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3. Advent (16.12.18)


Jochen Kleppers „Die Nacht ist vorgedrungen“

12. Dezember 1982

3. Advent

Jesaja 40,1-8


Wer wissen will, was Advent bedeutet, und wer das nicht nur wissen, sondern auch empfinden will, der braucht nur das Lied Nr. 14 zu lesen und am besten alle fünf Strophen auswendig zu lernen. Wir haben es zu Beginn des Gottesdienstes gesungen. Jedes Jahr wieder um diese Zeit komme ich selbst an diesem Lied nicht vorbei. Es vollzieht mit Eindringlichkeit und Klarheit die Bewegung der Adventszeit. Wir sollten das Lied ruhig einmal aufschlagen. Es spricht in einfachen Worten die lutherische Theologie von der Rechtfertigung des Sünders nach. Es ist voller seelsorgerlicher Hingabe, schlicht und irgendwie zurückhaltend und dennoch ergreifend.

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstein bescheinet auch deine Angst und Pein.“

Das ist Advent: das Vordringen der Nacht, der Aufgang des Morgensterns, eine ruhige, unaufhaltsame, von niemandem aufzuhaltende Bewegung, der langsame Wandel vom Dunkel zum Licht, nicht zum grellen Licht, das keine Dunkelheit mehr kennt, sondern zu einem – fast möchte ich sagen – geschwisterlichen Miteinander.

Das Licht des Morgensterns gesellt sich zur Dunkelheit hinzu. Es verwandelt die bedrohliche Finsternis in behagliche Dunkelheit. Wie ein tröstendes Wort: Das aufgewühlte Herz kommt langsam zur Ruhe, der Schwall der Tränen verebbt. Die zerstörerische Kraft des Leids verwandelt sich in die Kraft des Leidgeprüften. Keine neue Welt. Hier wird nicht das eine durch das andere ersetzt. Hier wird nicht das Leid abgeschafft. Sondern eine Wandlung vollzieht sich. Die Lichtverhältnisse verändern sich, und schon sieht die Welt ganz anders aus. Ein Wort kann uns alles in einem neuen Licht sehen lassen. Die Begegnung mit einem Menschen kann für uns alles verändern, obwohl die Dinge doch beim Alten geblieben sind.

„Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.“ Welche Tiefe des Verstehens in diesen schlichten Worten! Hier spricht einer, der begriffen hat, dass wir dem Elend in dieser Welt nicht entrinnen können. Nicht davonlaufen können wir, wir können es nicht abschaffen, wir können es uns nicht einmal vom Leibe halten. Und doch sind wir mit dem Elend dieser Welt, mit dem großen Elend und unseren ganz persönlichen Nöten nicht alleingelassen.

„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“

Aus unserer Not kommen wir nicht heraus, aber in unsere Not herein ist einer gekommen, der nun mit uns geht.

Jochen Klepper spricht durch seine Strophen einfühlsam zu uns von der adventlichen Erwartung. Er weist uns bescheiden, aber doch in der tiefen Gewissheit des Glaubens auf die vor uns liegende Erlösung. Er verschweigt dabei die menschliche Schuld am Elend dieser Welt nicht. Er spricht uns aber so seelsorgerlich rücksichtsvoll an, dass wir gern bereit sind, auf jede Rechtfertigung zu verzichten und uns dem richterlichen Blick zu öffnen: „Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.“

Gestern, am 11. Dezember, war es auf den Tag genau vierzig Jahre her, dass sich Jochen Klepper zusammen mit seiner jüdischen Frau und seiner Tochter selbst das Leben beendete, weil die Nationalsozialisten ihm Frau und Tochter nehmen wollten. Über Jahre hinweg hatte er gegen die Behörden gestritten und Eingaben gemacht. Um sich gegen die wachsenden äußeren Bedrohungen zu schützen, hatte er sich mit seiner Familie zunehmend in die Innerlichkeit des Häuslichen zurückgezogen. Nach außen hin sich wehren gegen die Übermacht des Bösen konnte er nicht. Im Bereich des Privaten schuf er sich ein Idyll, und da beging er die Feste des Kirchenjahres mit großer Feierlichkeit. Während sich von draußen die Schlinge immer enger zusammenzog, wurde der Ausdruck seines Glaubens im Inneren klarer und fester, bis er schließlich an der Größe des äußeren Druckes zerbrach.

Mir gibt das Schicksal von Jochen Klepper zu denken angesichts unseres Predigttextes, wo es heißt: „Tröstet, tröstet, mein Volk!“ – „Bereitet dem Herrn den Weg!“ – Und eine Stimme spricht zum Propheten: „Predige!“

Jochen Klepper hat mit seinem Lied – er hat noch viele andere Kirchenlieder geschrieben – die Aufgabe der christlichen Verkündigung wahrgenommen. Er hat mit diesem seinem Lied getröstet, unendliche viele Male getröstet und tut es noch. Und er hat dem Herrn den Weg bereitet. „Predige!“

Der Prophet antwortet zurück mit der Frage: „Was soll ich predigen?“ Und diese Frage heißt: „Was soll ich predigen angesichts der Größe des Elends dieser Welt und meiner kleinen Kraft?“ Gerade wenn wir an Jochen Klepper denken, der so trost- und hoffnungsvoll verkündigt hat: „Die Nacht ist schon im Schwinden“ – und der dann doch von der finsteren Macht der Gewaltherrschaft zugrunde gerichtet worden ist – gerade wenn wir an Jochen Klepper denken, werden wir verstehen, dass einer zurückhaltend antwortet auf den Anruf: „Predige!“ –

„Was soll ich predigen?“ Was kann ich predigen, ohne letztlich unglaubwürdig zu werden?! Wie kann ich es wagen, die großen Worte des Trostes und der Hoffnung in den Mund zu nehmen, wo mir selbst vieles immer wieder trost- und hoffnungslos erscheint? Wie kann ich predigen: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“? Wie kann ich das Heil ankündigen, wenn ich sehe, wie sich das Unheil unser zunehmend bemächtigt?

Die skeptische Rückfrage des Propheten ist schon verständlich: „Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“ Das Wort Gottes ist viel größer, als wir es sind. Es passt eigentlich nicht in unseren Mund hinein.

Aber das Wort Gottes erhält seine Glaubwürdigkeit nicht erst durch uns. Die uns allen zugesagte Vergebung Gottes wird nicht erst dadurch glaubwürdig, dass wir selbst vergeben. Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht erst dann wahr, wenn wir selbst barmherzig sind. Ob es wirklich Liebe gibt in dieser Welt, hängt nicht davon ab, ob wir selbst zur Liebe fähig sind. Und Hoffnung ist nicht dadurch begründet, dass wir die Kraft zur Hoffnung haben. Unsere Fähigkeiten sind begrenzt und unser Tun ist bruchstückhaft.

Vergebung, Barmherzigkeit, Liebe, Trost, Hoffnung – die Wirklichkeit und Wahrheit dieser Worte ist über uns und um uns herum, sie umgibt uns und ist uns vorgegeben und aufgegeben. Sie ist nicht abhängig von uns. Wir sehen die Wirklichkeit und die Wahrheit dieser Worte freilich verkörpert in dem einen, auf den wir nun vorausschauen: Jesus Christus.

Jesus Christus ist in das Elend unserer Welt hineingeboren worden. Er ist durch rohe Gewalt physisch zu Tode gebracht worden. Er hat mit seinem Leben aber ein glaubwürdiges Zeugnis für die uns allen geltende Vergebung, Barmherzigkeit und Liebe abgelegt. Darin ist er für uns unsterblich. Auch unser Unvermögen, die von ihm ausgehende Kraft für uns selbst bis zum Letzten zu nutzen, kann daran nichts ändern.

Der physische Tod ist kein Argument gegen die Wahrheit Gottes, auch nicht der Freitod Jochen Kleppers. Vielmehr scheint die göttliche Wahrheit auch durch unser bruchstückhaftes Tun und Reden hindurch und ganz gewiss auch durch die wunderbaren Worte, die uns Jochen Klepper mit seinem Lied hinterlassen hat.

Advent ist eine Zeit der erwartungsvollen Besinnung auf uns selbst und die Welt, in der wir leben, und auf das, was uns verheißen ist. Um noch einmal mit Jochen Klepper zu sprechen: „Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf. Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf von Anfang an verbindet, seit eure Schuld geschah. Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 12. Dezember 1982)

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