Mit dem Kirchenjahr das Leben durchleben
3. Dezember 2000
1. Advent
Lukas 1,67-79
Das Leben ist mehr als nur eine Anzahl von Tagen, von Wochen, Monaten, Jahren, die man irgendwann zu zählen begonnen hat, ab Christi Geburt – von da aus nach vorn und nach hinten. Das Leben ist mehr als das in Zeiteinheiten Messbare. Und auch unser ganz persönliches Leben ist mehr als die Anzahl der Jahre seit dem Tag unserer Geburt.
Das Leben ist ein großes Geheimnis, ein Abenteuer. Das Leben ist wie ein Land, das entdeckt sein will, oder wie eine Herausforderung, die darauf wartet, dass wir sie annehmen und uns an ihr bewähren.
Was es mit dem Leben auf sich hat, werden wir im Letzten wohl nie so recht ergründen. Aber wir leben – und uns sind Verstand und Herz gegeben. Wenn wir über das Kleinkindalter hinaus sind, können wir das Leben bewusst betrachten, wir erlangen Selbstbewusstsein, und wir spüren den wachsenden Willen in uns, das Leben selbst mitzugestalten. Wir wollen uns nicht nur vorantreiben lassen, sondern wollen das Leben nach eigenen Gedanken, Einsichten, Entscheidungen gestalten. Das entspricht unserem Selbstverständnis und unserer menschlichen Würde.
Uns wird dann irgendwann klar, dass wir nicht aus uns selbst heraus leben, dass nicht wir das Leben erfunden haben und dass wir mit unseren Überlegungen auch nicht am Punkte Null anfangen müssen. Andere vor uns standen schon vor derselben Aufgabe, Generationen vor uns seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden. Sie haben uns ihre Gedanken und Erfahrungen überliefert. Wenn wir uns umblicken, wenn wir suchen nach dem, was uns selbst weiterhelfen könnte, woran wir uns orientieren könnten, dann werden wir auch auf die Überlieferungen stoßen, die in diesem Buch zusammengestellt sind, in der Bibel Alten und Neuen Testaments. Da ist niedergelegt, was Generationen in tausend Jahren über das Leben gedacht haben, was sie erlebt und erfahren haben, was sie geglaubt haben und was sie der Weitergabe an die folgenden Generationen für wert befunden haben.
Wenn Sie darin lesen, in diesem schönen und schwierigen Buch, dann werden auch Sie es vielleicht als tröstlich empfinden zu erkennen, wie sehr sich Menschen schon damals abgemüht haben, wie sehr sie gerungen haben, den Sinn des Lebens, das Ziel, den rechten Weg zu erkennen, wie sehr sie nach Erkenntnis, nach Kraft, nach Halt, nach Orientierung, nach Verlässlichem gesucht haben, und wie sie sich gefreut haben, wenn sie sicheren Boden meinten gefunden zu haben, und wie sie dann immer wieder unsicher geworden sind, wie sie Erklärungsmuster und Lebenskonzepte entworfen – und dann auch wieder verworfen haben.
Das hat etwas Tröstliches, denn wir spüren, dass es andere vor uns auch nicht leicht gehabt haben, das Leben zu verstehen und in einem guten Sinne zu bewältigen, dass sie aber nicht aufgegeben haben, sondern immer wieder feste Planken auf einen schwankenden Boden gelegt haben.
Die Bemühungen der biblischen Generationen konzentrieren sich am Ende auf eine Gestalt, die dann auch für die nächsten zwei Jahrtausende ihre Bedeutung behalten hat, auf denjenigen, dessen Geburt, wir in Kürze wieder feiern. Jener Jesus von Nazareth, ist damals von einer Reihe von Menschen als derjenige erkannt und geglaubt worden, der uns Grundlegendes und Tragfähiges für das Leben zu geben hat.
Was diese Menschen erkannt und geglaubt haben, ist am stärksten formuliert in der Aussage: „Er war Gottes Sohn, er war Gott selbst in menschlicher Gestalt.“ Was die Menschen damals mit dieser Aussage zum Ausdruck bringen wollten, ist dies: In jenem Jesus von Nazareth finden all unsere grundlegenden Fragen ihre grundlegenden Antworten. Das Wirken jenes Jesus von Nazareth, der dann Christus genannt wurde, weil er als Retter, als Erlöser empfunden wurde –, das Wirken jenes Jesus von Nazareth, sein Leben, Sterben, Auferstehen und das Weiterwirken seines Geistes wurde von den folgenden Generationen dann als Orientierungsrahmen für die Gestaltung des Lebens genommen. „Wenn wir durch die Jahre unseres Lebens gehen“, so sagten sie sich, „dann wollen wir immer wieder das nachvollziehen, was damals geschehen ist und was so grundlegend für uns geworden ist.“
Nach diesen inhaltlichen Festpunkten haben sie dann das Jahr aufgebaut. „Lasst uns mit dem beginnen, womit auch das leibliche Leben beginnt“, haben sie gesagt, „mit dem Warten, mit dem Warten auf die Geburt des Kindes.“ Und sie haben sich die wunderschöne Geburtslegende des Evangelisten Lukas genommen und haben gesagt: „Darauf lasst uns zugehen – auf die Geburt des Heilandes in Bethlehem, auf das Erscheinen Gottes in der zerbrechlichen Gestalt eines Kindes. Und lasst uns auf dem Weg dorthin bedenken, was voranging: die Hoffnung der Menschen auf einen, der Antworten und Lösungen würde anbieten können. Lasst uns unsere Hoffnungen und Erwartungen bedenken und lasst uns Vorbereitungen treffen für den Augenblick der Erfüllung, lasst uns die Vorfreude der Schwangeren nachempfinden und das bange und gespannte Warten. So lasst uns das Jahr beginnen, das Kirchenjahr.“
An diesem Punkt steht wir heute, am 1. Advent, dem Beginn des Kirchenjahres. Von hier aus entfaltet sich das Wirken desjenigen, nach dem wir uns Christen nennen. Indem wir das Kirchenjahr beginnen – mit der nachdenklichen Vorbereitung – und dann fortfahren mit der Feier der Geburt, dann mit dem Nachvollzug der Lebensstationen jenes Jesus von Nazareth, seines Wirkens, seines Leidens, seines Sterbens und Auferstehens und dann des Aufbaus erster Gemeinden –, indem wir nach diesen Stationen den Lauf des Jahres einteilen, lassen wir uns sagen und bringen wir immer wieder zum Ausdruck, dass das Leben eben nicht nur eine Kette von Zählbarem ist, eine Aneinanderreihung von Tagen, sondern dass das Leben eine Bewegung des Suchens und Findens ist, eine Bewegung zwischen Nachdenken und Handeln, eine Bewegung zwischen Hoffnung und Erfüllung, eine Bewegung zwischen Schuld und Vergebung, zwischen Scheitern und Gelingen, zwischen Trauer und Tröstung, zwischen Leben und Tod und zwischen Tod und Leben.
Das Kirchenjahr hat seinen eigenen tiefen Sinn. Es nimmt uns an die Hand und führt uns durch die grundlegenden Fragen des Lebens, wie sie von Menschen seit vielen Generationen gestellt worden sind, und führt uns zu den grundlegenden Antworten des Lebens, wie diese Menschen sie gefunden haben in Konzentration auf diese eine Gestalt von damals. Das Kirchenjahr gliedert sich in Zeiten der Besinnung und der Feste und des Alltags. Und immer wieder werden die Geschichten von damals vergegenwärtigt. Sie sind in ihrem Kern so aktuell wie eh und je.
Das Kirchenjahr ist in dieser inhaltlichen Ausrichtung etwas anderes als das Kalenderjahr, das seinen Zweck mehr in der reinen Zählung erfüllt, die für uns aber immerhin an einem inhaltlichen Schnittpunkt beginnt, der Geburt Jesu Christi.
Das Kirchenjahr ist auch anders als unser ganz persönliches Jahr, unser Lebensjahr, das wir vom Tag unserer Geburt an rechnen. Da geht es auch mehr um das Zählen der Jahre, wobei die feierliche Erinnerung an die Geburt durchaus etwas sehr Nachdenkliches haben kann.
Wir haben also heute den 1. Advent, den Beginn des Kirchenjahres. Drei Wochen sind es diesmal bis zur Feier der Geburt des Christkindes. Maria geht nun schwanger. Ihr ist die Geburt dieses besonderen Kindes durch einen Engel verheißen. Gestern Abend haben wir hier Marias Lobgesang gehört, das Magnifikat. Und noch eine andere Frau ist schwanger, Elisabeth. Sie wird Johannes zur Welt bringen, der dem gleichaltrigen Jesus später den Weg bereiten wird. Johannes, der Täufer, der die Menschen aufruft, sich zu besinnen auf das eigene Wesen, der die Menschen aufruft, Schuld zu bekennen und zu bereuen und sich reinigen zu lassen, damit sie frei würden für den Empfang des Neuen, für den Empfang Gottes in der menschlichen Gestalt Jesu.
Ähnlich wie Maria, die die bevorstehende Geburt ihres Kindes mit einem Lobgesang besingt, hat auch Zacharias, der Vater des Johannes, einen Lobpreis auf den Lippen: „Du mein Sohn, ein Prophet des Höchsten wirst du sein, weil du dem Herrn vorausgehen wirst, um den Weg für ihn zu bahnen. Du wirst dem Volk des Herrn verkünden, dass nun die versprochene Rettung kommt, weil Gott ihm seine Schuld vergeben will. Unser Gott ist voll Liebe und Erbarmen; er schickt uns das Licht, das von oben kommt. Es wird für alle leuchten, die im Dunkeln sind, die im finsteren Tal des Todes leben, und wird uns auf den Weg des Friedens führen.“
Lassen wir uns auf diesen Weg des Friedens immer wieder mitnehmen, indem wir den Weg Jesu Christi – dem Lauf des Kirchenjahres folgend – mitgehen. Heute am 1. Advent beginnt dieser Weg wieder, der Weg, auf dem sich Gott als der Liebende und Barmherzige erweist, der tröstet und vergibt.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 3. Dezember 2000)