Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

2. Advent (9.12.18)


Dennoch!

4. Dezember 1988

2. Advent

Jesaja 35,3-10 


Es gäbe vielleicht verschiedene Möglichkeiten, die ganze biblische Theologie in einem einzigen Wort zusammenzufassen. Ich möchte aus Anlass des heutigen Predigttextes sagen: „Dennoch!“ In diesem Wörtchen „Dennoch“ lässt sich die ganze biblische Theologie Alten und Neuen Testaments zusammenfassen.

„Dennoch“ – das bedeutet Annahme und Widerstand zugleich: Anerkennung der Realitäten, aber die Weigerung, sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Etwa in dem Sinne: „Ich bin oft von meinen Mitmenschen enttäuscht worden, ‚dennoch’ werde ich mich nicht zum grundsätzlichen Misstrauen drängen lassen.“

Das Volk Israel hat in seiner langen Geschichte vieles durchleiden müssen. Es hat dennoch immer wieder die Kraft zur Hoffnung gehabt. Selbst in der Situation unerklärlichen, als sinnlos erlebten Leidens und in der Erfahrung absoluter Gottverlassenheit vermochte Hiob noch zu sagen: „Möge er mich auch töten, ich hoffe dennoch auf ihn.“  

Ein bekannter jüdischer Gelehrter hat gesagt: „Die jüdische Geschichte besteht weitgehend aus einer langen Kette von Verfolgungen, Vertreibungen und Niederlagen, die am Ende immer wieder in den Mut zum Neubeginn mündeten und zu einer Kunst des Überlebens führten.“

Als Christen stehen wir in eben dieser Tradition. Was in den Augen der Realisten eine Niederlage war, die Kreuzigung Jesu, ist für diejenigen, die weiter zu schauen vermochten, zum Symbol der Hoffnung geworden. Das Kreuz ist das aus der niederdrückenden Realität unserer Lebenserfahrungen hoch aufgerichtete „Dennoch“ des Glaubens an eine andere, gottverheißene Wirklichkeit, das Reich Gottes, wie wir mit Worten der Bibel zu sagen pflegen. Das Reich Gottes hat in dem Menschen Jesus von Nazareth unter den Bedingungen unserer konkreten Lebenswelt seinen Anfang genommen.

Es wird in einer uns nicht bekannten Zukunft vollkommene Wirklichkeit werden. Diese großartige Vision ist uns von denen überkommen, die selbst die Erfahrung der Niederlage haben machen müssen.

„Am Scheitern das Hoffen lernen – in diesem Wesensmerkmal ihres Glaubens sind Juden und Christen miteinander verbunden“, sagt der bereits erwähnte jüdische Gelehrte. Unser heutiger Predigttext aus dem Propheten Jesaja ist dafür ein Beispiel.

Es ist nicht genau bekannt, in welcher konkreten Situation der Text geschrieben wurde. Es spricht alles dafür, dass er auf die Situation der im babylonischen Exil lebenden Israeliten Bezug nimmt. Seit vielen Jahren fern der Heimat ist dort Mutlosigkeit eingekehrt. „Stärkt die schlaffen Hände und festigt die wankenden Knie! Sagt zu denen, die verzagten Herzens sind: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Siehe da, euer Gott, er selbst kommt und hilft euch.“

Schlaffe Hände, wankende Knie, verzagte Herzen – mit diesen bildhaften Worten sind Menschen beschrieben, die resigniert haben, denen die Kraft abhandengekommen ist, anzupacken, guten Mutes auf ein Ziel zuzugehen.

Vielleicht sind wir selbst einmal in einer solchen Situation gewesen, dass wir nicht mehr kämpfen mochten, dass wir uns für nichts mehr einsetzen und keine großen Pläne mehr machen wollten, ja, dass wir nicht einmal mehr etwas wünschen wollten: dass wir uns einfach begnügen und es uns genug sein lassen wollten an uns selbst und unserem ganz privaten Leben mit all den Mängeln. Und vielleicht haben wir uns das sogar heldenhaft zugutegehalten: dass wir gelernt hätten aus allen Erfahrungen, dass wir klug und weise geworden und aus naiven Träumern zu harten Realisten herangereift wären.

Wer nicht mehr zu träumen wagt, der hat sein Leben schon zur Hälfte aufgegeben. Wer nur noch zu sehen vermag, was täglich vor Augen ist, der ist blind geworden. Wer nur noch die Worte der Warner und Mahner hört, der ist taub geworden. Wer keinen Dank und Lobpreis mehr über die Lippen bringt, der ist stumm geworden. Und wer meint, schon am Ende zu sein, der ist an Leib und Seele erlahmt.

Einem solchen Menschen ist mit den herkömmlichen Mitteln der Medizin nicht zu helfen. Darum heißt es: „Siehe da, euer Gott, er selbst kommt und hilft euch. Alsdann werden die Augen der Blinden aufgeschlossen, und die Ohren der Tauben werden aufgetan. Alsdann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird jauchzen: Siehe da, euer Gott!“

Wer nur glaubt, was er sieht, der ist blind für die unaussprechlichen Wunder unseres Daseins, für die unermessliche Größe und Schönheit der Schöpfung Gottes und die unendlichen Möglichkeiten unserer Zukunft. Wer könnte nach den wenigen Jahrzehnten seines Lebens behaupten, er wüsste, was es mit dem Leben auf sich hat, wo man langzugehen hat und was möglich und was nicht möglich ist.

„Siehe da, euer Gott! Bei ihm ist kein Ding unmöglich.“ Die Wirklichkeit Gottes ist größer als unser noch so großer Schatz an Erfahrungen. Wir haben jederzeit Grund zur Hoffnung. Und wenn wir uns zur Hoffnung rufen lassen, dann wird das sein wie das Erblühen neuen Lebens: „In der Wüste brechen Wasser hervor und Bäche in der Steppe, und der glühende Sand wird zum Teiche und das durstige Land zu Wasserquellen.“

Wir sind zur Hoffnung berufen. Erst sie eröffnet uns das Leben in seiner ganzen Vielfalt und Tiefe. Als Kinder haben wir noch Träume. Unsere Wünsche sind grenzenlos, wir halten alles für möglich und wollen das Größte und Höchste erreichen. Je mehr die Jahre vergehen, je mehr wir gesehen, erfahren haben, desto mehr verengt sich unser Blick. Und unversehens erkennen wir die Grenzen unseres Denkens, die Grenzen unseres Herzens. Wir schauen zurück in die grenzenlose Weite unserer Kindheit und wir spüren, dass wir uns ins Exil haben drängen lassen, in eine Welt, die nicht unser Zuhause ist, in der wir von fremden Mächten beherrscht werden, die uns ihre eigenen Gesetze aufzwängt und den Weg in die Freiheit versperrt.

Wenn wir spüren, dass unsere Hände erschlaffen, unsere Knie wankend werden und unsere Herzen zu verzagen drohen, dann sollen wir uns herausrufen lassen aus dem Exil unseres Lebens und mit Hoffnung auf das Land schauen, das Gott uns verheißen hat.

„Die Befreiten des Herrn werden heimkehren und nach Zion kommen mit Jauchzen.“ Mit dieser Vision vor Augen werden die Exilierten des babylonischen Exils auf den Weg in ihre Heimat gerufen, einen Weg, den zu betreten sie Kraft und Mut benötigen. Wo Schakale lagerten, wird nun ein heiliger Weg sein. Gott wird bei ihnen sein auf ihrem Weg zurück zu ihm.“

Matthäus hat die Worte des Jesaja auf Jesus bezogen: „Blinde werden sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und den Armen wird die frohe Botschaft gebracht.“

In Jesus verkörpert sich der Ruf aus den Fesseln unserer täglichen Realitäten in die weite Welt Gottes. Das Reich Gottes trägt die Merkmale einer Welt, die wir nur erträumen können. Und wir sollen träumen! Das Reich Gottes ist die Welt unserer Sehnsucht, die Welt des Friedens, der Geborgenheit, der Liebe, des Heils an Leib und Seele. Wir sollen uns sehnen und heftig sehnen und unserer Sehnsucht Ausdruck geben in allem, was wir sagen und tun.

In Jesus von Nazareth ist das Reich Gottes erfahrbar geworden. Nehmen wir ihn als unseren Christus an. Lassen wir uns von ihm befreien aus den Fesseln unserer vermeintlichen Realitäten. Lassen wir uns allen widrigen Erfahrungen zum Trotz ermutigen zur Hoffnung auf seine Welt: „Dennoch, dennoch bleibe ich stets bei dir, denn hältst mich bei meiner rechten Hand. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich an Ende mit Ehren an.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. Dezember 1988)

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013