Gebet und Buße sind Ausdruck menschlicher Würde
20. November 1985
Buß- und Bettag
Beides, beten und Buße tun, widerstrebt dem modernen Menschen. Das Gebet verträgt sich nicht gut mit dem Stolz auf die eigene Leistung. Es erscheint auch zu kraftlos angesichts der drängenden Probleme, die zu lösen sind. Und es trägt den Makel der Ohnmacht: Wenn wir nicht weiterwissen, fangen wir an zu beten.
Und was die Buße betrifft, da sträubt sich auch der Stolz desjenigen, der sich durch nichts und niemandem eine Schuld für irgendetwas unterschieben lassen will: „Reden Sie mir keine Schuldgefühle ein!“ Das Eingeständnis von Fehlern könnte von anderen ausgenutzt werden. Die eigene Schwäche ist des Anderen Stärke. Und wer hat überhaupt das Recht, den moralischen Zeigefinger zu erheben?! Wer will sich anmaßen zu sagen, was gut und böse ist?! Wer will sich zum Richter über andere erheben?! Das Gebet und die Buße sind Ansinnen, die uns ziemlich nahetreten, sind Ansinnen, die kritische Punkte unseres Selbstbewusstseins berühren.
Im Innersten unseres Herzens werden wir uns vielleicht manche Schwäche eingestehen. Manch einer, der sich anders gibt, wird, wenn er bei sich selbst ist, abends im Bett vielleicht die Hände falten und herbeizubeten versuchen, worauf er sonst keinen weiteren Einfluss mehr hat. Und wer sich lieber die Zunge abreißen würde, als jemals ein Quäntchen Schuld einzugestehen, mag doch innerlich vom schlechten Gewissen zerquält sein.
Es gehört zur befreienden Botschaft Jesu Christi, dass wir uns nichts vorzumachen brauchen – uns selbst nicht und anderen genauso wenig. Es ist ein Akt der Befreiung, nicht mehr der sein zu müssen, der wir wirklich nicht sind. Was aus falschem Stolz als schwächlich mitleidig belächelt und gleichzeitig mit dem Heldenmut des Verzweifelten geleugnet wird, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, das ist doch nichts als die bloße Wahrheit über unser Leben.
Ich möchte noch einmal auf das Gebet zurückkommen. Gerade im Zusammenhang mit der Friedenswoche stellt sich immer wieder die Frage nach dem Stellenwert unseres eigenen Handelns. Ob wir den Frieden schaffen können – mit unserer eigenen Hände Arbeit, mit unseren Ideen, unseren Plänen, unserem Einsatz –, diese Frage wartet immer wieder neu auf eine Antwort. Und die Frage ist geeignet, die am Thema Interessierten untereinander aufzuspalten: „Wir schaffen es nicht!“ – „Wir schaffen es doch!“ Oder wenn das Ergebnis dahingestellt bleibt: „Ob wir es schaffen oder nicht, liegt ganz bei uns.“ Und: „Ob wir es schaffen oder nicht, liegt ganz und gar nicht in unserer Hand.“
Eigentlich sollten wir über dieses Thema nicht eine akademische Diskussion führen. Denn wo es um den Frieden gehen soll, da darf nicht nur der Verstand eingeschaltet sein, da muss das Herz beteiligt werden. Aber gewisse Voraussetzungen muss doch zunächst einmal jeder für sich klären, und dabei sollten wir uns die nötige Offenheit vor uns selbst und anderen zugestehen.
Mit dem ganzen Gewicht der in den biblischen Aussagen verdichteten Erfahrungen mit dem Geschöpf Mensch möchte ich sagen: Den Erfolg unseres Handelns können wir nie und nimmer sicherstellen. Das Gebet ist unsere Antwort auf diesen Tatbestand – nicht, dass wir meinten, damit doch noch auf andere Weise zum Erfolg kommen zu können. Nein, es ist Ausdruck unserer auf Einsicht gegründeten Bescheidenheit. Wir erkennen unsere menschlichen Begrenzungen an und stellen den Erfolg unserer Bemühungen demjenigen anheim, dem wir ohnehin und von vornherein alle Voraussetzungen unseres Daseins verdanken.
Ich fühle mich nie ganz wohl bei solcher Betonung unserer menschlichen Grenzen, denn die Gefahr des Missverständnisses ist gegeben mit Schlussfolgerungen, die gar nicht beabsichtigt sind. Aber aus taktischen Gründen die Wahrheit nicht auszusprechen, macht letztlich auch alles weitere Reden unglaubwürdig und kraftlos.
Ein Missverständnis wäre es zu meinen, nun könnten wir die gefalteten Hände in den Schoß legen. So ist das Beten nicht gemeint: dass wir unsere Hände binden und anderen das Handeln überlassen. Nein, es geht um eine Voraussetzung unseres Handelns, aber eben um eine Voraussetzung unseres H a n d e l n s. Wir sollen unser Leben aktiv ergreifen mit dem ganzen Einsatz unserer Person, mit ganzer Hingabe die Aufgaben anpacken, vor die wir gestellt werden. Wir sollen nicht passiv, nicht müßig und nicht faul dastehen, sondern sollen unser Leben wie ein Feld fleißig beackern, sollen das Unsrige tun, dass da etwas Gutes wachsen kann.
Freilich, das Wachsen und Gedeihen ist nicht mehr unsere Sache. Dass aus unseren Bemühungen etwas Gutes wird, dass wir wirklich gute Frucht bringen, das liegt nicht mehr in unserer Hand. Das wäre allerdings ein feiner Bauer, der, nachdem er durch eine Predigt zur Einsicht in seine menschlichen Grenzen gekommen ist, die Arbeit ruhen ließe und sich allein aufs Beten verlegte. Nein, arbeiten sollen wir schon und uns dem Risiko des Misserfolgs, des Scheiterns aussetzen.
Nicht der erhoffte Erfolg soll unser Handeln motivieren, sondern der Auftrag, der auf diesen Erfolg ausgerichtet ist. Das kann das konkrete erlösende, befreiende Moment der Einsicht in unsere menschlichen Grenzen sein: dass wir uns in unserem Einsatz erfolgsunabhängig machen.
Um das in Bezug auf die Friedensproblematik mit einem Schlagwort auszudrücken: „Der Frieden ist nicht ein Ziel, sondern ein Weg.“ Natürlich ist der Frieden auch ein Ziel, aber dies kann er nur in einem eschatologischen, in einem endzeitlichen Sinne sein. Der Frieden als Ziel kann nur Gegenstand unserer Hoffnung sein, etwas, das uns zuteilwerden kann, so Gott will. Aber den Weg auf dieses Ziel hin zu beschreiten, das ist unsere Aufgabe. Da mögen sich Hindernisse vor uns auftürmen, da mögen wir stolpern, die Sicht mag uns vernebelt sein, das soll und darf für uns kein Grund sein, den Rückzug anzutreten oder uns auf Abwege abdrängen zu lassen. Der Weg zum Frieden, der Weg des Friedens, das ist unser Auftrag, ein Anspruch an uns, der in nichts gemildert ist durch die Einsicht in die Grenzen unseres menschlichen Vermögens. Im Gegenteil: Diesem Anspruch können wir uns erst in seiner ganzen Fülle aussetzen, wenn wir von allen Selbsttäuschungen, von allen Illusionen über unsere Möglichkeiten frei sind.
Die Predigt der menschlichen Schwachheit soll nicht die Moral derjenigen untergraben, die mit ganzer Hingabe für gute Ziele sich einzusetzen bereit sind. Sie soll diese Moral vielmehr stärken.
Ich komme zur Buße, die, wie anfangs schon gesagt, sich ähnliche Vorbehalte gefallen lassen muss wie das Gebet. Bei der Buße geht es nicht mehr nur um eine generelle Einsicht in menschliche Begrenzungen, sondern es geht um die spezielle Einsicht in die Unfähigkeit des Menschen, konsequent das Gute zu tun. Es soll hier nicht darum gehen, den Menschen schlecht zu machen. Es soll niemand heruntergeputzt und erniedrigt werden. Es geht um das Gegenteil.
Mag es auch paradox klingen: der Schuldspruch über uns ist ein Akt der Befreiung. Denn wer für schuldig erklärt wird, dem wird Verantwortung unterstellt. Und Verantwortung setzt Mündigkeit voraus. Und wer als mündiger Mensch angesehen wird, dem wird zugetraut, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen kann, dass er in Freiheit entscheiden kann, wählen kann zwischen verschiedenen Wegen, zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Rechten und dem Unrechten. Wer die Schuldfähigkeit des Menschen bestreitet, entmündigt sich selbst. Und wer Schuld nur an den geschriebenen Gesetzen unseres Staates misst, hat sich auch schon weitestgehend entmündigt, denn er lässt für sich nur das unumgängliche Minimum an Verantwortung gelten.
Der umfassende Schuldspruch, wie er aus dem Neuen Testament heraus an uns ergeht, ist zugleich der umfassendste Zuspruch menschlicher Würde, der Zuspruch von Verantwortlichkeit, der Zuspruch der Freiheit, zwischen Gut und Böse zu entscheiden.
Das Neue Testament geht noch weiter: Dem umfassenden Schuldspruch entspricht die allumfassende Vergebung Gottes. Was könnte dem Menschen Großartigeres getan werden, als dass ihm alles verziehen wird – in zuvorkommender Weise? Welche Hochachtung des Menschen, welche Liebe zum Menschen! Die Buße ist kein Akt der Selbsterniedrigung. Sie ist die Antwort auf einen Akt der Befreiung zum höchsten Menschsein.
Um welche Schuld geht es? Es geht um unsere Schuldigkeit zu sein, wie wir sein sollten und wie wir es doch nicht sind. Wir sind nicht so, wie wir sein sollten. Auch ein nicht biblisch und theologisch vorbelasteter Mensch wird die Gebrochenheit seines Daseins empfinden, die Kluft zwischen Sein und Sollen.
Wir sind ja nicht wie die Tiere, die ohne Bewusstsein aus sich selbst heraus instinktiv das jeweils eine tun. Als Menschen sind wir jeweils zwei in einer Person. Wir haben ein Bewusstsein von uns selbst und stehen uns – uns selbst beobachtend – gegenüber. Wir freuen uns über uns selbst, wir wundern uns über uns selbst, wir wollen das eine und tun gleichzeitig das andere. Wir sind uneins mit uns selbst. Wir sehen uns hin- und hergerissen von verschiedenen Interessen und Trieben und Einsichten.
Wir wären vollkommen orientierungslos, hätten wir in uns nicht ein intuitives Gespür für die Richtung in uns, in die wir gehen sollten. Wir folgen dieser Intuition nicht immer und viel zu selten. Aber es ist uns im Innersten ein Weg vorgezeichnet.
Und der ist nicht nur das, was wir uns in lernender Weise angeeignet haben, was uns in unserer Kindheit anerzogen und uns durch gesellschaftliche Einflüsse eingeprägt ist. Es ist eine tief in uns eingegrabene Ahnung davon, was unserem Leben dient und was uns unsere Entscheidungen als gut und böse, gerecht und ungerecht erleben lässt. Wenn wir nach einer Anschauung suchten von dem Menschen, der wir sein sollten, der wir aber nicht sind und mit unseren menschlichen Begrenzungen wohl auch nicht sein können, dann sollten wir auf Christus schauen.
Beim Blick auf ihn erleben wir, was wir schuldig bleiben. Das soll uns nicht niederdrücken. Christus ist nicht gekommen, um uns zu erniedrigen. Er will uns zu einer offenen Selbsterkenntnis führen und uns mit großer Anschaulichkeit die Richtung auf ein Menschsein sein, wie es unserer göttlichen Bestimmung entspricht und von unserer eigenen Intuition erahnt wird. Seine liebevolle Art hilft uns, den Weg dorthin zu beschreiten.
Gebet und Buße mögen dem modernen Menschen zuwider sein. In beidem drückt sich aber eine Wahrheit über uns aus, die, wenn wir sie anzunehmen bereit sind, unserem Menschsein Größe und Würde gibt.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. November 1985)