Das Träumen und Hoffen nicht aufgeben!
1. Januar 1995
Neujahr
Sprüche 16,1-9
1. Januar, ein neues Jahr hat begonnen, ein neues Jahr, ein neuer Anfang, ein neuer Weg, gute Vorsätze – was wird daraus werden? Gestern Abend haben wir vor allem zurückgeblickt, heute geht der Blick vor allem nach vorn.
Haben Sie sich etwas vorgenommen? Oder haben Sie sich gesagt: Das bringt nichts. Gute Vorsätze sind ja doch schnell wieder dahin!? Ein Jahresrückblick, wie ihn uns die Medien in vielfältiger Weise geliefert haben, hat ja immer zu einem guten Teil etwas Deprimierendes an sich. Da sehen wir im Rückblick so viel Schlimmes, dass wir uns fragen: Will es denn gar nicht besser werden mit der Welt, mit den Menschen?! Lernen wir denn gar nichts dazu?! Aber es geschehen doch auch immer wieder überraschende Dinge im guten Sinne – im letzten Jahr z. B. die Aufhebung der Rassentrennung in Südafrika. Das war doch etwas Großartiges. Und der Kommentator merkte an, man solle die Hoffnung doch nicht aufgeben, es gäbe immer wieder Grund zur Hoffnung.
Recht hat er! Das können wir als Christen nur unterstreichen. Wir orientieren uns an Christus. Er hat zu seiner Zeit in einer Welt voller Not und Elend, voller Gewalt und voller Ungerechtigkeit die Liebe zum Menschen gelebt – gegen allen Augenschein, gegen alle tägliche Erfahrung der Lieblosigkeit. Es ist kein Wunder, dass viele um ihn herum sagten: „Dieser Mensch ist von Gott.“
Zu Weihnachten haben wir den Anfang seines Lebens gefeiert. Im Rückblick auf sein Leben hätte er den Schluss ziehen können: „Es ist alles vergebens gewesen – das Gute passt nicht in diese Welt, die Liebe hat kein Chance.“ Aber das Gegenteil hat er gesagt: „Ich bleibe bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Seine nicht zu erschütternde Liebe hat er zum Ausdruck gebracht. Damit hat er in unsere menschliche Geschichte einen Haltepunkt hineingegeben, einen Felsbrocken könnten wir auch sagen, auf den man sich retten kann in den Stürmen des täglichen Lebens, an dem wir uns festhalten, auf dem wir Zuflucht suchen können und von dem aus wir nach weiteren Möglichkeiten der Rettung, der Hilfe, des Lebens Ausschau halten können.
Woran wollen wir uns orientieren bei unserem Weg in die Zukunft? An der Summe unserer täglichen Erfahrungen, an der Schreckensbilanz des letzten Jahres oder an einzelnen schönen Erlebnissen? Was ist uns wichtig, was dient uns als Leitbild, woran wollen wir uns halten?
Ich bin überzeugt davon, dass es für uns alle gut ist, wenn wir uns an dieser göttlichen Gestalt Jesus Christus orientieren. Er war äußerlich gescheitert, aber seine innere Kraft ist weiter unter uns mächtig. Sie kann auch uns weitertragen durch die Jahre und uns das Leben immer neu als eine gute Gabe Gottes annehmen und gestalten helfen.
Wir dürfen uns, was den Weg in die Zukunft anbetrifft, keinen Illusionen hingeben, aber wir brauchen eben auch nicht ohne Hoffnung zu sein. Eine Illusion wäre es zu meinen, wir könnten die Zukunft nach unserem Willen gestalten. Eine berechtigte Hoffnung wäre es dagegen, darauf zu vertrauen und darauf hinzuarbeiten, dass Gott es gut mit uns meint und seine Schöpfung und seinen Geschöpfen die Wandlung zum Guten schenken wird.
Über die Illusion, wir hätten den Lauf der Dinge in der Hand, sagt der Volksmund: „Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“ Dies ist eine schlichte Lebensweisheit. Ihr Realitätsgehalt ist nicht zu leugnen. Sie ist auch durch keinen Kraftakt aus der Welt zu schaffen. Da hilft kein Ärmelaufkrempeln, da hilft kein Superhirn und keine Supertechnik, da hilft nicht einmal der allerbeste Wille. Diese Lebensweisheit soll uns aber nicht entmutigen. Sie soll uns einfach bescheiden machen und uns davor bewahren, dass wir uns übernehmen und uns überheben und daran enttäuscht und vielleicht verzweifelt zugrunde gehen.
Das biblische Buch der Weisheit, das Buch der Sprüche Salomos, formuliert in unserem heutigen Predigttext dieselbe Lebensweisheit so: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.“ Wir machen die Pläne, wir nehmen uns etwas vor und tun auch das Unsre, die Pläne umzusetzen in Wirklichkeit. Aber ob dann tatsächlich dasjenige daraus wird, was wir uns wünschen, das liegt nicht in unserer Hand. Das Gelingen liegt letztlich allein in der Hand Gottes.
Wir können dies als eine tröstliche Formulierung nehmen. Dass es anders kommt, als man denkt, ist ja eigentlich recht betrüblich. Aber die Vorstellung, dass es Gottes höherer Wille sein könnte, der unsere Pläne durchkreuzt, hat, wie ich finde, etwas Beruhigendes an sich. Denn Gott meint es gut mit uns. Es kann nicht das Schlechteste sein, die Verwirklichung unserer Vorhaben in seine Hand zu geben.
Es fällt zugegebenermaßen oftmals nicht leicht sich vorzustellen, es könnte Gottes Eingreifen gewesen sein, das unseren Plan vereitelt hat, gerade wenn wir es doch so gut gemeint haben. Und es ist eine schier unerträgliche Vorstellung, es könnte Gottes Wille hinter all dem Schrecklichen stehen, das sich im Laufe eines Jahres auf unserem Erdball abspielt.
So dürfen wir den Satz aus dem Buch der Sprüche aber nicht missverstehen. Mit dem Neuen Testament teilen wir die Überzeugung, dass Gott uns nicht das Schreckliche auferlegt, sondern dass er uns in den Schrecknissen des Lebens zur Seite steht. Christus hat mitgelitten, und zwar sogar auch mit denen, die schuldig geworden sind. Kein Unglück darf einfach mehr als Bestrafung der Sünder ausgelegt werden. Denn auch den Sünder hat Gott lieb. Sein Leben und seine Umkehr will er fördern, nicht seinen Untergang.
„Der Mensch denkt, Gott lenkt“ – diese Aussage soll uns trösten und uns stärken, an der Hoffnung festzuhalten. Das soll uns Mut machen, Pläne zu schmieden, die auch durchaus über das hinausgehen können, was wir selbst meinen vollbringen zu können. Es hängt nicht alles nur an uns. Was wir mit unseren kleinen Kräften nicht vermögen, das kann Gott doch noch zuwege bringen. Das ist die positive Aussage dieses Spruches.
Wenn wir an das Ende der Rassendiskriminierung denken, dann können wir zwar einige Menschen benennen, die sich sehr für den Friedensprozess eingesetzt haben und sich dabei große Verdienste erworben haben. Aber es ist doch letztlich ein Geschenk Gottes, dass es zu einem guten Ergebnis gekommen ist. Bemerkenswert ist, dass Menschen nicht aufgegeben haben, sich um einen friedlichen Wandel zu bemühen, dass Menschen gegen allen Augenschein und inmitten der Gewalt weiter an die Möglichkeit des Wandels und an die Kraft der Versöhnung geglaubt und sich dafür eingesetzt haben.
In diesem Sinne können wir auch mit guten Vorsätzen in das neue Jahr hineingehen. Wir dürfen uns getrost etwas vornehmen, von dem wir aus Erfahrung eigentlich sagen müssten: Das wird ja doch nichts. Doch, es kann etwas werden. Vor Gott ist kein Ding unmöglich. Er kann unseren Plänen zur Verwirklichung verhelfen. Wenn er es nicht gelingen lässt, dann sollen wir darüber nicht in Verzweiflung geraten. Dann sollen wir noch einmal Mut fassen und an der Hoffnung festhalten.
Ein neues Jahr ist ein neuer Anfang, einer neuer Anlass, gute Vorsätze zu fassen. Wir sollten keine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Es gibt weitere solcher Gelegenheiten. Das Weihnachtsfest z. B. hat für viele Menschen die Kraft, den guten Willen zu mobilisieren. Auch die Geburt eines Kindes kann ungeahnte Kräfte in uns wecken. Oder die Begegnung mit einem Menschen, der uns liebt und der die Liebe in uns weckt, kann uns zum Guten verwandeln.
Wenn wir in die Zukunft hineinblicken, dann dürfen und sollen wir getrost auch mit dem rechnen, was wir selbst nicht schaffen können, was für uns selbst nicht machbar ist. Auch Wunder sind möglich. Wir dürfen das Träumen und Hoffen nicht aufgeben.
Der Jahreswechsel ist stets eine gute Gelegenheit, sich an einen Mann zu erinnern, der die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgegeben hat, der in einer Situation des Endes sein Leben in die Hand Gottes gegeben hat in der Zuversicht: „Bei dir, Gott, bin ich geborgen.“ Ich meine Dietrich Bonhoeffer, der vor genau 50 Jahren, nämlich zum Jahreswechsel 1944/45 dieses wunderbare Gedicht verfasst hat, das Sie alle kennen und aus dem wir noch singen werden: „Von guten Mächten wunderbar geborgen.“
Bonhoeffer hatte dieses Gedicht, das ja ein Gebet ist, in der Untersuchungshaft in der Prinz-Albert-Straße in Berlin geschrieben. Dort hatten ihn die Nationalsozialisten wegen des Verdachts auf Beteiligung an einer Verschwörung gegen Hitler festgesetzt. Aus dem Gefängnis heraus legte Bonhoeffer dieses Gedicht einem Brief bei, den er seiner Mutter zum Geburtstag am 28. Dezember geschrieben hatte.
Bonhoeffers Leben war bedroht. Er wusste, dass sein Leben akut bedroht war. Dennoch schrieb er diese Verse, die so voller getroster Zuversicht sind – im ersten Vers: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“ Und im letzten Vers: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Es gibt wohl kaum schönere und ermutigendere Worte für den Weg in das neue Jahr. Sie sind im vollen Bewusstsein der Bedrohungen des Lebens verfasst. Sie entspringen dem tiefen Glauben an denjenigen, der auf seinem Lebensweg von der Krippe zum Kreuz durch viele Tiefen hat gehen müssen und der dennoch an der Liebe zum Leben und an der Liebe zum Menschen festhalten hat.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. Januar 1995)