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1. Advent (2.12.18)


Mitte der Zeit – auch in unserem jährlichen Alltag

27. November 1988

1. Advent

Lukas 1,67-79 


Nun beginnt die schöne Adventszeit. Ich sage bewusst „schöne“ Adventszeit. Denn jetzt regt sich manches in uns, manches Gute, ein Bedürfnis, es schön zu machen, und – wo immer wir beieinander sind – ein aus der Tiefe entspringender Wunsch, dem Leben einen festlichen Charakter zu geben.

Ausgelöst wird dieses alljährliche einzigartige Verhalten durch das Weihnachtsgeschehen, auf das wir nun zugehen und auf das wir uns vorbereiten. Die Geburt Jesu Christi öffnet – in den Kirchennahen und Kirchenfernen, bewusst und unbewusst – gute Seiten in uns.

Wir möchten unseren Empfindungen Ausdruck geben im Schmücken und Schenken, im besinnlichen Miteinander und Feiern. Natürlich misslingt uns das auch vielfach. Und wo wir uns öffnen, sind wir auch besonders verletzlich. Dennoch bleibt dies festzuhalten: Nun beginnt eine besondere Zeit mit besonderen Chancen, voller Verheißungen und mit besonderen Ansprüchen an Menschlichkeit und Ernsthaftigkeit. Und wo Oberflächliches ist, da stört uns das jetzt mehr als zu anderen Zeiten des Jahres.

Wären wir poetisch veranlagt wie Zacharias, der Priester im Jerusalemer Tempel oder wie Lukas, der Verfasser des 3. Evangeliums, und verstünden wir, unseren Empfindungen Ausdruck zu verleihen in der Sprache des Glaubens, dann würden wir nun vielleicht auch einen Lobpreis Gottes formulieren: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat besucht und erlöst sein Volk, dass er uns errettete und Barmherzigkeit erzeigte und uns erlöste, dass wir ihm dienten in Heiligkeit und Gerechtigkeit.“ So können wir nicht sprechen. Aber den Lobgesang des Zacharias können wir vielleicht doch nachempfinden und hinter seinen Worten uns selbst entdecken.

Zacharias war gerade Vater geworden. Dies allein wäre für ihn Grund genug gewesen, Gott zu loben und zu preisen. Wie viele Väter und Mütter sind bei der Geburt ihres Kindes nicht mit großer Dankbarkeit erfüllt?! Für Zacharias war die Geburt des Sohnes noch ein besonderes Geschenk; denn er hatte schon lange vergebens auf ein Kind gewartet. Ganz jung war Elisabeth, seine Frau, schon längst nicht mehr. Und dann sollte er mit diesem Kind besondere Erwartungen verbinden dürfen. Vielleicht neigen Väter dazu, in ihren neugeborenen Sohn, gerade wenn es der erste ist, große Hoffnungen zu setzen.

In diesem Fall hatte Zacharias ein Recht auf hohe Erwartungen; denn er hatte eine Erscheinung des Engels Gabriel gehabt, der ihm die besondere Bedeutung seines Sohnes – Johannes sollte er heißen – angekündigt hatte, schreibt Lukas. Lukas schreibt im Rückblick, nachdem sich alles ereignet hat, achtzig Jahre vielleicht, nachdem das Kind geboren war.

Dem Zacharias war verheißen worden, dass sein Sohn Johannes einem Größeren den Weg bereiten sollte, dem Christus, dem Erlöser und Erretter Israels. Darum schwingt in seinen Worten all das mit, was auch wir in dieser Zeit empfinden, aber nicht mehr recht zu formulieren vermögen.

Eine langgehegte Sehnsucht sollte mit diesem Jesus Christus in Erfüllung gehen. Wir sehen dies in der Rückschau: wie er dem Hass mit Liebe begegnete, der Feindschaft mit Versöhnung, wie er Barmherzigkeit übte und Vergebung zusprach.

In einer Welt wie der damaligen, in der geplündert und gemordet, unterdrückt und zerstört wurde, in der das Volk Israel unter der römischen Herrschaft fast ausgelöscht wurde, musste dieser Mensch Jesus wie ein Geschenk des Himmels erscheinen, wie ein Wesen nicht von dieser Welt: der nicht zur Gegengewalt aufrief, der nicht in Zynismus verfiel und nicht in Resignation versank, der vielmehr die Liebe predigte und lebte, auch die Liebe zu den Feinden.

Dies musste vielen als Torheit erscheinen. Aber andere hatte es im Innersten gerührt. Sie wurden bewegt. Und auch uns rührt dieser Jesus Christus noch im Tiefsten unseres Herzens an; denn wir spüren: Mit ihm ist das ganz Andere in unsere Welt gekommen. Und unsere Welt ist noch die von damals – mit Mord und Totschlag, mit unsäglicher Not im Großen und im Kleinen, draußen und in uns selbst. Das ganz Andere, das alle täglichen Erfahrungen Überschreitende, das nur in unserer Sehnsucht zu Formulierende – dies ist in dem Menschen Jesus, dem Christus, Wirklichkeit geworden.

Der Evangelist Lukas hat hier ganz besonders unterstrichen: Jesus, der Christus, der wie eine große Erlösung zu den Menschen kam, der kam tatsächlich in jene Zeit hinein, in jene konkreten geschichtlichen Umstände, in jene weltpolitischen Zusammenhänge der Herrschaft des römischen Reiches, unter dem Kaiser August, der Existenzbedrohung Israels.

Wir sollen nicht denken, so Lukas, Jesus Christus hätte mit der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu tun. Das Volk Israel hatte über viele Jahrhunderte hinweg viele Nöte durchlitten und auf einen Retter gehofft. In jenen Jahren war er in dem Menschen Jesus von Nazareth erschienen. Und dann ging der Verlauf der Geschichte weiter, für den distanzierten Betrachter ohne äußere Veränderung. Für den Glaubenden aber gab es von da ab ein Vorher und ein Nachher.

Die Zeit des Lebens Jesu wurde für sie zur Mitte der Zeit. Das will uns Lukas deutlich machen. Vielleicht erleben auch wir in diesem Sinne die Advents- und Weihnachtszeit: dass wir hier die Erfahrung der Mitte machen im Ablauf des Jahres, dass es hier um etwas Zentrales geht, das in den kontinuierlichen Ablauf unserer täglichen Erfahrungen einbricht und uns für eine andere Realität öffnet.

In dieser Zeit lernen wir, unsere gewohnte Realität aus einer anderen Perspektive zu betrachten, aus der der Nähe zu demjenigen, der diese andere Realität verkörpert. Dabei können sich Veränderungen vollziehen. Wer diese Zeit empfindsam durchlebt, den wird mehr als sonst schmerzen, was an Not und Elend da ist, der wird auch in sich hineinschauen – mit Schmerzen vielleicht – und sich besinnen, des Guten und des Besseren besinnen. Und er wird es als ein besonderes Geschenk empfinden, dass in unsere Welt einer hineingekommen ist, der nicht anklagt, sondern hilft, nicht verdammt, sondern verzeiht und für den weiteren Weg Hoffnung macht.

Barmherzigkeit und Vergebung ist uns allen zuteilgeworden. Erkenntnis dessen, was für uns heilsam ist, ist uns gegeben worden. Und unsere Füße sind auf den Weg des Friedens gerichtet worden. Dies alles ist durch Jesus Christus geschehen. In dieses Geschehen werden wir in diesen Tagen und Wochen wieder hineingenommen. Ich wünsche uns allen, dass wir uns öffnen und uns anrühren lassen – und uns bewegen lassen zum Guten, zu unser aller Wohl und Heil, auch über diese Wochen hinaus.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 27. November 1988)

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