Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

4. Advent (23.12.18)


Schwangerschaft: Gott zieht beim Menschen ein

16. Juni 1995

Feierabendmahl zum Kirchentag in Hamburg

Lukas 1,26-56


Zwei schwangere Frauen begegnen sich – was soll ich dazu sagen? Wir alle waren einmal im Leib einer Mutter – insofern könnten wir vielleicht alle mitreden. Wir können nicht alle schwanger werden, aber für uns alle – ob Frau oder Mann – wird die Schwangerschaft in bestimmten Phasen unseres Lebens zum Thema, gewollt oder ungewollt: „Möchte ich ein Kind, möchte ich Kinder?“ Das ist ja keine reine Frauenfrage. Das ist genauso gut eine Männerfrage. Wer sich diese Frage nicht stellt und sie nicht beantwortet, der kann dennoch unversehens vor der Frage stehen: „Möchte ich dieses Kind?“

Selbst wenn es nicht zu einem Kind kommt, ist die Schwangerschaft als Möglichkeit, als Hoffnung, als Risiko, als Sehnsucht oder als Drohung Teil der Beziehung zwischen Mann und Frau. Auch diese Beziehung ist ein unausweichliches Thema unseres Lebens, wie immer wir auch damit umgehen.

Zwei schwangere Frauen begegnen sich, die eine schon etwas in die Jahre gekommen, die andere noch ganz jung. Beide sind ungeplant schwanger geworden. Elisabeth hatte sich immer ein Kind gewünscht, aber keins bekommen. Sie war unfruchtbar, sagt der Arzt Lukas. Aber was keiner mehr zu hoffen gewagt hatte, tritt dann doch ein: Elisabeth wird schwanger. Maria dagegen hatte noch gar nicht an ein Kind gedacht - und schon war es passiert.

Diese beiden Frauen begegnen sich. Maria macht sich auf den Weg durchs gebirgige Land und besucht ihre Tante. Wusste sie, dass auch Elisabeth schwanger war? Darüber erfahren wir nichts. Aber bestimmt war es ihr ein Bedürfnis, von Frau zu Frau das Ereignis zu bereden. Mit den Männern wird das Gespräch nicht so einfach gewesen sein. Josef, dem die ungeplante Schwangerschaft seiner Freundin offensichtlich peinlich war, wollte sich in aller Stille von Maria trennen, schreibt Matthäus. Und Zacharias, dem hatte es im wörtlichen Sinne die Sprache verschlagen. Er konnte es nicht glauben, dass seine Frau Elisabeth doch noch schwanger geworden war. Er brachte kein Wort mehr heraus.

Beide Frauen hatten Gesprächsbedarf – wegen der Schwangerschaft an sich, wegen der Männer, und auch wegen der gesellschaftlichen Konsequenzen. Beide waren ins Gerede gekommen, die junge Unverheiratete und die angeblich Unfruchtbare und für eine Schwangerschaft eigentlich schon reichlich Alte. Beide Frauen mussten ihre Rolle neu definieren.

Es bestand Gesprächsbedarf, weil die Schwangerschaft vieles verändern würde und schon verändert hatte. Im Körper der beiden Frauen spielten sich vorher nicht gekannte Vorgänge ab. Aber auch der ganze Gang des Lebens würde sich verändern – tausend Fragen, zahllose Unbekannte, ein Gemisch aus Freude und Ängsten und praktischen Problemen.

Eine Schwangerschaft kommt durch einen Eingriff von außen. Da sind nicht nur Männer im Spiel. Da ist die geballte, unverfügbare Schöpfermacht, die ihre eigenen Spielregeln hat, die sich nicht zügeln lässt, die sich an unseren Planungen vorbei durchsetzen kann, auch gegen Eigentumsansprüche – „Mein Bauch gehört mir“ –, und die sich auch gegen unsere Hoffnungslosigkeit zur Geltung bringen kann, die geballte Schöpfungsmacht, die uns in ihre Pläne einsetzt, die uns zur Entscheidung herausfordert, „Ja" zu sagen oder „Nein".

Über beide Frauen ist die Schwangerschaft gekommen – als ein Eingriff von außen. Niemand möge sagen, es wäre bei ihm anders gewesen. Beide Frauen sagen „Ja“, beide nehmen die Herausforderung an, und beide vermögen ihr Verhältnis zu der schöpferischen Macht als ein persönliches Verhältnis zu formulieren. Sie fühlen sich beschenkt: „Gott hat Großes an mir getan“, sagt Maria.

Eine Schwangerschaft ist nicht nur ein körperliches Ereignis, eine Schwangerschaft ist auch ein transzendentales Ereignis. Das Göttliche nimmt Wohnung im Menschlichen, Gott zieht beim Menschen ein, und heraus kommt ein neues Geschöpf, ein Wunderwerk der Schöpfung, ein Kind Gottes und des Menschen.

Solange noch Frauen schwanger werden, wird das Staunen über das Geheimnis der Schöpfung nicht aufhören. Solange noch Kinder geboren werden, werden wir vom Wunder der Schöpfung ergriffen werden.

Beide Frauen, Elisabeth und Maria, empfinden es so, dass das in ihnen wachsende Kind nicht nur von ihren Männern kommt. Ein göttliches Geschenk nimmt in ihnen Gestalt an. Es sollen später herausragende Persönlichkeiten der religiösen Geschichte werden, das Kind Marias insbesondere. Aber nicht erst dieser künftige Werdegang hat diese Kinder zu göttlichen gemacht.

In jeder Frucht im Mutterleib entfaltet sich die Schöpferkraft Gottes. In jedem Neugeborenen begegnet uns das Antlitz Gottes – auch in dem krank und behindert geborenen Kind. Und jedes Kind ist eine erneute Provokation der Liebe, der unaufhörliche Versuch Gottes, unsere Herzen zu erweichen. Welche Kräfte der Liebe können Kinder in uns entfalten! Wie stark ist der Wunsch, sie zu pflegen und zu behüten, es ihnen schön zu machen, ihnen den Weg zu ebnen! Im Angesicht der Kinder erleben wir die Unvollkommenheiten unserer Welt um so schmerzlicher. Jedes Unglück trifft uns besonders hart, wenn es Kinder getroffen hat. Wo Kinder leiden, wo Kinder hungern, wo Kinder ungerecht behandelt werden, wo Kinder missbraucht werden, da leiden wir mit, da können wir nicht wegschauen, da wird uns unsere Ohnmacht, unsere eigene Tatenlosigkeit unerträglich. Dann fangen wir doch noch an nachzudenken, ob nicht doch noch etwas zu machen ist – ob da nicht doch endlich eine Ampel installiert werden sollte an dem gefährlichen Überweg.

Wo ein Kind unterwegs ist, da können sich ungeahnte Kräfte der Besserung entfalten, die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten, an der ehelichen und der partnerschaftlichen Beziehung, an den persönlichen Lebensverhältnissen und an der Lebenswelt um uns herum, an den Zuständen in unserer Gesellschaft.

Wenn das Kind den schützenden Raum des Mutterleibes verlässt – in welche Welt wird es hineingeboren? Maria verfällt angesichts des werdenden Lebens in ihrem Leib in Hochstimmung. Wenn Gott sie als armes und unbedeutendes Mädchen so reich mit einem Kind beschenkt, dann wird er auch die Welt beschenken. Wenn Gott sich in ihren Leib hineinbegeben hat und sie verwandelt hat, wird er sich auch in die Welt hineinbegeben und die Welt verwandeln, dann wird er der Not ein Ende bereiten, Gerechtigkeit schaffen, den Schwachen Kraft geben, die Starken in die Pflicht nehmen, die Hungrigen speisen.

So verknüpft sich das ganz Persönliche und Intime mit dem großen Gesellschaftlichen. Denn Gott, der Schöpfer des Einzelnen, ist auch der Schöpfer des Ganzen.

Das hat sich unser Gott sehr liebevoll ausgedacht, dass er den Akt der Schöpfung mit Liebe verbunden hat. Veränderung braucht Kraft. Verantwortung braucht Kraft. Leben braucht Kraft. Das Schaffen von Leben, das Entfalten, das Schützen und Bewahren von Leben braucht Kraft. Und Kraft kommt aus der Liebe. Auch Mut kommt aus der Liebe, und Trost und Zuversicht und Hoffnung kommen aus der Liebe.

Ohne Liebe kein Leben. Ohne Liebe keine neue Schöpfung. Ohne Liebe kein menschliches Miteinander. Ohne Liebe auch keine neue Kirche.

Die frohe Botschaft der Kirche ist das Ja Gottes zum Leben, das Ja Gottes zu seiner ganzen Schöpfung, das Ja zu seinen Geschöpfen, das Ja Gottes zu seinem Geschöpf Mensch insbesondere. Gott lässt Leben entstehen, wo er will. Er hat es so gewollt, dass auch wir ins Leben kamen.

Gott hat uns zur Mitschöpfung berufen. Er fordert uns heraus, uns für das Leben zu entscheiden. Er macht uns dazu Lust. Er schenkt uns dazu Liebe.

Gott hat Großes an uns getan – das sei uns Grund zur Dankbarkeit. Seien nun auch wir großzügig. Lasst uns an anderen Großes tun, indem wir Leben schaffen, Leben ermöglichen, Leben schützen und bewahren und helfen, dass Menschen hier unter uns und in aller Welt ein Leben in Würde führen können.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. Juni 1995)

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013