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22.-28.11.20


Der Schatten kommt vom Licht

Psalm 90,2


Wenn es die Geburt nicht gäbe, dann gäbe es den Tod nicht. Wenn wir nicht geboren wären, müssten wir nicht sterben. Wäre es darum besser, wir hätten gar nicht erst das Licht der Welt erblickt? Wäre es besser, wir hätten nichts empfangen, damit wir einiges Tages nicht wieder loslassen müssen? Hätte es die Liebe besser nicht gegeben, dann wäre uns der Schmerz des Abschieds von vornherein erspart geblieben?

Das Leben ist Leiden, betonen die Buddhisten, auch wenn alles gut geht. Je besser es geht, desto heftiger der Schmerz, je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu verlieren, je höher wir steigen, desto tiefer fallen wir.

Einige von Ihnen werden es vielleicht genau so empfinden, nachdem Sie einen geliebten Menschen verloren haben: „Ich bin in ein tiefes Loch gefallen.“ Diese Not lässt sich nicht wegreden, der seelische Schmerz ist so real wie der körperliche. Und die Wunde der Seele braucht eine lange Zeit der Heilung – wie eine Wunde des Leibes.

Nur im Kopf können wir, auch wenn das Herz blutet, uns dessen vergegenwärtigen, dass der Schatten vom Licht kommt, dass die Tränen der Trauer Wasser des zerflossenen Glücks sind. Wir können und dürfen klagen, beklagen, was nicht mehr ist, was schön war, was uns an Gutem und Wunderbarem genommen ist. Wir dürfen den Schöpfer anklagen – er wird es uns nachsehen. Denn er weiß, dass er uns mit dem Geschenk des Lebens auch eine große Last auferlegt hat.

Aber wir werden es beim Klagen und Anklagen nicht belassen. Wir werden, wenn wir unseren Schmerz hinausgeschrien und unseren Zorn entladen haben, uns besinnen. Wir werden uns besinnen auf den Anfang, den Ursprung, die Quelle des reinen Wassers, die Quelle des Lichts. Wir werden uns besinnen auf das noch Unerschaffene. Was wäre, wenn all das nicht wäre, was wir haben, was wir sind, was wir erleben? Was wäre, wenn es das Leben nicht gäbe?

Es gibt durchaus den verzweifelten Schrei – wir hören ihn aus dem Buch Hiob und einigen Psalmen und Klageliedern: „Ach wäre ich doch nicht aus dem Leib meiner Mutter gekrochen!“ Der in tiefstem Schmerz ertrinkende Mensch mag sich dies wünschen: nie geboren zu sein.

Aber ist es nicht – jenseits des extremsten Schmerzes – unser aller Wunsch: zu leben? Wäre nicht das ein Jammer – wenn ein Jammer dann möglich wäre – wäre nicht das ein Jammer, nicht zu sein? Hätten wir nicht gerade dann Grund zur Traurigkeit, wenn es das Leben gar nicht gäbe?!

Wenn wir nicht sind, können wir nicht traurig sein, das ist wohl wahr. Aber wir sind. Wir dürfen traurig sein, weil wir empfangen haben und ein wertvolles Gut herzugeben haben.

Wir sind da. Uns ist das Leben gegeben, bevor wir uns für das Leben haben entscheiden können. Das Leben ist uns vorgegeben. Erst im Nachhinein können wir sagen: „Ja“ oder „nein“.

Die biblische Tradition macht uns Mut zum Ja: Sag Ja zum Leben! Nimm das Leben an! Mach dir das Leben zur Aufgabe! Nimm auch die Schattenseiten an – als unvermeidlich! Trag das Licht dort hin, wo Schatten ist, wohl wissend, dass dann an anderer Stelle Schatten sein wird! Nimm das menschliche Leid an, nimm den leidenden Menschen an, lass dich herausfordern zur liebevollen, heilenden Zuwendung! Und wenn du selbst leidest: Schrei nach Hilfe! Fordere andere auf, dir zu helfen! Und wenn du allein bist, ruf nach dem, der immer bei dir ist!

Den biblischen Texten spüren wir das Ringen der Menschen ab: wie sie mit den Ungereimtheiten und Zumutungen des Lebens kämpfen, wie sie zweifeln und leiden und dann am Ende doch sagen: „Danke, Gott, für das Geschenk des Lebens. Hilf mir, Gott, zu leben, wie es deinem unergründlichen Willen entspricht.“ Wie viele Psalmen beginnen mit diesem Ringen und enden mit diesem Lobpreis?!

Das ist die biblische Botschaft: das Ja zum Leben – trotz allem, der Auftrag zum Leben, der Auftrag, das Leben anzunehmen, das Leben zu schützen, zu bewahren, zu entfalten, das Leben als Gottes Schöpfung zu achten, es im Sinne des Schöpfers zu gestalten, so gut wir auch immer den Willen des Schöpfers zu ergründen vermögen.

Der Respekt vor dem Schöpfer verbietet es uns, dass wir uns selbst zu den obersten Herren der Schöpfung machen. Unser Auftrag zur Mitgestaltung dieser Schöpfung schließt nicht ein, dass wir die Erde mit Krieg und Terror überziehen. Der Respekt vor dem Leben lässt es auch nicht zu, dass wir uns das Wohlergehen von Millionen und Milliarden von Menschen gleichgültig sein lassen.

Wir sind zur dankbaren, liebevollen, demütigen, engagierten Hingabe an das Leben berufen. Wir sind dazu berufen, Schmerzen zu lindern, Wunden zu verbinden, Kranke zu heilen, Traurige zu trösten, Streit zu schlichten, Fehler einzugestehen und schuldhaftes Verhalten zu bereuen. Wir sind dazu berufen, uns mit Feinden zu versöhnen, Böses mit Gutem zu vergelten.

Wir sind dazu berufen, nach den guten Kräften im Menschen Ausschau zu halten und sie zu entfalten, und nach dem zu suchen, was Hoffnung macht und neues Schönes, Gutes wachsen lässt.

Wir sind dazu berufen, uns durch den Tod zur Umkehr zum Leben bewegen zu lassen: „Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ Der Tod kann uns das Leben lehren. Der Tod macht nicht nur alles dunkel, er kann uns das Leben auch in einem neuen Licht erscheinen lassen. Lernen wir das Leben nicht neu im Angesicht des Todes? Lernen wir nicht, wie kostbar jeder einzelne Tag ist? Und sehen wir nicht im Licht des Todes die Konturen unseres Lebens schärfer, sodass wir unser Leben neu zu ordnen vermögen, manches aufzugeben, was uns wichtig erschien, und manches wichtig zu nehmen, was wir zuvor gar nicht beachtet hatten?!

Prioritäten neu setzen!
Ist das nicht einigen von Ihnen vielleicht auch so gegangen: dass die Erfahrung des Todes Sie an ein Ende geführt hat, das sich dann in einen neuen Anfang verwandelt hat?

Einen lieben Menschen verlieren, ist fast wie selbst sterben, manchmal vielleicht noch schlimmer. Aber der Tod ist nicht das Letzte. Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages. Aus der Erfahrung des Todes kann uns neue Lebenskraft erwachsen, so, wie das Samenkorn im Boden erstirbt und neuem Leben Nahrung und Kraft gibt.

Was war, ist nicht vergangen. Es bleibt als Vergangenheit gegenwärtig. Unsere Lieben sind nicht dahin. Sie sind Teil unserer selbst, sie sind in unseren Herzen lebendig, in unseren Gedanken, in unseren Gesten, in dem, was wir haben, was wir sind und was wir tun.

Wir sind aus der Liebe geboren. Wir leben aus der Kraft der Liebe. Wir werden dereinst in Liebe aufgenommen. Das glauben wir, das hoffen wir. Aus der Kraft dieses Glaubens heraus und auf diese Hoffnung hin unser Leben zu gestalten, das ist unser Auftrag.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 23. November 2003)

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