Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (18.11.18)


Hoffen und Handeln

13. November 2005

Volkstrauertag

1. Timotheus 2,1-4


Anfang der letzten Woche sah ich zwei Fotos auf meinem Schreibtisch liegen, von denen ich mir nicht erklären konnte, wie sie da hingekommen waren. Das eine ein älteres Schwarz-Weiß-Foto - aus der Kriegszeit musste es stammen. Ein junges Paar ist darauf zu sehen. Ich kenne die beiden nicht. Er, in Soldatenuniform, schaut sie an und hat seinen Arm liebevoll um ihre Schultern gelegt. Sie hält seine Hand und blickt ihn ebenso verliebt an. Mir ist es etwas peinlich, dass das Foto auf meinem Schreibtisch liegt. Ich muss es irgendwo versehentlich eingesteckt haben, vielleicht auf dem Basar am Vortag. Ich nehme mir eine Klarsichthülle, um das Foto hineinzutun und es mit ins Kirchenbüro zu nehmen. Vielleicht wird dort jemand danach fragen. Ich werfe noch einen Blick auf die Rückseite des Fotos. Da steht handschriftlich mit blauer Tinte: Margot und Philipp im Sommer 1943.

Ich lege das Foto in die Hülle und nehme noch das andere Foto in die Hand, ein Farbfoto. Es scheint dazuzugehören. Es zeigt eine ältere, weißhaarige Dame im Sommerkleid. Sie kniet vor einem Grabstein. Das Grab ist mit roten Rosen und anderen weißen Blumen geschmückt. Auch dieses Foto drehe ich um. Auf der Rückseite steht: Margot an Philipps letzter Ruhestätte auf der Krim im Jahr 2002. „Das ist ja bitter“, denke ich und werfe noch einmal einen Blick auf das junge verliebte Paar auf dem Schwarz-Weiß-Foto.

Etwas peinlich berührt lege ich nun auch das Farbfoto mit der älteren Dame und dem Grab in die Klarsichthülle. Ich hoffe, dass sich jemand melden wird, dem diese Fotos gehören. 

Dann räume ich weiter auf dem Schreibtisch auf und stoße auf einen Zahlschein, einen vor-ausgefüllten Überweisungsträger. Die sind häufig in der Post dabei. Es ist einer vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ein Schreiben ist angehängt. Ich kann nicht alles lesen, was mir ins Haus geschickt wird. Aber da der Volkstrauertag bevorsteht und ich zu predigen habe, lese ich doch. Da steht:

Sehr geehrter Herr Nein,

„voller Liebe waren die Briefe, die Margot Z. ihrem Verlobten Philipp im Kriegsjahr 1943 an die russische Front schrieb.“ 

„Ach, da her kommen die Fotos“, denke ich erleichtert. Das war nur Werbung. 

Aber Werbung kann man das ja eigentlich nicht nennen. Ich lese noch etwas weiter. Da steht: „,Komm gesund zurück!‘ bittet Margot in ihren Briefen immer wieder - in der Hoffnung, dass sie später, wenn der Krieg zu Ende ist, ein ganzes Leben miteinander verbringen können. Ein Leben mit glücklichen Tagen, wie sie es im letzten gemeinsamen Sommer noch erleben durften.“ 

Ich möchte jetzt doch wissen, wie es mit Margot und Philipp weitergegangen ist, und lese noch einen Absatz: „Margots Wunsch“, steht da, „geht nicht in Erfüllung. Mit dem Vermerk ,Gefallen für Großdeutschland‘ kommen ihre letzten Briefe an Philipp zurück. Am 24. November 1943 ist er nach einem Gefecht gestorben. Margots innige Worte haben ihn nicht mehr erreicht. Und niemals mehr wird sie ihm von Angesicht zu Angesicht sagen können, wie sehr sie ihn liebt. In ihr Tagebuch schreibt sie: ,Lass ihn wiederkommen, lass ihn wiederkommen ... so könnte ich schreien, schreien, bis die ganze Welt erwacht ...‘“

Manchmal möchten wir so schreien: „Schreien, bis die ganze Welt erwacht“, wenn wir z. B. an dieses unbeschreibliche Kriegselend von damals denken und dann heute die täglichen Berichte von Gewalt und Terror und Krieg in den Zeitungen lesen und auf dem Bildschirm sehen. So viel können wir gar nicht schreien, weil es einfach zu viel ist. Aber wenn wir doch mal wieder ganz persönlich angerührt sind - und dieser Bericht über Margot und Philipp hat mich angerührt - vielleicht lag es an den Fotos, dann möchte sich das Herz Luft machen und die Trauer und den Frust hinauslassen. 

Es ändert sich ja einfach nicht wirklich etwas - das ist das, was einen in Trübsal verfallen lassen könnte. Im Seniorenkreis am Mittwoch hatten wir über die christliche Hoffnung gesprochen, über die Vorstellung, dass Jesus Christus eines Tages wiederkehren würde, um sein Werk zu vollenden. Denn bei seinem ersten Auftreten auf dieser Erde hatte er sein gutes Werk nur begonnen. Die Verhältnisse in unserer Welt haben sich seitdem - zumindest äußerlich - nicht wirklich verändert, weshalb die Juden weiter auf den Messias warten. Wir warten darauf, dass er wiederkommt. Bis dahin - in dieser Zwischenzeit - leben wir von der Hoffnung. 

„Hoffentlich kommt er nicht wieder“, sagte am Mittwoch eine der älteren Damen. „Hoffentlich kommt er nicht wieder. Denn dann werden sie ihn wieder umbringen. Und dann ist die Hoffnung ganz am Ende.“

Das war bitter. Eine solche Aussage muss uns zu denken geben. Aus ihr spricht eine Wahrheit, die auf Erfahrung beruht, auf der Erfahrung, dass wir als Menschen - aufs Große und Ganze gesehen - eine ethische Verbesserung in den letzten zweitausend Jahren nicht zustande gebracht haben und eine Besserung auch nicht in Sicht ist. 

Aber - und das möchte ich jetzt unterstreichen, weil das zum Kern unseres christlichen Glaubens gehört: Unsere Hoffnung gründet sich auch nicht auf die Verbesserungsfähigkeit des Menschen. Wir hoffen auf etwas, was uns nur geschenkt werden kann. Wir hoffen auf etwas, was wir nicht selbst machen können. Wir hoffen auf ein göttliches Geschenk, darauf, dass Gott selbst unsere Welt zum Besseren verwandeln wird und uns mit Frieden und Wohlergehen für alle Menschen beschenken wird. 

Von einer solchen Hoffnung sind wir - als Christen - erfüllt. Sie ist die Kraft und der Leitfaden unseres Lebens. Denn in dieser Zwischenzeit des Wartens und Hoffens wissen wir uns dazu berufen, unser Bestes zu geben. Wir geben uns keiner Illusion über das menschlich Machbare hin, aber wir versinken auch nicht in Resignation. Wir leben nicht von der Vorstellung, dass wir den Weltfrieden machen könnten, wenn wir nur die richtigen Strukturen schaffen und genügend dringliche Appelle an alle richten. Aber wir nehmen den Auftrag an, unser Bestes zu geben, dass der Frieden erhalten bleibt und dass der Frieden geschaffen wird, dass sich Feinde versöhnen, dass Wunden geheilt werden, dass der Geist der Verständigung sich ausbreitet, dass gemahnt wird und Mut gemacht wird, den Weg des Friedens zu gehen und immer wieder neu zu beschreiten.  

So verstehen wir unseren christlichen Auftrag. Wir können ihm nachkommen, indem wir ganz praktisch tätig werden - auf vielerlei Weise. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge z. B. hat sich die Versöhnung über den Gräbern zum Ziel gesetzt - durch die Pflege von Gräbern in den verschiedenen Ländern, die zuvor befeindet waren und sich bekriegt hatten - und hat nach dem 1. Weltkrieg für die Einrichtung eines Volkstrauertages gesorgt.    

Wir halten fest an der Hoffnung, ohne Illusionen - im Bewusstsein unserer eigenen Grenzen - und tun das uns Mögliche. Manchmal können wir nur die Hände falten und beten. Dazu fordert uns unser Predigttext auf: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.“

Beten heißt nicht, die Hände untätig in den Schoß legen. Beten ist das Bekenntnis unserer eigenen Grenzen und ein Ausdruck der Einsicht, dass nicht alles von uns abhängt. Beten bedeutet, darauf zu vertrauen, dass uns das, was wir ersehnen und uns nicht selbst geben können, geschenkt werden kann.

Nicht nur wir als einzelne kleine Bürgerinnen und Bürger haben unsere Grenzen. Auch Könige und Präsidenten und Kanzler, auch die Regierenden und Mächtigen haben ihre Grenzen. Wenn sie das selbst einsehen, werden sie bei ihrer Vereidigung hinzufügen: „So wahr mir Gott helfe.“ Es macht dann Sinn, dass wir auch für sie beten: dass ihnen in ihrem Amt Weisheit geschenkt werde und sie das Rechte und Hilfreiche tun, damit allen Menschen geholfen werde.

Gott will, „dass allen Menschen geholfen werde“ - diese Formulierung unseres Predigttextes sollten wir wirklich ganz ernst nehmen. „Allen Menschen“ - nicht einigen wenigen, nicht nur der eigenen Familie, den eigenen Freunden, nicht nur einer einzelnen Gruppe, auch nicht nur einem Volk. Gottes Liebe gilt allen Menschen, so hat der Apostel Paulus Jesus Christus verstanden. In diesem Sinne hat er sich auf den Weg gemacht in die verschiedenen Länder des Römischen Reiches, in die Gegend, die heute die Türkei ist, nach Griechenland, nach Italien und hat sich an Juden und Nichtjuden gewandt und hat von dem einen Gott, dem Schöpfer und liebenden Vater aller Menschen und seiner Erscheinung in dem Menschen Jesus Christus erzählt.

Nicht jeder hat die Verkündigung des Apostels Paulus akzeptiert. Das ist auch in Ordnung. Denn jeder Mensch muss sich seinen Glauben selbst erarbeiten. Wir alle sind auf der Suche - auf der Suche auch nach der Wahrheit, nach dem, was es mit diesem ganzen Dasein auf sich hat und was Sinn und Ziel unseres Lebens ist und wie wir sinnvoll und verträglich miteinander leben können.

„Gott will“, so heißt es in unserem Predigttext, „dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Um die Erkenntnis der Wahrheit können wir uns alle aber nur bemühen, jeder auf seine Art und ohne den Anspruch, dass das, was wir selbst als Wahrheit erkannt haben, auch von allen anderen angenommen werden müsste. 

Der Volkstrauertag ist eine Mahnung an uns. Er mahnt uns, unsere eigenen Vorstellungen und Interessen nicht mit Gewalt durchzusetzen. Wir dürfen und sollen wohl klar und deutlich sagen, was wir denken und was wir glauben, was wir für gut und für nicht gut halten. Aber in der Wahl der Mittel, mit denen wir für unser Denken und unseren Glauben eintreten, müssen wir uns Grenzen auferlegen, wenn es nicht - und nicht wieder - zu dem kommen soll, was wir heute am Volkstrauertag beklagen. 

Jesus Christus hat ganz anders gedacht und geglaubt als die große Mehrheit seiner Mitmenschen. Er wollte auch, dass andere von dem erfahren und sich das zu Herzen nehmen, was er zu geben hatte. Aber um der Glaubwürdigkeit seiner Botschaft von der Liebe Gottes willen hat er alle Anfeindungen geduldig ertragen. Er hat sich nicht zur Gewalt hinreißen lassen, sondern hat die Gewalt seiner Gegner an sich geschehen lassen. Es hat ihn das Leben gekostet, aber nur sein physisches Leben. Als die „Mensch gewordene Liebe Gottes“ ist er lebendig geblieben bis auf den heutigen Tag. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 13. November 2005

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013