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5. Sonntag nach Trinitatis (21.7.19)


Lebensweisheit und Torheit des Glaubens

5. Sonntag nach Trinitatis

29. Juni 1986

1. Korinther 1,18-25


„Die Juden fordern Zeichen, die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus.“

Wie können wir erkennen und erfahren, wer und was und wie Gott ist? Brauchen wir besondere Zeichen, Wundertaten, wie sie zum Beispiel in den Evangelien, in den Berichten über Jesus so zahlreich geschildert werden? Hilft uns die Beobachtung der Natur oder die Analyse unserer Lebenserfahrungen? Wo und wie sollen wir nach Gott suchen? 

Wir könnten die Frage auf sich beruhen lassen, wenn es bei der Frage nach Gott nur um ein Interesse unseres Intellekts ginge. Es geht aber um viel mehr. Es geht um unser Verhältnis zu unserem Dasein. Wie soll ich mich zu der Tatsache verhalten, dass ich existiere? Was fange ich mit meinem Leben an? In welcher Weise kann ich mein Leben sinnvoll führen?

Paulus predigt den gekreuzigten Christus. Das ist sein Angebot, uns den Zugang zur Erkenntnis und Erfahrung Gottes zu eröffnen. Er grenzt sich damit ab gegen den Zugang zu Gott über wundersame Zeichen und über die Erkenntnisse der Weisheit. Zu den Zeichen nimmt Paulus im Rahmen unseres Predigttextes nicht weiter Stellung. Der Zugang zu Gott auf dem Weg der weisheitlichen Erkenntnis ist vielmehr das Thema. 

Paulus bezieht eine sehr kritische, ja polemische Position: „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen. Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hatte nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt zu retten, die daran glauben. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker als die Menschen sind.“

Die Weisheit der Welt und die Weisheit Gottes stellt Paulus hier in polemischer Weise gegeneinander. Die Weisheit der Welt, die menschliche Weisheit, was ist das? 

Stellen wir uns einen weisen Mann vor, das ist doch ein älterer Mensch, der auf eine lange Lebenserfahrung zurückblicken kann und der seine Erfahrungen zu Einsichten und Verhaltensweisen verarbeitet hat, die dem Leben, so wie es ist, gerecht werden. Ein weiser Mann kann darum kein junger Mann sein, denn diesem fehlen noch eine Menge Lebenserfahrungen. Seine Einsichten und seine Verhaltensweisen und seine Entscheidungen berücksichtigen nur einen Teil der Wirklichkeit. Alles, was er sagt und tut, wird noch den Makel des Unrealistischen tragen, je älter er aber wird, desto weniger. Natürlich gibt es auch ältere Menschen, die nicht weise sind. Das sind also solche, die durch ihre Lebenserfahrungen nicht klug geworden sind.

Menschliche Weisheit setzt Lebenserfahrung voraus. Das ist ihre Stärke, aber zugleich auch ihre Schwäche. Über die Lebenserfahrungen der alten Israeliten können wir in den Sprüchen Salomos und beim Prediger Salomo nachlesen. Ich empfehle Ihnen diese beiden Bücher des Alten Testaments sehr. Sie sind lehrreich und an vielen Stellen auch amüsant, teilweise allerdings auch deprimierend. In vielen Teilen werden wir uns mit unserer eigenen Lebenserfahrung wiederentdecken. 

Über Arme und Reiche lesen wir in den Sprüchen Salomos unter anderem zum Beispiel folgende Beobachtungen: „Reichtum macht viele Freunde; aber der Arme wird von seinem Freunde verlassen.“ Und: „Ein Armer redet mit Flehen, aber ein Reicher antwortet hart.“ Wer könnte leugnen, dass sich in diesen Beobachtungen vielfache Lebenserfahrung verdichtet hat?! 

Oder diese Schlussfolgerung: "Ein Armer, der in Unschuld wandelt, ist besser als einer, der Verkehrtes spricht und dabei reich ist.“ Auch hier möchten wir zustimmen. Ähnliche Sprüche können wir jede Menge mehr nachlesen. Manche sind auch als Sprichwörter in unseren Sprachschatz aufgenommen und Ausdruck unserer eigenen Lebensweisheit geworden: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ zum Beispiel. Aus dieser Beobachtung hören wir auch schon die Mahnung heraus: Wir sollten es lieber lassen, anderen eine Grube zu graben. Das könnte sonst zu unserem eigenen Schaden sein.

Diese zwei Aspekte machen die Weisheit aus: die Lebenserfahrung und die angemessenen Schlussfolgerungen daraus. Die alten Israeliten waren davon überzeugt, dass es ihr Wohlergehen fördern würde, die Lebenserfahrungen zu beachten. Ihnen zuwiderzuhandeln, würde zu ihrem Nachteil sein: Wer anderen eine Grube gräbt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er dann selbst hineinfällt. Er hätte es voraussehen können.

Solche Lebensweisheit hat durchaus etwas für sich. Zwar gibt es widersprüchliche Erfahrungen und darum auch widersprüchliche Schlussfolgerungen. Aber im Grunde geht es darum, durch Beobachtung aller Lebensvorgänge die ihnen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren und dann durch Beachtung dieser Gesetzmäßigkeiten im eigenen Verhalten das Wohlergehen zu fördern. Das ist weise, und das ist der Segen der Weisheit, dass es uns wohlergeht, wenn wir uns nur recht verhalten. 

Lange sind die alten Israeliten von diesem Zusammenhang überzeugt gewesen, dass ein bestimmtes Tun ein bestimmtes Ergehen zur Folge haben würde. Dieser Zusammenhang hatte für sie religiöse Qualität. Die Gesetzmäßigkeiten, die wir durch langjährige Lebenserfahrung entdecken, sind, so meinten sie, die Ordnungen Gottes. Wer sich diesen Ordnungen einfügt, kann mit Wohlergehen rechnen, wer ihnen zuwiderhandelt, wird Unglück auf sich häufen. Später haben sich die Lebensweisheiten in der Tora, der jüdischen Gesetzeslehre verdichtet. Das Halten der Gesetze und Gebote wurde zu einer Frage von Heil und Unheil.

Die Beachtung der Lebenserfahrung ist wie gesagt zum einen die Stärke der Weisheit. Sie ist zum anderen aber auch ihre Schwäche. Denn Lebenserfahrung macht auch bitter. Alle großen Hoffnungen schwinden mit den Jahren dahin. „Realistisch werden“, – „Auf den Boden der Tatsachen kommen“, - das sind resignative Wendungen. 

Auch die alten Israeliten haben der deprimierenden Wirkung der Lebenserfahrungen Ausdruck verliehen. Während es zum einen ganz optimistisch geheißen hatte: „Wohl den Menschen, die Weisheit erlangen! Langes Leben ist in ihrer rechten Hand, in ihrer Linken ist Reichtum und Ehre.“, heißt es bald: „Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen. Wenn es mir, dem Weisen, nicht besser geht als den Toren, warum habe ich dann nach Weisheit getrachtet? Weisheit oder Torheit - beides ist eitel.“ Und die Schlussfolgerungen daraus: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest." Die Lebenserfahrung hat die Lust am Leben verdorben: „Darum verdross es mich zu leben, denn es war mir zuwider, was unter der Sonne geschieht; das alles ist Haschen nach Wind.“ 

Was bleibt angesichts des trostlosen Resümees? „Darum pries ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, als zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinem Leben sein Leben lang.“

Das ist nun der Zusammenbruch der Lebensweisheit. Da sind die Weisen mit ihrer Weisheit am Ende. Aus der Lebenserfahrung hat sich keine heilsame Lebensordnung herauslesen lassen. Das Streben nach Wohlergehen ist durch die Analyse der Lebenserfahrungen nicht zum Ziel gekommen. Die alten Israeliten haben aber darum Gott nicht verworfen. Sie haben erkannt, dass Gott wohl größer ist und mehr ist als das, was ihnen durch Erfahrung zugänglich ist.

Paulus polemisiert gegen die Weisheit der Welt und kann damit rechnen, dass er hier und da auf Verständnis stößt. Was hat Paulus anzubieten? Er predigt den gekreuzigten Christus, die Weisheit Gottes. Der gekreuzigte Christus ist geradezu das Gegenbild des weisheitlichen Denkens. Als der fromme Hiob leiden musste, war weisheitliches Denken schon infrage gestellt. Denn Hiob hatte die göttlichen, auf Erfahrung gegründeten Ordnungen sein Leben lang respektiert - und nun geriet er dennoch ins Unheil. Das Schicksal Hiobs passte nicht zum Denken der Weisheit. 

Dass nun jemand, der als Verbrecher hingerichtet worden war, als Sohn Gottes vorgestellt wird, das war die Aufforderung, von der Weltweisheit Abschied zu nehmen. Wenn Paulus sagt: „Christus ist um der Menschen willen gestorben", welche Rolle spielen dann noch die Lebenserfahrungen. Doch nicht mehr die, dass wir aus ihnen die Regeln für ein heilsames Leben herausanalysieren könnten! 

Die Lebenserfahrungen, zu denen nun auch die Kreuzigung Jesu gehört, können den Menschen wiederum ratlos und deprimiert machen. Was Menschen nach langer Erfahrung mit sich selbst und ihren Mitmenschen und den Gang der Dinge in der Welt zusammenfassend sagen können, wird nicht sehr erhebend sein. Dass Christus sein Leben den Menschen zugute hingegeben hat, kann nicht auf dem Resümee seiner Lebenserfahrungen in einem weiseitlichen Sinne gewesen sein. Er hatte genug gelitten und genügend enttäuschende Erfahrungen gemacht, als dass es ihm lohnend hätte erscheinen können, sich um der Menschen willen aufzuopfern. Seine Selbsthingabe geschah trotz und entgegen dem Augenschein aller Erfahrung. 

Wenn wir etwas über Gott wissen wollen, dann hilft uns der Blick auf unsere Lebenserfahrung zunächst wenig. Da müssen wir erst einmal auf Christus schauen. Von ihm her werfen wir dann den Blick zurück auf unser Leben.

Unsere Lebenserfahrungen können uns in tiefe Resignation, in Verzweiflung und Zynismus stürzen. Und sie könnten uns zur Leugnung Gottes führen. Wenn wir bei Christus anfangen, in ihm Gott erkennen, dann stellt sich von da her unsere Lebenserfahrung in einem neuen Licht dar. Wir werden das Leben dann interpretieren von der Erfahrung her, dass sich Gott in Christus der Welt in Liebe zugewandt hat. Eine solche Sicht des Lebens kann uns Kraft zum Leben geben. Dem Realisten, dem Weisen der Welt, muss dieser Weg töricht erscheinen. Aber ist solche Torheit Gottes nicht in der Tat weiser als die Weisheit der Welt? Sie ist es, die uns die Kraft zum Leben stärkt.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 29. Juni 1986)

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