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Totensonntag (24.11.24)


Leben, Leiden, Lieben

Totensonntag / Ewigkeitssonntag

23. November 2008

Offenbarung 21,4


„Gott wird abwischen alle Tränen“: Vorläufig - und wohl noch für längere Zeit - wird dies wohl unsere Aufgabe bleiben, dass wir einander die Tränen abwischen, dass wir einander in den Arm nehmen, einander trösten. Der Tod wird Teil unseres Lebens bleiben. Im Augenblick des Schmerzes wünschen wir uns vielleicht, es möge ein für allemal ein Ende haben mit dem Sterben. Aber wenn es den Tod nicht mehr gibt, dann gibt es auch das Leben nicht mehr, das Leben, wie wir es kennen und lieben. 

Leben, das ist für uns zunächst das leibliche Leben, der Mensch aus Fleisch und Blut, den wir anschauen und anfassen können, dessen Wärme wir spüren, dessen Worte wir hören, der uns antwortet, wenn wir ihn ansprechen, der zurückschaut, wenn wir ihn anblicken, dem wir Gutes tun können und der uns Gutes tun kann und mit dem wir uns streiten und uns wieder vertragen können. 

Leben, wie wir es kennen und lieben, bedeutet am Morgen aufwachen und abends schlafengehen, es bedeutet Wachsen und Werden, Blühen und Reifen, Früchtebringen und Vergehen, Ankommen und Abreisen, Wandern, Entdecken ...

Leben, wie wir es kennen und lieben, das ist die tägliche Anstrengung, das Mühen und Ausruhen, der Kampf mit den Widrigkeiten, die Herausforderungen, Erfolg und Niederlage, Gewinn und Verlust, Hoffnung und Enttäuschung, Freud und Leid.

Ja, Freud und Leid machen das Leben aus, wie wir es kennen und lieben. Gewiss, es kann auch ein Übermaß an Leid geben, ein unerträgliches Maß an Leid, das uns irre machen kann am Leben und das uns die Worte Hiobs nachsprechen lässt, der im Augenblick größten Schmerzes seinen Schöpfer angeklagt hat: „Warum nur hast du mich aus dem Leib meiner Mutter gezogen?!“

Wenn das Leid zu groß ist, dann zerbrechen alle Maßstäbe, dann verlieren wir die Kraft, das Leben wertzuschätzen.

Aber ein gewisses erträgliches Maß an Leid gehört zum Leben dazu - und macht das Leben zum Leben. Am Anfang des Lebens weinen wir Tränen der Freude, wenn wir ein neugeborenes Kind im Arm halten. Am Ende des Lebens weinen wir Tränen der Trauer, wenn wir Abschied nehmen müssen. Über unseren Leib als Mittler empfinden wir das Leben. Wir wissen nicht, was Leben im körperlosen Sinne bedeutet. Manchmal sehnen wir uns nach diesem unbekannten Zustand, wenn uns der Leib zur Last wird. Und wenn wir einen lieben Menschen verloren haben, dann hoffen wir vielleicht darauf, in einer anderen körperlosen Welt wieder vereint zu sein. Aber noch lieber wäre es uns, wir könnten hier und jetzt leibhaftig beieinander bleiben.

Wir wollen das Leben jetzt und hier - und wir wollen, dass immer wieder neu Kinder in dieses Dasein hineingeboren werden. Wir wissen wohl, dass der Weg ins Leben hinein mit Schmerzen verbunden ist, und dass der Weg aus dem Leben hinaus mit Schmerzen verbunden ist, und dass der Weg des Lebens selbst voller Schmerzen ist. Dennoch sagen wir: „Das Leben ist schön.“ Das ist eine Grundentscheidung. Und wir öffnen unsere Augen und unsere Ohren und all unsere Sinne und unser Herz, um all die Schönheiten dieser Schöpfung wahrzunehmen. 

Es fällt uns nicht immer leicht, diese Grundentscheidung durchzuhalten. „Das Leben ist schön“ - dieser Satz käme uns in manchen Situationen nicht über die Lippen. Manchmal erscheint uns diese Aussage fast unmenschlich, wenn wir selbst heftig leiden und wenn uns das große Leid anderer vor Augen ist.

Wie können wir das Leid und die Freude am Leben zusammenbringen? Wir können es vielleicht z. B. dann, wenn wir zum Mitleiden bereit sind. Wenn wir bereit sind, dem Leidenden mit liebevoller Fürsorge zu begegnen. Wenn wir bereit sind, das Leid als Herausforderung zur liebevollen Zuwendung anzunehmen. 

Jesus von Nazareth selbst hat das Leben durchlitten - bis zum Tod am Kreuz. Er hat das Leben mit seinen leidvollen Seiten erfahren. Und dennoch hat er dem Leben hier und jetzt eine große Würde verliehen. Den Leidenden ist er mit Liebe begegnet - den Aussätzigen, den Gelähmten, den Tauben, den Blinden, den psychisch Kranken, den Hungernden, den Geringgeachteten, den Streitenden, den Sterbenden, den Trauernden. Er hat geholfen, er hat getröstet, er hat geheilt - er ist zum Heiland geworden. Menschen seiner Zeit haben darin sein göttliches Wesen erkannt. Für sie kam er wie eine Befreiung, wie eine Erlösung, als der Christus eben. Er hatte das Leid nicht ein für allemal von ihnen genommen. Aber er hatte das Leid mit seiner Liebe durchdrungen.

Das Leben hier und jetzt ist gewiss nicht immer einfach. Gerade am heutigen Tag ist uns die schmerzvolle Seite des Lebens vor Augen und im Herzen. Aber die Tränen der Trauer entspringen ja nicht nur der Not unseres Herzens. Sie erinnern auch an das Schöne, das da gewesen ist, an Zeiten des Glücks, an Freude und Fröhlichkeit, an gute Beziehungen, an Zuneigung und Liebe. Dies in Dankbarkeit zu würdigen und uns davon leiten zu lassen, das ist unser Auftrag. 

„Gott wird abwischen alle Tränen“ - manchmal sehnen wir uns nach dieser endgültigen Ruhe, nach dieser vollkommenen Befreiung von aller Mühe, aller Not, allem Schmerz ... In diesem Sinne dürfen wir getrost unserem eigenen Ende entgegensehen. Gott wird uns in seine Arme nehmen und alles wird gut sein. Aber noch sind wir hier - und Gott ist - in Christus - zu uns gekommen in diese Welt, um uns zu stärken für dieses Leben hier und jetzt. 

Das Leben ist kurz, auch wenn es 100 Jahre - und ein wenig mehr - dauern kann. Die Zahl unserer Jahre ist gezählt. Das Leben ist ein Geschenk auf Zeit, wie die Reise in ein unbekanntes Land, ein Abenteuer mit Chancen und Risiken, eine enorme Herausforderung. Wie gehen wir mit dieser Gabe um? Was machen wir aus unseren Möglichkeiten? Welche Mittel und Wege wählen wir? Auf welches Ziel gehen wir zu? Wie stellen wir uns überhaupt zu dem, was uns da geschenkt, aufgetragen, auferlegt ist? 

Wir machen uns darüber im allgemeinen nicht so viele Gedanken. Oft leben einfach so dahin. Die Erfahrung des Todes kann zum Augenblick des Innehaltens werden. 

Mir sagte damals einer, der am 11. September auf dem Weg in die USA war und umgeleitet wurde und mit tausenden anderer Menschen an unerwartetem Ort in Notquartieren betreut von hilfsbereiten Menschen für einige Tage Zeit hatte, die Dinge des Lebens zu bedenken und mit fremden Menschen aus aller Welt zu besprechen - fernab von Frau und Kind - im Wissen um ein schreckliches Ereignis - er sagte mir: „Ich sehe die Dinge des Lebens nun anders. Vieles ist mir unwichtig geworden. Die geschäftlichen Dinge, die bis eben noch so bedeutsam waren, sie sind in den Hintergrund getreten. Frau und Kind sind mir ganz nah ans Herz gerückt, menschliche Beziehungen - und auch die Frage: Was tu ich in meinem Leben eigentlich für andere?“

Unser Ende kann uns immer ganz nahe sein. Dieses Wissen soll uns nicht erschrecken. Es kann unser Leben vertiefen, es kann uns helfen wertzuschätzen, was wir empfangen haben. Es kann uns helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, uns Ziele zu setzen, die anzustreben uns wirklich lohnend erscheint.

Lassen Sie uns immer bedenken, dass wir sterben müssen, lassen Sie uns beklagen, was wir durchleiden, lassen Sie uns von Herzen betrauern, was wir verlieren, was wir wieder abgeben müssen, geliebte Menschen insbesondere. Aber lassen Sie uns dann auch und vor allem einander beistehen mit Trost und Hilfe und einander stärken mit guten Worten und Taten, damit wir das Leben als wunderbare Gabe wertschätzen und wir Kraft zum Leben haben und mit Freude leben und die Liebe das Leid durchdringt und verwandelt.  

„Gott wird abwischen alle Tränen“ - lassen Sie uns in unserer Lebenszeit diesen göttlichen Dienst einander erweisen, und tun, was uns allen verheißen ist. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 23. November 2008)

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