Dieser kurze Abschnitt nimmt Bezug auf die beschwerliche Wüstenwanderung der Hebräer, der Menschen, die später zum Volk Israel wurden. Sie zogen unter Mose aus der Knechtschaft in Ägypten in das verheißene Land der Freiheit jenseits des Jordan, wo Milch und Honig fließen sollten. Gott, so heißt es in unserem Abschnitt, wies ihnen den Weg, tagsüber als Wolke, nachts als Feuersäule.
Von diesem Bibeltext ausgehend können wir uns fragen: Ist unser Weg durch das nun zu Ende gehende Jahr einer Wüstenwanderung vergleichbar, einem beschwerlichen Weg also aus der Knechtschaft ins verheißene Land der Freiheit? Und wovon haben wir uns leiten lassen?
Beschwerlich ist unser Weg durch die Zeit manchmal schon, z. B. wenn wir gesundheitliche Probleme haben, aber auch dann, wenn es uns gut geht und wir bei Kräften und guter Dinge sind. Das Leben ist grundsätzlich nicht einfach und kostet eine Menge Kraft, körperliche und seelische Kraft. Das morgendliche Aufstehen kann schon die erste kräftezehrende Hürde sein.
Aber neben solchen normalen Anforderungen haben wir ja auch Etliches an Zusatzlasten auf uns zu nehmen. Da kann der Weg schon zu einer Art Wüstenwanderung werden. Wobei, wenn wir das biblische Bild einmal näher betrachten, die Wüstenwanderung immerhin Ausdruck eines Freiheitswillens ist, des Willens nämlich, die Fesseln der Unterdrückung abzuwerfen und sich – voller Gottvertrauen – auf den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu machen.
Wir leben in Deutschland derzeit nicht in einem System politischer Unterdrückung. Wir haben das gehabt. Das liegt aber längst hinter uns – die Ex-DDR, die haben wir vor 16 Jahren, 1989, hinter uns gelassen – und davor das Dritte Reich. Dessen Ende liegt nun 60 Jahre hinter uns. Wir leben in dieser Hinsicht in einem freien Land. Das können wir heute anlässlich des Jahresrückblicks noch einmal mit Dankbarkeit feststellen.
Weltweit gesehen gibt es allerdings auch heute Diktaturen, Länder mit politischer Verfolgung, Bespitzelung, Folter ...
Politische Unterdrückung ist das eine. Es gibt aber auch erhebliche Zwänge anderer Art. Für viele Menschen auf unserem Erdball sind die wirtschaftlichen Bedingungen und die allgemeinen Lebensverhältnisse so problematisch, dass sie dadurch an einer Entfaltung ihres Rechts auf Leben fundamental gehindert sind. Viele Menschen in Afrika z. B. versuchen dem Elend zu entfliehen, indem sie sich im wahrsten Sinne des Wortes auf eine Wüstenwanderung begeben und dann – nicht den Jordan, sondern – das Mittelmeer zu überqueren versuchen, auf abenteuerliche und lebensgefährliche Weise. Das bringt die Verzweiflung dieser Menschen, aber auch ihren Willen nach besseren Lebensbedingungen zum Ausdruck.
Wir erleben auch in unserem Land einiges an wirtschaftlicher Not, auf einem anderen Niveau zwar, das ist wohl wahr. Aber die Menschen, die betroffen sind, nehmen ihre persönliche Not doch mit großer Intensität wahr und können sehr unter ihr leiden.
Ich denke z. B. an einen alten Menschen, der von der Sozialhilfe lebt, der keine Ersparnisse hat, sich nicht mehr aus dem Haus bewegen kann, der keine Menschen mehr hat, die für ihn da sind, keine Verwandten, Bekannten, Freunde und keine hilfsbereiten Nachbarn. Sein Fernseher ist kaputtgegangen. Nun hat er kein Geld für eine Reparatur oder gar eine Neuanschaffung. Für ihn ist das ein erhebliches Problem. Denn nun sitzt er da, allein, und muss den Tag ohne jegliche Zerstreuung hinter sich bringen.
Dieser Mann hatte immerhin noch die Kraft, aber es kostete ihn eine ziemliche Überwindung, sich mit den ihm verbliebenen Möglichkeiten auf die, um im Bild zu bleiben, Wüstenwanderung zu begeben, um zu versuchen, aus seiner bedrückenden Lage herauszukommen. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Kirchengemeinde mit der Bitte um Hilfe an.
Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen eine solche scheinbar banale Situation erzähle. Für den alten Mann war und ist die Situation gar nicht banal. Für ihn endet das Jahr ziemlich trostlos. Aber er hat sich immerhin gemeldet. Er hatte noch ein Bild der Hoffnung vor Augen: die Kirche eben.
Es gibt auch andere Zwänge, aus denen herauszukommen nicht leicht ist, die sog. Sachzwänge zum Beispiel, die das Denken und Handeln vorschnell blockieren können. Das können behördliche Auflagen sein, wirtschaftliche Erfordernisse, rechtliche Regelungen, politische Rücksichtnahmen. Die mögen alle irgendwie einen Sinn haben. Sie können aber auch zwanghaft werden und sich zu einem Dickicht verfestigen, das Lösungsansätze zu ersticken vermag.
In diesem Jahr hat es in Deutschland auf allen Ebenen in Politik und Wirtschaft, in der Kirche und in anderen Lebensbereichen vielfältige Versuche gegeben, aus alten Zwängen auszubrechen und den beschwerlichen Weg in eine neue Gestaltungsfreiheit zu gehen.
Ob die Schließung von Kirchen in dieser Hinsicht der richtige Weg ist, möchte ich mit einem Fragezeichen versehen. Es kann auch sein, dass wir mit manchen Maßnahmen die Probleme vergrößern, die wir eigentlich lösen wollen.
Es gibt noch ganz andere Zwänge, Zwänge persönlicher Art, aus denen auszubrechen auch überhaupt nicht einfach ist: Zwänge in uns, die uns zu Gefangenen unserer selbst machen. Es kann sein, dass wir ängstlich sind, traurig, mutlos, kraftlos – und vielleicht gar nicht so recht wissen, warum, weil unsere Lebensbedingungen doch eigentlich ganz in Ordnung sind.
Wenn wir uns in einer solchen Situation befinden, ist es besonders wichtig, dass wir über den Rand unseres inneren Gefängnisses hinausschauen und wahrnehmen, dass da noch ganz viel freies, weites Land ist, eine Welt voller Möglichkeiten. Diesen Blick über unsere inneren Begrenzungen hinaus werden wir vielleicht nicht selbst schaffen. Da brauchen wir Hilfe durch diejenigen, die den weiten Blick noch haben und die Kraft und die Geduld und den guten Willen und den Glauben an die Möglichkeit der Freiheit und den Glauben daran, dass es Lösungen gibt, die nicht nur von uns selbst kommen müssen, die uns vielmehr geschenkt werden können.
Es ist ganz wichtig, dass wir auch dieses aus unserem kleinen Predigtabschnitt mitnehmen: dass die Wüstenwanderung damals eine Gemeinschaftsaktion war. Die Menschen, aus denen später das Volk Israel wurde, die Hebräer, haben sich gemeinschaftlich auf den Weg gemacht: die Großen und die Kleinen, die Starken und die Schwachen, die Mutigen und die Ängstlichen, die Gesunden und die Kranken, die Fröhlichen und die Traurigen. Sie haben immer den einen vor Augen gehabt, der für sie Ziel und Wegweisung, Trost und Quelle der Kraft zugleich war.
So können wir durchs Leben gehen und so haben wir eine Chance, aus den diversen Zwängen des Leben auszubrechen, indem wir uns gemeinsam auf den Weg machen und uns vom Gottvertrauen leiten lassen. Das gilt für unser ganzes persönliches Leben, das gilt für unser Leben in unserem Land und das gilt auch für unser weltweites Miteinander.
Wenn wir auf dieses Jahr zurückschauen, dann können wir uns ganz persönlich fragen: Wann stand mir jemand zur Seite, als es mir schlecht ging, und hat mir ein Stück des Weges weitergeholfen, als ich selbst nicht mehr recht weiterwusste? Und wann habe umgekehrt ich jemanden an die Hand genommen und habe ihn getröstet und geführt, bis er wieder stark genug war, seine Dinge selbst zu regeln?
Wir können uns auch fragen: Vor welchen Belastungen sind wir alle gemeinsam in diesem Jahr verschont geblieben? Große Katastrophen und Unglücke und Anschläge sind uns in Deutschland in diesem Jahr erspart geblieben. Dafür können wir sehr dankbar sein. Wir können überlegen, wie wir unsere Dankbarkeit mit um so mehr Aufmerksamkeit für die Nöte anderer zum Ausdruck bringen.
Als sich vor einem Jahr die Tsunamikatastrophe ereignete, hat sich gezeigt, dass es durchaus eine weltweite Hilfsgemeinschaft gibt, eine den ganzen Globus umfassende Bereitschaft, den Hilfsbedürftigen beizustehen.
Wir haben das zu Ende gehende Jahr aus Anlass des Predigttextes nun ein wenig unter dem Bild der beschwerlichen Wüstenwanderung betrachtet. Wir hätten noch einen Schritt weitergehen und fragen können nach den Erfahrungen der Freiheit, nach den Erlebnissen des Schönen, des Gelungenen, des Erfolges. Wir hätten fragen können nach den Momenten des Glücks, der Zufriedenheit. Wir hätten fragen können nach erfüllten Wünschen und Hoffnungen, nach Zielen, die wir erreicht haben.
Auch da hätten wir vieles erzählen können.
Das Leben hält beides für uns bereit, das Schöne und das Schwere, in immer neuer Mischung. Beides anzunehmen und mit beidem so zu leben, dass darin unser Dank für die wunderbare Gabe des Lebens zum Ausdruck kommt, darum können wir uns nur bemühen.
Um ein Leben in Dankbarkeit sollten und wollen wir uns auch bemühen und so demjenigen die Ehre geben, von dem wir alle das Leben empfangen haben.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. Dezember 2005)