Wird es immer Kriege geben?
16. November 2008
Micha 4,3
Können Sie sich vorstellen, dass es eines Tages auf unserer Erde keinen Krieg mehr gibt? Das ist wirklich schwer vorstellbar. Kriege hat es immer gegeben. Da drängt sich die Schlussfolgerung geradezu auf: Kriege wird es wohl immer geben. Aber mit diesem bitteren Fazit können wir das Thema Krieg und Frieden nicht abhaken.
Der Prophet Micha im Alten Testament spricht von den letzten Tagen, wenn er sagt: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk gegen das andere das Schwert erheben und werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Diese Vision kann uns immerhin als Leitbild dienen, auf das hin wir hoffen und unser Denken und Handeln ausrichten können.
Heute haben wir den Volkstrauertag. Das ist eigentlich kein kirchlicher Feier- oder Gedenktag. Eingerichtet wurde er nach dem ersten Weltkrieg auf Vorschlag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit der Absicht, das deutsche Volk durch die Erinnerung an die Leiden des Krieges über alle parteilichen, religiösen und sozialen Grenzen hinweg zu vereinen.
Es dauerte nur zwei Jahrzehnte, da griff das deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ die Westerplatte bei Danzig an, ein polnisches Munitionslager. Damit begann der zweite Weltkrieg – am 1. September 1939. Das Dritte Reich machte aus dem Volkstrauertag einen Heldengedenktag.
Nach dem zweiten Weltkrieg ab 1948 dient der Volkstrauertag dazu, der Toten beider Weltkriege und der Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen zu gedenken und alljährlich zum Frieden zu mahnen.
Innerhalb unserer Landesgrenzen haben wir seitdem keinen Krieg wieder gehabt. Weltweit sind seit dem zweiten Weltkrieg allerdings zahlreiche Kriege geführt worden. Und deutsche Soldaten sind außerhalb unseres Landes wieder an Kriegen beteiligt gewesen und beteiligt – am Kosovokrieg 1999 – und derzeit in Afghanistan.
Der Volkstrauertag ist eigentlich kein kirchlicher Feier- oder Gedenktag. Aber sein Anliegen ist ein sehr kirchliches: die Mahnung zum Frieden. In diesem Zusammenhang richten wir den Blick auf die Wesensart des Menschen und stellen die Frage: Wie kann es sein, dass immer wieder Krieg von Menschen ausgeht?
Der Mensch – ein Geschöpf Gottes, wie wir mit den Worten und Bildern der Bibel sagen. „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ – und nachdem er ihn geschaffen hatte, sah er zufrieden auf sein Werk und sprach: „Es ist sehr gut.“ So beschreibt es der biblische Schöpfungsbericht.
Die Zufriedenheit des Schöpfers hielt nicht lange an. Wir können hier wirklich bei Adam und Eva anfangen, die sich mit ihrem Eigensinn das Paradies verdarben. Ihre beiden Söhne, Kain und Abel, sind zum Paradebeispiel dafür geworden, dass die Bereitschaft zur Gewalt im Menschen geradezu verwurzelt ist. Kain tötet seinen Bruder Abel aus Neid.
Natürlich handelt es sich bei dieser biblischen Geschichte nicht um einen dokumentarischen Bericht. Hier hat vielmehr jemand seine Erfahrung mit der Wesensart des Menschen aufgezeichnet – und zwar vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Das ist ja immerhin vor sehr langer Zeit. Was hat sich seitdem verändert, was das Thema Gewalt angeht? Die Blutspur der Gewalt zieht sich ununterbrochen hin bis in den heutigen Tag. Und die Methoden der Gewaltanwendung haben sich seitdem vervielfältigt – bis hin zu der Möglichkeit, die ganze Menschheit auslöschen zu können.
Es ist immer wieder zum Frieden gemahnt worden. Nach den Kriegen hieß es nicht nur einmal: „Nie wieder Krieg!“ Es werden friedliche Wege der Konfliktlösung eingeübt – überall da, wo erzogen wird, in Schulen und in Kindergärten zum Beispiel. Es hat Versöhnung gegeben zwischen einzelnen Völkern, zwischen den Kriegsparteien des 2. Weltkriegs, die deutsch-französische Aussöhnung und die Versöhnung zwischen der Bundesrepublik und Polen zum Beispiel. Es gibt heute die europäische Union. Es gibt die Vereinten Nationen. Es gibt viel guten Willen. Und viel guter Wille ist in gute Maßnahmen umgesetzt worden. Da ist noch viel zu tun. Der Frieden im Großen und im Kleinen ist eine Daueraufgabe.
Gleichwohl sind wir immer wieder erschrocken über Gewalt hier und dort und über Kriege hier und dort und über Kriegsdrohungen. Wir können uns eines Friedens niemals sicher sein. Wenn z. B. in Polen und Tschechien Raketenabwehrsysteme installiert werden sollen, dann zeigt dies, wie nahe uns mögliche – reale oder vermutete – kriegerische Bedrohungen sind.
Angesichts dieser Faktenlage wäre es wohl nicht angebracht, sich über das Wesen des Menschen irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Um so erstaunlicher und beglückender ist das christliche Menschenbild. Es antwortet auf das – die ganze Geschichte durchziehende – menschliche Versagen mit einem großen liebevollen Dennoch. Dem christlichen Menschenbild liegt der Glaube daran zugrunde, dass der Schöpfer uns trotz unserer unleugbaren problematischen Art nicht verwirft, sondern in Liebe zu uns hält und uns dazu aufruft, in eben dieser Weise auch miteinander umzugehen – in liebevoller Zuwendung – im kleinen persönlichen Bereich und im weltweiten Miteinander der Völker.
Wir sind – theologisch formuliert – geliebte Sünder; das ist das christliche Menschenbild. Sünder sind wir ausnahmslos alle. Es gibt zwar Unterschiede. Es gibt zwar Menschen, deren Hang zur Gewalt, deren Gewaltbereitschaft und deren kriminelle Energie geradezu unendlich viel größer ist als bei anderen Menschen, die sich schwertun, auch nur einer Fliege etwas zuleide zu tun. Aber selbst derjenige, der einen Weltkrieg vom Zaume gebrochen hat, konnte dies nur tun unter Mitwirkung – durch Tun oder Unterlassen – der vielen kleinen und kleinsten Sünder. Der Krieg fängt bei uns selbst an, und auch der Frieden fängt bei uns selbst an. „Wehret den Anfängen“, sagt der Volksmund.
Das gehört zu unserer christlichen Verantwortung: dass wir zunächst einmal uns selbst betrachten und uns kritisch beobachten und in uns hineinschauen. Wenn wir das in Wahrhaftigkeit tun, dann kann uns schon ganz schwindelig werden. Welche Kräfte stecken in uns, die wir selbst nur schwer beherrschen! Welche niederen Triebe sind in uns am Werke, welche Empfindungen, Ansinnen und Wünsche, derer wir uns schämen würden, wenn sie offen zutage träten!
Auch ein Weltkrieg fängt nicht bei Kriegsschiffen und Atombombern an. Auch der größte Krieg beginnt in unseren Herzen – oder sagen wir besser: in uns, in unseren Leibern und Seelen. Es sind beschämend niedere Kräfte, die auch am Anfang der größten Kriege stehen: Stolz und Neid und Eifersucht, Ehrsucht, Ungeduld, Intoleranz, Habgier, Eigensucht, Eitelkeit, Rechthaberei, persönliche Interessen, Machtgelüste, Hass, auch Kriegsbegeisterung – verzeihen Sie all diese unschönen Wörter.
Wie leicht gerät ein ganzes Volk z. B. schon dann in Aufruhr, wenn das Symbol seines Landes geschändet wird, wenn jemand z. B. die Fahne des Landes verbrennt oder wenn jemand Karikaturen zeichnet, die die zentrale Figur seiner Religion verunglimpfen!
Wo so etwas geschieht, kochen die Emotionen hoch und Interessierte heizen die Emotionen an und kanalisieren sie für ihre Zwecke, fördern die Gewalt und lassen Gewalt geschehen.
Es sind zum einen niedere Motive, die Gewalt bis hin zum Krieg auslösen. Es können aber auch gerade die edelsten Motive zur Beteiligung an Gewalt und Krieg führen. Wer z. B. jemanden vor Gewalt beschützen möchte, sieht vielleicht keinen anderen Weg, als selbst zur Gewalt zu greifen. Oder der Wunsch und die Verantwortung, ein ganzes Volk gegen Gewalt in Schutz zu nehmen oder aus Unterdrückung zu befreien, kann in die Entscheidung münden, selbst mit Gewalt und ggf. mit dem Einsatz kriegerischer Mittel vorzugehen. Solche Situationen können geradezu tragisch sein.
Auch für den Friedfertigsten ist es deshalb nicht immer leicht, denen zu widersprechen, die für Gewalt und Krieg argumentieren.
Es gibt aber doch einige Orientierungspunkte. Zwei nannte ich bereits:
Zum einen die Blutspur, die sich durch die ganze menschliche Geschichte hindurchzieht. Die Erfahrung lehrt: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Gewalt hält die Spirale der Gewalt in Gang.
Zum anderen die Niedrigkeit der Antriebskräfte, die zur Gewalt führen. Wir sollten uns auf solche Niedrigkeiten nicht einlassen. Wo wir uns doch von unseren niederen Trieben zur Gewalt und Beteiligung an Gewalt und Duldung und Befürwortung von Gewalt hinreißen lassen, da sollten wir möglichst schnell wieder zur Besinnung kommen, uns eines Besseren besinnen, unseren Irrweg bekennen, unsere Schuld eingestehen und unsere ganze Phantasie und unseren ganzen guten Willen zusammennehmen, um zu tun, was unserer menschlichen Würde entspricht.
Einen dritten Orientierungspunkt hatte ich angedeutet: den Schöpfer selbst – und mit ihm denjenigen, der uns mit seinem Erscheinen vor 2000 Jahren eine göttliche Botschaft vermittelt hat: Wir dürfen uns als geliebte Sünder verstehen und sollen uns als solche gegenseitig annehmen. Diese göttliche Botschaft hat uns Jesus Christus vermittelt – mit seinem Leben, seinem Sterben und seinem Auferstehen.
Mit seinem Leben – das bedeutet: Er wandte sich einem jeden Menschen in Liebe, in Barmherzigkeit, in der Bereitschaft zu helfen, zu heilen, zu vergeben zu.
Mit seinem Sterben, das bedeutet: Er, der in jeder Hinsicht gut und nur gut war, wurde hingerichtet am Kreuz – unverstanden und ungerechterweise. Der Gewalt widersetzte er sich nicht.
Mit seiner Auferstehung – das bedeutet: Er bekräftigt seine Botschaft. Er kehrte nicht ins Leben zurück, um sich zu rächen, nicht einmal um im Nachhinein wenigstens sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen für den mangelnden Dank, die fehlende Anerkennung, die schlechte Behandlung. Er kehrte ins Leben zurück, um zu sagen: „Ich bleibe bei euch. Ihr bleibt meine Schwestern und Brüder, die geliebten Kinder Gottes, unseres gemeinsamen Schöpfers.“
Wenn wir uns doch seine Art, seine Botschaft so zu Herzen nehmen würden, dass sie von dort aus ganz tief in uns hineingehen und alle Fasern unseres Seins durchdringen würde, dass etwas von seiner Art zu unserer Art werden würde und wir ein wenig so reden und handeln und sein könnten wie er und wir – im kleinen Persönlichen und im Großen weltweit – ein wenig mehr so miteinander umgehen könnten, wie er zu den Menschen gewesen ist – würde das nicht dem Frieden dienen?
Das könnte doch ein wenig helfen. Und selbst wenn auch wir damit die Welt nicht nachhaltig zum Besseren verändern könnten: Ist es nicht dennoch einfach schöner und würdevoller, in seinem Sinne – im Sinne Gottes, im Sinne Jesu Christi – zu versuchen, das Leben friedfertig und liebevoll zu gestalten? Und liegt nicht darin der tiefste Wert und Sinn unseres Lebens?
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. November 2008)