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Trinitatis (30.5.21)


„Suchende sind wir“

26. Mai 1991

Trinitatis

Johannes 3,1-8


Es gibt ein modernes Kirchenlied, das fängt an mit den Worten: „Suchende sind wir.“ Mir gefallen diese Worte. Denn ist es nicht wirklich so: Suchende sind wir! Unser Leben lang. Vielleicht ist dies das Schönste, was uns widerfahren kann, wenn wir am Ende sagen können: „Nun kann ich in Frieden sterben; denn ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.“ So wie es der greise Simeon gesagt hat: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“

Wonach suchen wir? Das ist wohl schwer in Worte zu fassen. Vielleicht wissen wir es selbst nicht genau. Es muss etwas sehr Wichtiges sein: Glück, Zufriedenheit, Anerkennung, Geborgenheit, Gerechtigkeit, Sinn, Halt, Liebe – alles zusammen vielleicht – und noch manches mehr. Die Bibel spricht vom Heil. Sie meint damit all das, wonach wir uns sehnen, das Ziel unseres Suchens. Für das Neue Testament steht fest: Das Heil ist erschienen in der Gestalt eines Menschen: in Jesus von Nazareth. Er ist der Heiland. Wer sucht, der wird bei ihm finden. 

Johannes berichtet in diesem Zusammenhang von einem Menschen mit Namen Nikodemus. Nikodemus war eine hochgestellte Persönlichkeit. Er war Jude. Er gehörte dem Synedrium an, dem siebzigköpfigen Leitungsgremium der Juden in Jerusalem. Er war Pharisäer und das bedeutete: Er war ein Gelehrter, der die Tora und ihre Auslegung genau kannte, der die jüdischen Rechtsvorschriften, die religiösen Riten und Regeln nicht nur kannte, sondern sie auch aufs Genaueste im täglichen Leben beachtete. Er hielt sich deshalb von den Nichtjuden, den Römern beispielsweise als den Unreinen, fern und mied auch den Kontakt zur einfachen jüdischen Bevölkerung, die es mit den religiösen Vorschriften nicht so ernst nahm und ernst nehmen konnte und die für ihn deshalb zu den Unreinen, den Sündern aus seiner Sicht, zählte. 

Dieser Nikodemus kam im Dunkel der Nacht zu Jesus und sagte zu ihm: „Rabbi, d. h. Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“

Nikodemus hatte von Jesus gehört. Er hatte ihn in der Öffentlichkeit erlebt. Er war durch sein Auftreten von ihm zutiefst beeindruckt, und für ihn stand fest: Dies ist kein gewöhnlicher Mensch. Mit diesem Mann ist Gott im Bunde. So hatte sich Nikodemus – als Suchender – auf den Weg zu Jesus gemacht. Für einen Pharisäer, noch dazu in seiner Position, war das ein ungewöhnlicher Schritt. 

Das Neue Testament beschreibt uns Pharisäer im Allgemeinen anders: als welche, die schon gefunden haben, die sich ihres Heils sicher wähnen. Nikodemus aber war noch auf der Suche und gestand dies ein. Wie sympathisch! Nikodemus suchte noch, er hoffte noch, er hatte noch Erwartungen. Jesu Auftreten war ihm ein Anstoß, sich an ihn zu wenden, bei diesem ungewöhnlichen Menschen weiterzufragen, nachzubohren.

Nikodemus hat sein Interesse an Jesus auch später nicht verloren, wie Johannes uns berichtet. Als seine Kollegen aus dem Kreis der Pharisäer Jesus vorverurteilten, mahnte Nikodemus: „Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkannt hat, was er tut?“

Als der Leichnam Jesu vom Kreuz abgenommen wurde und Josef von Arimathäa ihn zu Grabe trug, brachte Nikodemus Myrrhe gemischt mit Aloe dazu, etwa hundert Pfund.

Wir lesen im Neuen Testament nichts davon, dass Nikodemus zu einem Jünger Jesu geworden wäre, dass er zum Glauben an Jesus gekommen wäre, wie so mancher andere. Wir lesen nur von diesem Hingezogensein zu Jesus, von seinem Interesse an diesem Jesus, in dem, so mag er es empfunden haben, verborgen ist, was er in seinem Leben bisher nicht hatte finden können.

So spricht er Jesus im Dunkel jener besagten Nacht an mit dem Ehrentitel „Rabbi“, Meister. Jesus antwortet ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Nikodemus war zu Jesus mit einer unausgesprochenen Hoffnung gekommen. Jesus fasst das Ziel seiner Hoffnung in die Worte „Reich Gottes“. Auch so lässt sich beschreiben, was sonst mit dem Wort Heil gemeint ist: „Das Reich Gottes sehen“. Um zu diesem Ziel zu gelangen, muss man „von neuem geboren werden“, sagt Jesus. Auf die Nachfrage Nikodemus': „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“, antwortet Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“

Wir hören aus diesen Worten den Hinweis auf die Taufe heraus. Nikodemus fragt kurz darauf noch einmal nach: „Wie kann das geschehen?“ Das bleibt auch unsere Frage: Wie kann es geschehen, dass durch eine neue Geburt aus Wasser und aus Geist der Weg eröffnet wird zum Reich Gottes, zum Heil, zum Ziel aller menschlichen Sehnsucht?

Geboren werden – das ist, was kein Mensch sich selbst bescheren kann. So wie wir nichts dazu haben beitragen können, dass wir im Leib der Mutter durch ihr Fruchtwasser genährt herangewachsen und eines Tages aus dem dunklen Mutterleib heraus ans Licht des Tages gelangt sind, so ist auch die geistliche Geburt nicht unser eigen Werk. Wir können uns nicht selbst taufen. Wir bedürfen, dass dies an uns geschieht. Und wenn es an uns geschieht, dann durch das Zeichen des Wassers und den Zuspruch der Worte. Auch wenn es auf unseren eigenen Wunsch hin geschieht, vollzieht sich an uns etwas, was seinen Ursprung außerhalb unserer selbst hat, im Wirken jenes Jesus von Nazareth, des Christus. Ob sein Geist im Vollzug der Taufhandlung und im Leben des Täuflings wirksam wird, das haben wir nicht in der Hand, das bleibt für uns unverfügbar. Der Wind weht, wo er will. Das gilt auch für den Geist Gottes. 

Nikodemus, der wie wir Schwierigkeiten gehabt hat, die Worte Jesu zu verstehen, wird aus ihnen vielleicht Folgendes herausgehört haben: dass er das, was er suchte, nicht so einfach würde erlangen können. Er könnte sich taufen lassen, aber dann bliebe doch die Unverfügbarkeit des Geistes, dieser Kraft des Glaubens, die Herz und Verstand öffnet für das in Christus erschienene Heil und hilft, das Rechte zu tun im Vollzug des täglichen Lebens.

Nikodemus wird sich vielleicht gefragt haben, wie weit es denn des Wassers bedürfte und überhaupt des äußerlichen Aktes der Taufe, um von Neuem geboren zu werden, wenn doch letztlich der Geist weht, wo er will. Jesus hat ihm den Hinweis auf das Wasser als eines äußerlich sichtbaren Zeichens nicht erspart. An der Frage dieses äußeren Zeichens kann Nikodemus sich prüfen, wie ernst er es meint. Nikodemus hat sich nicht taufen lassen. Er hat sein Interesse an Jesus nicht öffentlich und damit auch nicht vor seinen Mitpharisäern und Kollegen im Kreis des Synedriums bekannt. Nikodemus hat eine Ahnung in sich gespürt, dass in diesem Jesus von Nazareth etwas Besonders für ihn zu finden wäre. Er ist bei seiner Suche einige Schritte auf Jesus zugegangen. Er ist aber auf halbem Wege stehengeblieben und verharrte, wie Johannes es uns darstellt, in der Position eines sich bedeckt haltenden wohlwollend Interessierten.

„Suchende sind wir“ und Suchende bleiben wir wohl unser Leben lang. Wir haben wohl alle, wie Nikodemus, eine Ahnung davon, dass uns Jesus Christus als göttliches Geschenk gegeben ist zur Erfüllung unserer Sehnsucht nach dem, was auszudrücken uns so schwerfällt, dem Heil unseres Lebens. Wir sind auf ihn zugegangen und gehen auf ihn zu, wir bleiben verhalten wie Nikodemus oder gehen ein kleines Stück weiter. Viele von uns sind getauft, und heute haben wir die Taufe an Jonas vollzogen. Wir können nur darum bitten, dass uns allen der Geist gegeben sein möge, der uns hilft, ein Leben zu führen, das mehr ist als das, was die Bedürfnisse unseres Körpers uns abverlangen, ein Leben im Geiste der Liebe Gottes, wie sie in Christus erschienen ist. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 16. Mai 2005)

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