ist nicht immer leicht, einen Fehler, einen Irrtum, einen Irrweg einzusehen, einzugestehen und umzukehren. Da steht oftmals der Stolz im Weg oder die Scham, Scham vor sich selbst, Angst vor den Lästereien der anderen. Manch einer geht den Irrweg lieber weiter bis zum bitteren Ende, manchmal bis zur Selbstzerstörung und Zerstörung anderer, als umzukehren und zu korrigieren, was noch zu korrigieren ist. 

Das Thema Umkehr war nicht nur ein Thema des „Verlorenen Sohns“ und von Paulus. Es ist unser aller Thema. Es ist ein allgemein menschliches Thema, eines, das enorm belasten kann und zu den allergrößten Problemen führen kann. Es ist deshalb auch ein Thema des christlichen Glaubens. Dieser bietet uns Hilfe und Erleichterung und Entlastung und einen Ausweg an. 

Die christliche Antwort auf unsere Irrtümer, Irrwege, Fehleinschätzungen, Verfehlungen ist die Barmherzigkeit. Sie entspringt der Einsicht, dass das Leben wirklich nicht so einfach ist und wir mit dem Leben vielfach überfordert sind. Und sie entspringt der Liebe zum Menschen. Der Mensch soll immer wieder neu die Chance haben, die Herausforderung des ihm von Gott geschenkten Lebens anzunehmen, sofern er denn zum Bekenntnis seiner Fehler und zur Korrektur bereit ist. 

Der „Verlorene Sohn“ sieht ein, dass er einen unklugen Weg gegangen ist, und Paulus sieht ein, dass er den Glauben der ersten Christen fehlinterpretiert hat. Beide wünschen sich einen Neuanfang und beide nehmen das Angebot eines Neuanfangs an. 

Wie es mit dem „Verlorenen Sohn“ weitergegangen ist, wissen wir nicht. Wie es mit Paulus weitergegangen ist, können wir in seinen Briefen nachlesen. Seinen Briefen können wir entnehmen, wie sehr Paulus davon überzeugt war, dass wir alle von der Barmherzigkeit, von der Vergebung und der Chance zum Neuanfang leben. 

Wir sind auf Vergebung angewiesen - das folgt aus der Einsicht in unsere menschlichen Grenzen. Die Vergebung ist ein dauerhaftes Angebot Gottes an uns - das ist die Botschaft des Wirkens Jesu, die Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Diese Botschaft, dass wir aus der Gnade heraus leben, entfaltet Paulus in vielfältiger Weise. 

Hinter der Gnade steht die Liebe, die letztlich nicht hinterfragbare, nicht begründbare Liebe. Die Liebe, die darauf aus ist, Schwächen auszugleichen, Fehler zu korrigieren, Wunden zu heilen und das Leben immer wieder neu zu schenken. 

Paulus spricht bezüglich seiner früheren Einstellung zu den Christen von Sünde. Das ist vielleicht eher missverständlich. Es ist vielleicht auch missverständlich, den Weg des „Verlorenen Sohnes“ als Sünde zu beschreiben. 

Was den Glauben, das Gottes-, das Welt- und Menschenbild anbetrifft, so gibt es verschiedene Möglichkeiten, die alle nur Versuche sind, auf unbeantwortbare Fragen vorläufige Antworten zu geben. Wenn wir zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist es gut und wichtig, einander in den Unterschiedlichkeiten zu respektieren und nicht mit Begriffen wie Sünde ein abweichendes Konzept herabzusetzen. 

Was die Entdecker- und Abenteuerlust des „Verlorenen Sohnes“ angeht, so hat auch sie ihr Recht. Wie der Volksmund sagt: „Aus Fehlern lernen wir.“ Auch Fehler haben ihren konstruktiven Sinn. Auch der wissenschaftliche Fortschritt beruht zu einem erheblichen Teil auf „trial and error“, wie die Anglikaner sagen, auf Versuch und Irrtum. Wir wären Gott selbst, wenn wir von vornherein alles richtig machen würden. 

Jeder Mensch muss das Leben wieder neu entdecken. Auch wenn es schon Menschheitserfahrungen gibt, braucht doch jeder neugeborene Mensch Zeit zu lernen, Erfahrungen zu machen und schließlich auf die Erfahrungen anderer und früherer Generationen zurückgreifen zu können. Und wenn wir gerade ein bisschen begriffen haben, ist das Leben schon wieder vorbei. 

Barmherzigkeit, Vergebung, Liebe, Hilfestellungen in vielfacher Hinsicht - das alles brauchen wir, um mit dem Leben einigermaßen zurechtzukommen. Das alles ist uns zugesagt - das ist Teil der christlichen frohen Botschaft. Es ist zugleich der Auftrag an uns, dass wir einander das gewähren, worauf wir alle selbst so dringend und unausweichlich angewiesen sind. 

Es ist gut und wichtig, dass diese Botschaft immer wieder und allenthalben verkündigt und gestaltet und erfahrbar gemacht wird. Dazu ist Kirche hilfreich. Wenn von manchen der Sinn und Zweck von Kirche auch hinterfragt wird und manche meinen, es ginge auch ohne Kirche oder mit weniger Kirchen, bleibt doch die Frage, wo denn diese existentielle Befindlichkeit des Menschen - dass er angewiesen ist auf Gnade und Barmherzigkeit - aufgegriffen und thematisiert wird und Hilfe angeboten wird. 

Wie einer sagte: „Man kann ggf. auch zum Therapeuten gehen.“ Das ist wohl wahr. Das eine schließt das andere nicht aus. Die Frage ist aber, ob es für unsere Gesellschaft nicht seelisch und körperlich gesund und heilsam sein kann, wieder viel stärker auf das Angebot der Kirche zurückzugreifen, das Angebot des christlichen Glaubens mit seinem mutmachenden und stärkenden liebevollen Ja zum Leben und zum Menschen. 

Der christliche Glaube könnte in unserer Gesellschaft noch viel mehr Gutes bewirken, wenn er denn mehr beachtet und stärker in Anspruch genommen und gelebt würde. Er ist wirklich eine Quelle der Lebenskraft, der Lebensfreude, der Zuversicht und Hoffnung, der Versöhnung und des Friedens. 

Es ist deshalb so wichtig, dass Kirchen erhalten bleiben, dass der Weg nicht so weit ist, da hin, wo der Schatz des Lebens aufbewahrt ist und wo die geistlichen Lebensmittel immer wieder neu und frisch für den täglichen Gebrauch angeboten werden. 

Umkehr ist ein Thema auch für unsere Gesellschaft. Die - in Anführungszeichen - „aufgeklärte“ Einstellung, der Mensch sei selbst klug und weise genug und bräuchte nicht jemanden über sich selbst und außerhalb seiner selbst zu befragen und zu bitten und anzuerkennen, diese - in Anführungszeichen - „aufgeklärte“ Einstellung erweist sich wohl zunehmend als Fehleinschätzung und Überschätzung des Menschen. 

Unsere menschlichen Grenzen sind unübersehbar. Wir brauchen uns unserer Begrenzungen nicht zu schämen, auch nicht unserer Irrtümer, unserer Irrwege, unseres Versagens. Wir sollten auch vor den Lästereien anderer keine Angst haben. Es wäre eher ein Zeichen menschlicher Größe, sich zu eigenen Schwächen und Fehlern und Verfehlungen zu bekennen. Wir sollten uns, wo es denn angesagt ist, zur Umkehr, zur Korrektur ermutigen lassen. 

Solche Ermutigung geht - auf wirklich sehr liebevolle Weise - vom christlichen Glauben aus - eben durch das Angebot der Barmherzigkeit und der Vergebung. Saulus hat das selbst erfahren und hat sich zum Paulus bekehrt. Er wünschte Ähnliches seinen Mitmenschen und hat sich dafür aktiv eingesetzt: „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren“, sagte er, „damit Jesus Christus an mir als Erstem alle Geduld erweise zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten.“

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 27. Juni 2004)

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