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23. Sonntag nach Trinitatis (3.11.24)


Christ und Staatsbürger

3. November 1991

23. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 22,15-22


Man muss sich die Szene unseres heutigen Predigttextes einmal leibhaftig vor Augen führen: Da kommen Leute zu Jesus und stellen ihm eine Frage. Diese Leute sind von Hintermännern geschickt. Und diese haben nichts Gutes im Sinn. Sie wollen Jesus in eine Falle locken - durch eine Frage, die ihm zum Verhängnis werden soll, wie immer er sie beantwortet - ob mit Ja oder mit Nein. 

Die Hintermänner, es sind Pharisäer, schicken eine Gruppe zu Jesus. Diese besteht aus zwei Parteien. Die eine wird empört sein, wenn Jesus die Frage mit „Ja“ beantwortet, die andere wird empört sein, wenn er sie mit „Nein“ beantwortet. Die eine Gruppe besteht aus ihren eigenen Leuten. Es sind Anhänger der Pharisäer. Die anderen sind Leute des Herodes, Vertreter des jüdischen Königs. Es handelt sich also um eine gemischte Gruppe aus Vertretern der Religion und Vertretern des Staates. Die Frage, die Jesus gestellt wird, soll ihn in einen Loyalitätskonflikt bringen - in ein Entweder-Oder - ein Bekenntnis entweder zum Staat oder zur Religion. 

Dass gerade die Pharisäer auch noch Vertreter des Herodes zu Jesus schicken, ist besonders hinterhältig. Denn sie selbst, die Pharisäer, sind Gegner des Herodes, des jüdischen Königs, der allerdings König ist von Roms Gnaden, und die heidnischen Römer zählen ebenfalls zu ihren Gegnern. 

Die Pharisäer verstanden sich, wie wir immer wieder im Neuen Testament lesen, als die Musterfrommen. Sie hielten sich von allen Unfrommen fern. Sie mieden und verachteten die „Heiden“ und diejenigen, die in „heidnischen“ Diensten standen, an oberster Stelle den von der römischen Besatzungsmacht eingesetzten und tolerierten jüdischen König. 

Die Pharisäer wollten Jesus an den Kragen, weil er sich nach ihrer Einschätzung über die religiösen Vorschriften erhob, sich über die Sabbatvorschriften hinwegsetzte und das soziale Gefüge durcheinanderbrachte: nämlich nicht mehr unterschied zwischen Reinen und Unreinen,  Gesetzestreuen und Rechtsbrechern. So jedenfalls legten sie sein Verhalten aus. 

Es war für sie schwer, Jesus‘ habhaft zu werden. Deshalb zogen sie in ihr Ränkespiel diese andere Gruppe hinein, die ihnen eigentlich zuwider war, die aber ihrerseits ein Interesse daran haben könnte, Jesus auszuschalten, die staatliche Gewalt. Es müsste nur gelingen, Jesus in einen offenen Gegensatz zur staatlichen Gewalt zu bringen. Dies also soll nun mit der hinterlistigen Frage geschehen: „Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes recht lehrst und niemandem nach dem Mund redest; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen. Sag uns doch, was meinst du: Ist es recht, dass man dem Kaiser Steuern zahle oder nicht?“

Antwortet Jesus mit „Ja“, steht er im Gegensatz zu den Pharisäern - und auch zu sich selbst, denn er hätte sich einer Autorität unterworfen, die unterhalb der Autorität Gottes steht. Antwortet er mit „Nein“, steht er im Gegensatz zur staatlichen Gewalt. Die Vertreter des Königs, die zugleich verlängerter Arm des Kaisers sind, könnten ihn gleich mitnehmen.

Jesus lässt sich nicht in diese Zwickmühle hineintreiben, nicht nur deshalb nicht, weil er seinen eigenen Kopf retten will. Vielmehr ist dieses Entweder-Oder unsachgemäß. Er findet einen Weg, der aus der scheinbaren Sackgasse herausführt. 

Er lässt sich eine Münze reichen und stellt seinen Fragern eine schlichte Gegenfrage. Er fragt sie: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?“ Sie antworten: „Des Kaisers.“ Darauf sagt er zu ihnen: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ Seine Frager sind über diese Antwort überrascht, sie wenden sich um und gehen davon.

„Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ - wie sollen wir dies Wort verstehen? Was hat es uns zu sagen, wenn wir diesen Satz nicht nur als genialen Ausweg aus einer Zwickmühle verstehen wollen, sondern als eine inhaltliche Aussage zu einem Grundproblem, das uns alle betrifft? 

Das Grundproblem, um das es hier geht, ist doch dieses: Wir als diejenigen, die wir uns Christen nennen und uns Christus verbunden fühlen und uns um ein Leben in seinem Sinne bemühen - jeder auf seine Art - wir stehen alle diesen zwei Autoritäten gegenüber: Gott und dem Staat. Von beiden Seiten her sehen wir Ansprüche an uns gerichtet. Es gibt durchaus Situationen, in denen wir uns in einen Loyalitätskonflikt hineingedrängt sehen: Entweder folge ich dem Wort Gottes oder ich folge dem Anspruch des Staates. 

In unserer staatlichen Verfassung ist immerhin die Gewissensfreiheit als Grundrecht gewährt. So besteht die Möglichkeit, z. B. im Falle des Militärdienstes, einen Ersatzdienst zu leisten. Dies ist für viele die Lösung für einen Konflikt an einem ganz bestimmten Punkt. Dieser Lösungsweg steht aber in vielen Ländern von vornherein gar nicht offen. Auch in unserem Land werden wir viele Beispiele dafür finden, wie wir selbst uns widerstreitenden Ansprüchen des Staates und Gottes gegenüberstehen und keinen Weg entdecken, beiden gerecht zu werden.

Wir befinden uns in einer Doppelrolle. Wir sind zugleich Christen und Bürger. Es gibt natürlich auch Bürger, die keine Christen sind. Gibt es aber auch Christen, die keine Bürger sind? Vielleicht haben unter den ersten Christen einige die Rolle als Bürger nicht akzeptiert, weil sie meinten: Es dauert nicht mehr lange, dann ist diese Welt sowieso am Ende. Dann gibt es keine weltliche Regierung mehr, dann wird das Reich Gottes auf Erden errichtet. Dann wird Jesus Christus wiedergekommen sein und alles Alte wird ein Ende haben. Diese Naherwartung des Reiches Gottes war verbreitet. So wie Paulus meinte: „Heiraten lohnt sich eh nicht mehr, denn im Himmelreich gibt es kein Verheiratetsein“, so konnten manche auch meinen, den Staat könne man vergessen, der wäre ohnehin bald am Ende.

Wir wissen, dass die Vollendung des Reiches Gottes nicht sogleich eingetreten ist und wir uns noch auf unbestimmte Zeit gedulden müssen. Die Einsicht hatte sich deshalb schon bald durchgesetzt, dass unser Leben hier und jetzt einer Regelung bedarf, eben auch einer staatlichen Regelung. Wer aber den Staat bejaht und zugleich Christus anhängt, der befindet sich in dieser Doppelrolle von Christ und Bürger. Um diese Doppelrolle geht es heute.

„Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“, das bedeutet zweierlei nicht: Das bedeutet zum einen nicht, dass wir uns in einer dritten, neutralen Position befinden. Die Schuldigkeit gegenüber dem Kaiser - heute sagen wir: gegenüber dem Staat - ist eben nicht damit erledigt, dass ich ins Portemonnaie greife und die ihm zustehende Münze heraushole und als Steuer zahle. Genauso können wir uns der Schuldigkeit gegenüber Gott nicht dadurch entledigen, dass wir noch einmal ins Portemonnaie greifen und nun den Betrag für die Kirchensteuer herausholen. Unsere Schuldigkeit gegenüber Gott und dem Staat ist nicht mit einer bloßen Handbewegung zu erledigen, sondern nur durch die Hingabe unserer ganzen Person. Bürger sind wir mit unserer ganzen Person - wir sind als Einzelne Teil des Staates - wir sind der Staat. Unser ganzes Verhalten, im Guten wie im Schlechten, hat damit eine Wirkung auf den Staat. Gleiches gilt für unser Christsein. Christen sind wir mit unserer ganzen Person. Wir sind Teil des Leibes Christi, der Kirche. Was wir tun, wie wir etwas tun, im Guten und im Schlechten, prägt das Erscheinungsbild von Kirche. Das ist das eine: Wir befinden uns nicht in einer dritten, neutralen Position.

„Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört“, bedeutet aber auch nicht das andere: dass wir etwa gespaltene Persönlichkeiten wären: in der Kirche Christen, im täglichen Leben Bürger, innerhalb der Kirchmauern fromme Schafe, draußen aber reißende Wölfe. Wir sollen uns nicht in ein schizophrenes Verhalten einüben, und wir sollen nicht doppelzüngig reden. Wir sind immer und an jedem Ort zugleich beides in einer Person: Christ und Bürger. Alles, was wir tun, alles, was wir sagen, müssen wir zugleich vor den Ansprüchen dieser unserer beiden Rollen verantworten. Wenn ich einen Beruf ausübe, dann habe ich mich zu fragen, inwieweit ich damit einen Beitrag als Staatsbürger leiste, und inwieweit ich damit dem Willen Gottes entspreche. Wenn ich mir diese Frage stelle, werde ich mir möglicherweise  allerdings dessen bewusst, dass ich mich in einem Konflikt befinde. Den kann ich dann aber nicht so lösen, dass ich mich in der Kirche beispielsweise gegen die Produktion gesundheitsschädlicher Chemikalien ausspreche und am Arbeitsplatz guten Gewissens an der Produktion solcher Chemikalien mitwirke, weil ich mir sage: Kirche und Arbeit sind zwei getrennte Bereiche, die haben nichts miteinander zu tun.

Ich werde in vielen Fällen den Konflikt nicht befriedigend lösen können. Denn die Aufforderung Jesu lässt sich vielfach nicht so einfach umsetzen: Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört. Oftmals befinden wir uns in einer unlösbaren Pflichtenkollision. Dann ist es aber gut, wenn wir das erkennen und daran leiden und zu Gott schreien: Herr, hilf du, und vergib uns die Schuld, der wir nicht zu entrinnen wissen. 

Was der Predigttext uns für unsere eigene Lebenssituation zu sagen hat, ist also dies: Wenn da welche auf uns zukommen, die uns in ein Entweder-Oder hineindrängen wollen, um uns so oder so zu überführen - als unchristliche Staatsbürger oder als Christen ohne staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein, dann sollen wir eine solche Alternative als unredlich und unsachgemäß abweisen.

Es gibt kaum Kirchenlieder, die auf unsere Doppelrolle als Christen und Bürger Bezug nehmen. Deshalb bitte ich Sie, den teilweise etwas altertümlichen Text des folgenden Liedes zu entschuldigen. Da heißt es in der 1. Strophe: "Herr, höre, Herr, erhöre, breit deines Namens Ehre an allen Orten aus; behüte alle Stände durch deiner Allmacht Hände, schütz Kirche, Obrigkeit und Haus." 

Dies ist eine gesungene Fürbitte. Die Fürbitte ist die Stelle im Gottesdienst, an der wir in besonderer Weise auch unserem staatsbürgerlichen Verantwortungsbewusstsein Ausdruck verleihen. Neben dem, was wir in unserem täglichen Leben tun können, bleibt ja vieles übrig, was weit jenseits unserer Einwirkungsmöglichkeiten liegt. Das sind die Dinge, die wir Gott im Gebet antragen: Herr, lass die Regierenden Gutes tun, gib Gerechtigkeit und Frieden und allen Menschen Wohlergehen.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 3. November 1991)

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