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Jubilate (12.5.19)


Freude trotz des Leids?

13. Mai 1973

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

Johannes 16,16-23a


Großer Schmerz und große Freude liegen oft ganz nahe beieinander. Jesus nennt dafür ein Beispiel: Bei der Frau, die ein Kind bekommt, verwandeln sich die Schmerzen der Wehen im Handumdrehen in Freude über das neugeborene Kind. Und denken wir einmal an die Studenten, die gerade vor dem Examen stehen, oder an die Schüler, die eine Prüfung machen, dann sehen wir auch hier ein Beispiel dafür, wie der großen Freude über die bestandene Prüfung eine Zeit des Leidens, eben die Zeit des Büffelns und Bangens, man könnte sagen: „eine Passionszeit“, vorausgeht. Da schlagen dann die Gefühle in einem kurzen Augenblick von einem Extrem ins andere. Je größer das Leiden vorher, desto größer die Freude nachher.

Unser heutiger Predigttext aus dem 16. Kapitel des Johannesevangeliums lenkt unser Augenmerk auch auf eine Passionszeit, eine Zeit des Leidens, nicht die Jesu, sondern eine Passionszeit der Jünger. Gemeint ist die Zeit zwischen Jesu Tod und Auferstehung. Für die Jünger ist es eine Zeit der Trauer, Trauer über den Tod, über die Abwesenheit Jesu. „Ihr werdet weinen und heulen“, sagt Jesus. Aber die Zeit der Trauer wird begrenzt sein. Mit dem Hinweis auf seine Wiederkehr versucht Jesus seine Jünger zu trösten. Er stellt ihnen ein baldiges Ende der Trauerzeit in Aussicht: „Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“

Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude gehören zu unseren täglichen Erfahrungen. Geradezu klassisch verkörpert sind sie hier an der Küste in den Frauen der Seeleute – und natürlich in den entsprechenden „gefühlvollen“ Schlagern. Aber auch wir selbst nehmen oft genug das Wechselbad von Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude. Man braucht nur frisch verliebt zu sein, um zu spüren, wie schnell und häufig und heftig Schmerz und Freude einander ablösen können.

Wo wir in Liebe einander verbunden sind oder sonstwie eine herzliche menschliche Gemeinschaft pflegen, da überfällt uns der Schmerz, wenn einer plötzlich nicht mehr da ist. Diese Lage tritt für die Jünger ein. Jesus sagt es ihnen voraus.

Freilich nimmt nicht jeder Anteil an solchem Schmerz. Diejenigen, die zu dem Dahingeschiedenen keine enge menschliche Beziehung hatten, werden über seinen Tod kaum Schmerz empfinden können. Ja, wenn sie ihn gar gehasst haben, wird sie sein Ende eher mit Freude erfüllen. Da könnte man sagen: „Was dem einen sein Leid, ist dem anderen sein Freud.“

So wird es mit Jesus gewesen sein. So sehr ihn seine Jünger liebten, so sehr hassten ihn etliche andere. Deshalb heißt es in unserem Text: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen.“ Das ist heute nicht anders. So sehr es die einen mit Trauer und Sorge erfüllt, dass es mit der Kirche bergab zu gehen scheint, so sehr freuen sich andere darüber, dass diese ihnen so lästige Erscheinung endlich offenbar am Ende ihrer Existenz angekommen ist.

Freud und Leid gehen in mannigfacher Weise Hand in Hand. Wir dürfen bei diesem Thema noch verweilen, gerade am heutigen Sonntag, der den Namen „Jubilate“ trägt. Das heißt auf Deutsch: „Jauchzt! Freut euch! Seid froh!“ Gemeint ist nicht irgendeine Freude, sondern die Freude über die Auferstehung Jesu. Was heißt das? Nun, lassen Sie uns einen kleinen Umweg machen, um zu einer Antwort zu gelangen.

Im Kindergottesdienst ist als Text heute die Heilung am Teich von Bethesda dran. Wir hören da, wie Jesus einen Gelähmten heilt, der achtunddreißig Jahre lang vergeblich darauf gewartet hatte, dass die Wunderkraft der Heilquelle bei Bethesda seine Krankheit beenden würde. Wir können uns vielleicht die Freude vorstellen, die Jesus diesem Gelähmten zu bereiten vermag. Die Freude ist gerade deshalb so groß, weil ihr großer Schmerz vorangegangen ist.

Worüber sich der Gelähmte so riesig gefreut haben mag, nämlich wieder laufen zu können, freuen wir uns, die wir gesund sind, im Allgemeinen nicht sonderlich. Für uns ist die Gesundheit eher eine Selbstverständlichkeit und daher kein besonderer Anlass zur Freude. Freude ist vor allem da, wo zugleich Schmerz ist. Wenn wir uns dennoch über unsere Gesundheit freuen können, dann indem wir an den Schmerzen der Kranken teilhaben und erkennen, dass unsere Gesundheit gerade keine Selbstverständlichkeit ist und uns deshalb jeden Tag von neuem Grund zur Freude und Dankbarkeit sein müsste.

Nun müssen wir aber noch einen Schritt weiter gehen. Heute haben wir nicht nur den Sonntag Jubilate, sondern wir haben zugleich Muttertag. Auch von daher ist dieser Sonntag ein Tag der Freude und Dankbarkeit. Freude und Dankbarkeit, weil unsere Mütter uns geboren und uns in unserer Kindheit beschützt und uns liebevoll großgezogen haben.

Aber wie ist das nun eigentlich? Ich kenne da jemanden, der sich weder darüber freut, noch dankbar dafür ist, geboren zu sein. Denn, so sagt er: „Das Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Man muss sich ganz schön abrackern, um so einen Tag nach dem anderen hinter sich zu bringen. Und all diese tägliche Anstrengung – nur weil man nun einmal geboren ist! Wenn man mich gefragt hätte“, sagte er, „dann hätte ich darauf verzichtet, mich auf die Welt bringen zu lassen. Solange man gesund ist und man einigermaßen in Form ist“, meinte er, "geht das ja noch, aber trotzdem – dafür froh und dankbar sein – nein!“

In der Tat – können wir diesem Menschen nicht nachfühlen, was er meint? Denken wir noch einmal an den Gelähmten zurück aus der Erzählung von der Heilung in Bethesda! Hatte er Grund zur Freude über seine Geburt? Musste er, solange er gelähmt war und davon auszugehen hatte, dass er für immer gelähmt bleiben würde, nicht eher seine Geburt verfluchen, über die Tatsache seines Daseins zutiefst betrübt sein? Ist also der Muttertag im Grunde nicht nur für die „Kinder“ da, die das Leben noch in vollen Zügen genießen können und deshalb ersichtlichen Grund haben, sich ihres lebendigen Daseins zu erfreuen?

An dieser Stelle kommen wir auf die Freude über den Wiederauferstandenen zurück. Sie besteht darin, dass, wie Johannes sagt, in Christus das Licht der Welt erkannt wird. Und das heißt: Der Glaubende sieht in Christus den, der uns von der Welt erlöst, von ihren Gesetzmäßigkeiten, ihren Spielregeln, ihren Zwängen.

Wenn es heißt: Christus, das „Licht der Welt“, dann ist damit die Welt in ihrem Wesen als Dunkelheit gekennzeichnet, als unmenschlich dergestalt, dass der Mensch immer durch Tod und Leid bedroht ist und oft mehr leidet als lebt. Christus, das Licht der Welt, heißt nicht: „Er hat die Verhältnisse verändert.“ Tod und Leid bestehen unvermindert weiter. Aber durch ihn können wir alles in einem neuen Lichte sehen. Er will uns sagen: „Ihr leidet, weil ihr der Welt verhaftet seid, macht euch frei von der Welt und glaubt an den, der die Welt überwunden hat.“

Der Gelähmte hätte nach den gängigen Regeln der Welt sein Dasein verfluchen müssen. Denn nach gewissen Vorstellungen in der Gesellschaft damals wie auch heute ist nur der in Ordnung, hat nur der Grund zur Zufriedenheit, der gesund und stark ist. Und nach den gleichen Vorstellungen hätten wir berechtigten Grund zur Klage, wenn nicht alles glatt läuft. Und so kann dann eben einer sagen: „Mit der Freude über das Geborensein hört es da auf, wo die Zuckerseite des Lebens dahingeschmolzen ist.“

Nun hat uns Jesus davon befreit, dass wir meinen, über unser Leid in der Welt klagen zu müssen. Er hat uns gesagt: Lasst euer Leid Leid sein und freut euch des Lebens.“ Theologisch gesprochen, uns von der Welt abzuwenden und uns Gott zuzuwenden. An Gott glauben heißt in dem Sinne, sich von der Welt befreien zu lassen, dem Leid in der Welt zum Trotz nicht in Klagen zu verfallen, sondern sich des Lebens zu erfreuen und diese Freude unbeirrt zum Ausdruck zu bringen. So verstanden können wir getrost Muttertag feiern.

Mag uns das Leben gelegentlich auch schwer zu schaffen machen und uns die Welt dazu verführen wollen, das Leben als eine uns ungefragt aufgebürdete Last, als unabänderliches Übel hinzunehmen, so sagen wir dennoch: „Wir leben, und darüber freuen wir uns!“ Theologisch gesprochen: Wir verstehen unser Leben als Geschenk Gottes. Und, wie der Volksmund sagt: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“ Es steht uns nicht zu, nach den faulen Stellen dieses Geschenks zu suchen und sie dem Spender vorzuhalten.

Solange wir der Welt verhaftet sind, leiden wir, leiden wir an unserem Leid. Die Freude über den auferstandenen Jesus ist die Freude über die Befreiung aus den Zwängen dieser Welt. Freud und Leid sind eng miteinander verknüpft. Christus ist unsere Freude, weil wir durch ihn unser Leid überwinden.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in der Martinskirche in Cuxhaven-Ritzebüttel am 13. Mai 1973)

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