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Reformationstag (31.10.24)


Herz und Hirn

31. Oktober 2008

Reformationstag

Römer 3,21-28


Der Mensch besteht aus Kopf und Herz, aus Verstand und Seele, aus Denken und Empfinden - oder wie immer man die beiden Bereiche des menschlichen Wesens bezeichnen möchte, die auf so unterschiedliche Weise die Lebenswirklichkeit wahrnehmen und verarbeiten.

Luther war ein großer analytischer und systematischer Denker. Er war aber auch ein Gefühlsmensch, der noch viel mehr und anderes wahrnahm, als was sein Verstand ihm zu geben und aufzubereiten vermochte.

Wenn Luther z. B. den Teufel an der Wand sah und mit dem Tintenfass nach ihm warf, wie erzählt wird, dann war das weniger das Ergebnis seines Denkens, sondern mehr seines gefühlsmäßigen Erlebens.

Auch dass er anfangs meinte, als unverbesserlicher Sünder vor Gott keinen Bestand zu haben, war nicht eine gedankliche Schlussfolgerung seines Hirns. Die Einsicht in seine Sündhaftigkeit steckte vielmehr in seiner ganzen Gefühlswelt, die sich gebildet hatte durch das, was ihm seine Eltern, sein Umfeld, die Kirche und die allgemeine gesellschaftliche Gemütslage vermittelt hatten.

Luther war zwischen Kopf und Herz hin- und hergerissen. In dieses Chaos von Gedanken und Gefühlen versuchte er Ordnung zu bringen.

Am Ende kam dabei heraus, dass er dem Verstand, und zwar dem eigenständigen Denken, mehr Recht einräumte, als es bis dahin im Bereich der Kirche üblich gewesen war. Es ist darum bis auf den heutigen Tag so, dass in einem lutherischen Gottesdienst z. B. der Predigt eine größere Bedeutung zukommt als dem rituellen Anteil des Gottesdienstes.

Wenn wir in einen katholischen Gottesdienst gehen, fällt auf, dass sich da einiges mehr von dem vollzieht, was sich mehr an das Gefühl als an den Verstand richtet. Das fängt schon bei den Kerzen an, die im katholischen Gottesdienst eine umfänglichere Rolle spielen. Weihwasser gibt es, es wird Weihrauch benutzt und es klingelt mal hier und mal da. Oder denken wir an die Ausstattung der Kirche, die Heiligenbilder, die Marienbilder, die Reliquien ...

Luther war das etwas zu viel. Er hat auf eine Konzentration auf das Wort hingewirkt. Das Wort ist mehr etwas für das Hirn. Es wird dem lutherischen Gottesdienst oftmals vorgehalten, dass er zu kopflastig sei. Da ist etwas dran.

Mit Wort meinte Luther die Bibel. Dass er die Bibel und die Bibelauslegung so sehr betonte, hatte seinen Grund darin, dass er mit den theologischen Positionen des Papstes und seiner Bibelauslegungen und den Schlussfolgerungen daraus nicht einverstanden war. Nicht das Wort des Papstes sollte gelten, sondern das Bibelwort.

Damals war das Problem, dass das Bibelwort für die wenigsten Menschen zugänglich war. Die Bibel lag in lateinischer Sprache vor. Wer konnte schon Latein? Das waren die wenigen Gelehrten und Gebildeten. Wer konnte überhaupt lesen? Die Analphabetenquote war hoch.

Luther hatte es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Das war ein emanzipatorischer Schritt. Denn dadurch konnte endlich ein Großteil der Bevölkerung die Bibel selbst lesen und andere, die nicht selbst lesen konnten, konnten sich den Text in deutscher Sprache vorlesen lassen. Da zu der Zeit auch gerade die Buchdruckerkunst erfunden war, konnten die Bibeltexte auch so sehr verbreitet werden, dass viele Menschen Zugang zu den Texten bekamen.

Den Bibeltext in verständlicher Sprache lesen und hören und sich dann selbst darüber Gedanken machen können, das war das Neue. Der Kopf hatte nun eine Menge Material zu verarbeiten. Das muss faszinierend gewesen sein für alle, denen sich so zum ersten Mal die Tür zur selbstständigen Beschäftigung mit dem Bibeltext öffnete.

Aber, wie wir wissen, ist der Bibeltext zwar sehr hilfreich, aber in weiten Teilen nicht so ganz einfach. Die Bibeltexte sind nicht immer leicht zu verstehen. Und sie allein geben einem vielleicht auch noch nicht all das, was wir uns wünschen, wenn wir uns der Bibel und der Kirche zuwenden.

Manche wichtige Botschaft erreicht uns über den Text allein noch nicht. Denn mit dem Kopf und dem Denken allein erfassen wir nur einen Teil der Wirklichkeit.

Es reicht zum Beispiel nicht, dass es schöne Geschichten über die Liebe gibt und wir klug über die Liebe reden. Wir wollen auch einfach mal in den Arm genommen werden, um leibhaftig zu spüren, dass wir geliebt werden. Es reicht auch nicht, dass die Notlage von Menschen präzise analysiert und die Notwendigkeit barmherziger Hilfe wortreich begründet wird. Es muss sich auch einfach mal jemand zu dem Verletzten hinabbeugen, ihm die Wunden verbinden, ihm ein Glas Wasser reichen und Sorge tragen, dass die weiteren erforderlichen Hilfsmaßnahmen ergriffen werden.

Und es reicht ganz offensichtlich auch nicht, dass wir darüber predigen, dass Gott uns liebt und verzeiht - wir wollen das auch irgendwie mit allen unseren Sinnen erleben. Darum feiern wir z. B. einen Taufgottesdienst, in dem neben dem erklärenden Wort das Wasser als sichtbares Zeichen anschaulich macht, wie hier – sogar bereits im Vorwege - etwas abgewaschen wird, was uns in unserem Inneren verunreinigt.

Unser Hirn ist das eine. Wir wollen verstehen. Aber wir wollen auch erleben - mit all unseren Sinnen. Die vielfältigen sinnhaften Botschaften geben unserem Herz die Nahrung, die mit dem Kopf allein nicht verdaut werden kann, die wir aber zur Stärkung unserer Lebenskraft doch dringlich brauchen.

Solche Nahrung bietet der katholische Gottesdienst in umfänglicherer Weise als der lutherische Gottesdienst. Luther hat die Bedeutung der Herzensnahrung nicht unterschätzt. Aber was diesbezüglich die Kirche damals anzubieten hatte, war ihm zu viel, und es war ihm nicht nur zu viel, manches erschien ihm auch unbekömmlich. 

Über das Herz ist der Mensch auch manipulierbar - und da erschien es Luther wichtig, dem Menschen eine Kontrollmöglichkeit an die Hand zu geben. Denn er spürte, dass - gerade im Zusammenhang mit dem Ablass - in der Kirche seiner Zeit die Ängste und Hoffnungen der Menschen für wirtschaftliche Zwecke missbraucht wurden.

Der Petersdom in Rom sollte gebaut werden. Das war ein teures Vorhaben. Der Ablass erschien als geeignetes Mittel, die erforderlichen Gelder einzutreiben. Die Angst vor dem Fegefeuer und das Angebot, sich von der Sündenstrafe freikaufen zu können, sollte die Menschen dazu bewegen, ihren Geldbeutel zu öffnen. Die Rechnung ging zunächst auf. Aber für Luther wurde der Ablass zum Anlass für heftigen Protest - und zwar zum Protest über das Hirn. Er verfasste eine gelehrte Schrift in 95 Thesen und nahm darin Bezug auf den Bibeltext und legte dar, dass die Gnade Gottes nicht käuflich ist, dass sie vielmehr ein Geschenk Gottes ist und dass es Gott nicht auf Geld ankomme, sondern auf ein ehrliches Bekenntnis der Schuld und ein ernsthaftes Bemühen um Besserung.

Luther hat im weiteren Verlauf immer wieder die Bedeutung  des Bibeltextes als der eigentlichen Erkenntnisgrundlage des Glaubens betont und hat versucht, der breiten Bevölkerung zu helfen, sich gegen die Manipulation des Herzens durch die kirchliche Hierarchie zur Wehr zu setzen. Er übersetzte den Bibeltext, ließ ihn drucken und machte ihn damit vielen Menschen zugänglich. So ermöglichte er ihnen, sich selbst Gedanken über die Glaubensgrundlage zu machen.

Das war ein enormer Beitrag zur Emanzipation des Menschen.

Für uns heute kommt es nun darauf an, dass wir stets beides im Blick haben und ins rechte Verhältnis zu setzen versuchen: Herz und Hirn des Menschen. Was wir als Kirche zu geben haben - die frohe Botschaft, das Evangelium von der Liebe Gottes zu allen Menschen, von seiner Barmherzigkeit und Vergebung, wie sie in Christus anschaulich wird - das ist für den Menschen in seiner Ganzheit und in seiner Mündigkeit bestimmt. Das Evangelium richtet sich an das Herz, aber es möchte auch im Hirn verstanden werden. Und es richtet sich an den Verstand, aber es möchte auch im Herzen bewegt und aus dem Herzen heraus gelebt werden.

Luther sei Dank für seinen Beitrag zur Mündigkeit des Christen. Und Gott sei Dank für Luther. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. Oktober 2008) 

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