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Kantate (19.5.19)


Mission durch fürsorgliches Handeln

 16. Mai 1976

Kantate

(4. Sonntag nach Ostern)

Apostelgeschichte 16,16-34

 

Je häufiger Menschen in unserem Land der Kirche den Rücken kehren oder sich gar nicht erst auf die Kirche einlassen, desto wichtiger wird die Mission. Die Volkskirche ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Dass man einfach in die Kirche hineingeboren wird und sein Leben lang darin verbleibt, das war einmal so. Das ist zum größten Teil zwar noch so. Aber viele Kinder werden nicht mehr getauft. Das gilt besonders für die Großstädte. Viele lassen sich nicht mehr konfirmieren. Viele Paare lassen sich nicht mehr kirchlich trauen. Und immer weniger Menschen lassen sich kirchlich bestatten.

Manch einer macht sich um die Zukunft der Kirche Sorgen. Und manche versuchen, Zeichen eines Umschwungs, einer neuen Hinwendung zur Kirche zu erkennen.  Auf jeden Fall ist die Zugehörigkeit zur Kirche und zum christlichen Glauben keine Selbstverständlichkeit mehr. Für die bewussten und aktiven Christen tritt damit immer mehr die eine Aufgabe in den Vordergrund: nämlich das Wort Gottes denen in unserem eigenen Land, in unserer eigenen Gemeinde, zu verkünden, die es nicht mehr hören oder noch gar nicht gehört haben, und diese Menschen wieder oder erstmals in die Gemeinschaft der Christen, sprich Kirche, hineinzuziehen. Wir stehen wieder vor der Aufgabe, Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren. Wie können wir diese Aufgabe vollbringen?

Im Neuen Testament wird uns manche Bekehrungsgeschichte erzählt. Eine wollen wir uns heute anhören und gemeinsam bedenken. Sie steht in der Apostelgeschichte im 16. Kapitel. Es ist eine lebendige und spannende Geschichte, allerdings auch eine etwas wundersame.

Worum geht es hier in der Geschichte? Das Ganze spielt in der Stadt Philippi in Griechenland. Da ist eine Sklavin, die weissagen kann. Für die Leute, bei denen sie angestellt ist, ist sie mit dieser Fähigkeit bares Geld wert. Mit dieser Sklavin können sie einträgliche Geschäfte machen.

Als eines Tages Paulus und sein Begleiter Silas in diese Gegend kommen, weiß die Sklavin kraft ihres Weissagegeistes gleich, um wen es sich bei den beiden handelt, nämlich um Diener Gottes, die sagen können, wie die Menschen gerettet werden können. Das schreit sie denn auch für alle öffentlich hörbar hinter den beiden Männern her.

Das wird Paulus nach einiger Zeit wohl lästig. Vielleicht ist es ihm auch peinlich. Jedenfalls befiehlt er dem Wahrsagegeist: „Verlasse dieses Mädchen!“ Und schon ist die Sklavin ihren Wahrsagegeist los. Die Besitzer der Sklavin sind darüber außerordentlich verärgert. Denn eine einträgliche Geldquelle ist damit versiegt. In ihrem Zorn lassen sie Paulus und Silas entkleiden und verprügeln und schließlich ins Gefängnis sperren. Dem Gefängniswärter schärfen sie ein, die beiden gut zu verwahren und sie ja nicht entlaufen zu lassen.  Der Wärter steckt die beiden also in die innerste Zelle und schließt ihre Füße noch dazu in einen Holzblock ein.

Und nun kommt schon der erste Satz, der stutzig macht. Da steht: „Um die Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott.“ Das ist merkwürdig. Denn was soll das Lob Gottes an dieser Stelle? Die beiden hätten in ihrer Situation doch wahrlich allen Grund gehabt zu klagen! Sie hätte doch beten können: „Gott, warum hast du zugelassen, dass wir so ungerecht behandelt werden, dass wir geschlagen und ins Gefängnis gesperrt werden?“ Aber nein, sie loben Gott.

Dann gibt es ein Erdbeben. Die Gefängnistüren springen auf, die Fesseln der Gefangenen lösen sich.  Unglaublich! Aber darauf kommt es hier nicht an. Entscheidend ist das Folgende: Der Gefängniswärter, der aus dem Schlaf hochgeschreckt ist und das Gefängnis geöffnet sieht, greift zum Schwert und will sich töten. Warum? Er weiß, dass, wenn die Gefangenen entflohen sind – und davon geht er aus –, dann wartet ohnehin die Todesstrafe auf ihn. Dieser Schmach will er zuvorkommen, indem er sich selbst das Leben nimmt. Doch kaum hat er das Schwert aus der Scheide gezogen, hört er die Stimme des Paulus: „Tu dir nichts an“, ruft er, „wir sind noch hier!“

Der Wärter traut seinen Ohren nicht, aber er hat richtig gehört. Überwältigt von Glück und Dankbarkeit – und wohl auch Verwunderung – fällt er den beiden Männern zu Füßen und fragt sie: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ Paulus antwortet: „Verlass dich auf Jesus, den Herrn. Dann wirst du gerettet und deine Angehörigen mit dir.“ Der Wärter nimmt die beiden zu sich nach Haus, wäscht ihre Wunden und lässt sich sogleich an Ort und Stelle mit seiner ganzen Familie taufen.

Die Geschichte geht noch weiter. Aber wir wollen uns mit diesem Abschnitt begnügen.

Da sind also zwei merkwürdige und aufregende Dinge in dieser Geschichte. Ich meine nicht die wunderliche Austreibung des Geistes. Man mag sich lange darüber streiten, ob so etwas geht oder nicht. Ich meine auch nicht das Erdbeben, das wie bestellt die Gefängnistüren aufsprengt und die Fesseln der Gefangenen löst. Das ist zwar auch alles recht wundersam und wunderlich, aber nicht das eigentlich Wichtige.

Wichtig erscheint mir vielmehr dieses: Erstens, dass die beiden Männer in ihrer unglücklichen und gefährlichen Situation Gott loben, statt das unselige Schicksal zu beklagen. Und zweitens, dass sie nicht einfach auf dem schnellsten Weg davonlaufen, als die Gefängnistüren geöffnet und sie von ihren Fesseln los waren. 

Das hätte man doch eigentlich erwarten sollen: dass sich die beiden schnellstens in Sicherheit bringen und ihr Leben retten würden. Ihre Freiheit hätte dann allerdings den Gefängniswärter und vielleicht auch seine Familie das Leben gekostet; auf jeden Fall aber hätte es ihm die allergrößten Schwierigkeiten eingebracht. Aber wem ist das Hemd nicht näher als die Jacke? Wer zuerst sein eigenes Leben zu retten sucht, bevor er an das Leben anderer denkt, dem kann nicht einmal ein moralischer Vorwurf gemacht werden.

Paulus und Silas verhalten sich jedoch anders, als man eigentlich hätte annehmen sollen. Die unverhofft wiedergeschenkte Freiheit nutzen sie nicht, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie bleiben freiwillig im Gefängnis. Sie riskieren damit ihr eigenes Leben, um das Leben des Wärters und seiner Familie zu retten. Dieser ist von der Haltung der beiden Männer so beeindruckt, so überwältigt, dass er sich spontan zu dem Gott bekehrt, in dessen Namen sie handeln. Er lässt sich mit seiner ganzen Familie taufen.

Hier erleben wir also eine Bekehrung mit. Sie ist die unmittelbare Folge des beeindruckenden Verhaltens von Paulus und Silas. Diese beiden haben dem Gefängniswärter das Leben gerettet. Warum eigentlich? Warum setzten sie ihr Leben aufs Spiel, um diesen Wärter zu retten? Sie kennen ihn doch gar nicht näher. Er ist zudem Heide. Und in der kurzen Zeit, in der sie mit ihm zu tun gehabt haben, haben sie nicht gerade gute Erfahrungen mit ihm gesammelt. Er hat sie aus Angst vor seinen Vorgesetzten in die innerste Zelle gesperrt und ihre Füße noch dazu in Holzblöcke eingebunden. Er hat sie also nicht gerade zimperlich behandelt, sondern sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln festgesetzt, um sie an der Flucht zu hindern.  Er hatte ihnen nicht helfen wollen. Dennoch sind die beiden jetzt unter Einsatz ihres Lebens darauf bedacht, diesem Wärter zu helfen. Verdient hat er das nicht. Sie schulden ihm diese Hilfe in keiner Weise. Warum also bringen sie sich nicht selbst in Sicherheit?

Eine Antwort ist in dieser Geschichte nicht ausdrücklich gegeben. Aber sie ist im Verhalten der beiden enthalten. Paulus und Silas erkennen in dem Wärter den hilflosen, geängstigten Menschen, der als Spielball fremder Mächte nicht sein eigener Herr ist.  Sie sehen in ihm das angstvolle Geschöpf, das sein eigenes Leben zu erhalten sucht, und das sich nicht besser zu helfen weiß, als den Willen seiner Vorgesetzten aufs genaueste zu erfüllen. Dieser Mensch will leben, aber sein Leben ist abhängig vom Gutdünken seiner erbarmungslosen Dienstherren. Um am Leben zu bleiben, sucht er ihren Willen in sklavischem Gehorsam zu erfüllen. Er kann sich kein Urteil darüber erlauben, ob die Gefangenen in seinem Gefängnis zu Recht oder zu Unrecht eingesperrt sind. Seine Aufgabe ist es, sie in sicherem Gewahrsam zu halten. Mit der sorgfältigen Erfüllung dieser Aufgabe steht und fällt sein Leben und das Wohl seiner Familie.

Die beiden Männer sehen den Wärter mit menschlichen Augen an. Sie sehen in ihm nicht den, der sie peinigt, sondern den, der selbst leidet, leidet unter der Fremdbestimmung durch ihm übergeordnete Menschen, durch seine schwere Aufgabe und durch die Angst vor dem eigenen Versagen. Sie sehen den Wärter mit menschlichen Augen an und nehmen sich seine persönliche Not selbst zu Herzen. Zwar haben sie auch ihre eigenen Sorgen. Aber sie scheinen da keinen Unterschied zu machen. Sie nehmen sich der Not des anderen an, als wäre sie ihre eigene. Sie nehmen das Leid des anderen wie ein eigenes auf sich.

Darum können sie auch in der Gefängniszelle noch beten und Gott loben. Denn ihr eigenes Unglück sehen sie nicht als etwas Besonderes an. Auch außerhalb des Gefängnisses haben sie gelitten, nämlich am Leid der anderen.

Damit stehen sie in der Nachfolge Jesu Christi, der ja auch nicht um sein eigenes Wohlergehen besorgt war, sondern sich mit seinem ganzen Leben für die Menschen neben ihm und nach ihm eingesetzt hat.

Wenn wir noch einmal fragen: „Warum nehmen die beiden Männer so sehr Anteil an der Not dieses ihnen doch unbekannten Menschen?“, so können wir gar nicht anders, als mit dem Hinweis auf Jesus Christus antworten. In ihm ist deutlich geworden, dass wir erst dann wirklich leben können, wenn wir für andere Menschen leben.

Wir stehen heute also wieder mehr denn je vor der Aufgabe, Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen. Wie können wir das tun? Wir können es durch unseren Mund tun, indem wir Gottes Wort verkünden. Aber noch wirksamer ist es wohl, wenn wir uns mit unserem ganzen Leben in die Nachfolge Jesu Christi stellen, wie es die beiden Männer in dieser Geschichte getan haben. Dazu gehört ein gutes Maß an Opferbereitschaft und an Bereitschaft, Risiken einzugehen. Das bequeme Leben hat uns vielleicht ein bisschen selbstgefällig gemacht. Uns fehlt vielleicht ein wenig der innere Schwung. Wir sind, was den christlichen Glauben anbetrifft, wie Vögel, denen man die Flügel gestutzt hat: Wir hüpfen nur noch am Boden herum, statt die unendliche Freiheit des Himmels zu genießen.

Wo können wir uns heute in unserem christlichen Glauben bewähren? Immer da, wo Menschen uns brauchen. Jeder wird gebraucht, die Großen und die Kleinen. Das ist das wahre Lob Gottes: dass wir nicht für uns selbst, sondern füreinander da sind.  

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in der Martinskirche in Cuxhaven-Ritzebüttel am 16. Mai 1976)

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