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Rogate (26.5.19)


Religiös mündig werden

5. Mai 1991

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

Johannes 16,23b-28.33


Abschied bedeutet Verunsicherung, der Abschied insbesondere von einer starken Persönlichkeit, die in sich die Lebensmitte, Sinn und Halt und Wegweisung des Lebens verkörpert hat. Jesus bereitet in seelsorgerlicher Verantwortung seine Jünger auf seinen Abschied vor. Darum geht es in unserem etwas komplizierten Predigtabschnitt. 

Das Anliegen Jesu: Er möchte das Selbstbewusstsein der Jünger stärken. Sie müssen künftig ohne ihn zurechtkommen, ohne seine leibhaftige Anwesenheit. Das bedeutet für sie auch: Sie werden sich künftig selbst direkt, unmittelbar Gott zuwenden müssen – im Gebet. Er, Jesus, wird nicht mehr ihr Mittler sein. Sie werden also auch in ihrem Glauben selbstständig werden, auf eigenen Beinen stehen müssen. 

Jesus weist seine Jünger nicht nur auf die Notwendigkeit der Selbstständigkeit hin. Er macht ihnen auch Mut, die auf sie zukommende Eigenverantwortung vertrauensvoll zu ergreifen. „Ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ – „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.“ 

Sie sollen sich in ihrer künftigen selbstständigen Gottesbeziehung durchaus auf ihn berufen dürfen. Er will sie nicht zurücklassen in einer vagabundierenden Religiosität, in einer religiösen Ziellosigkeit. In ihrem Gottesverhältnis sollen und dürfen sie sich durchaus von all dem leiten lassen, was sie durch ihn erfahren und gelernt haben. Sie dürfen sich auf ihn berufen, aber sie werden jetzt selbst den Mund aufmachen müssen und ihre Gebete direkt Gott vortragen. Und: „Keine Angst“, so sagt er ihnen: „Gott wird euch wohlwollend anhören: Bittet, so werdet ihr empfangen. Denn Gott, der Vater, hat euch gern.“

Wie notwendig und bedeutsam dieses seelsorgerliche Vorgehen Jesu ist, wird uns deutlich, wenn wir uns die Situation der Jünger Jesu noch einmal vor Augen führen. Jesus hatte sie aus allen traditionellen Bindungen herausgerufen, nicht nur aus dem Kontext ihrer familiären und beruflichen Sicherheit, sondern auch und vor allem aus den geltenden religiösen Konventionen, und das heißt auch aus dem, was zuvor im gesellschaftlichen Leben für sie verbindlich gewesen war. 

Sie glaubten daran, dass in ihm der erwartete Messias gekommen war und vertrauten sich ganz seiner Leitung an. Die für sie bis dahin verbindlichen religiösen Autoritäten, die Hohepriester, die Schriftgelehrten, die Pharisäer, die Sadduzäer, die religiöse Praxis, die Reinlichkeitsvorschriften, die Opferriten und die vielen gesetzlichen Regelungen, die alle religiös begründet waren – das Sabbatgebot zum Beispiel – und auch die weitgehend religiös verursachte Einteilung in gesellschaftliche Gruppen – all dies rückte für sie an die zweite Stelle. 

An erster Stelle wurde für sie verbindlich, was Jesus sagte, tat und wollte. Und da er in vielem in Widerspruch geriet zu dem, was herkömmlicherweise galt, war nicht nur er gefährdet, sondern sie mit ihm. 

Und da sie sein Reden und Tun und seine Absichten nicht voll verstehen konnten, waren sie ganz darauf angewiesen, darauf zu vertrauen, dass das alles gut und richtig und sinnvoll sein würde, was sie mit ihm erlebten. In dem Maße, in dem sie sich ihm anvertrauten, gaben sie ihre bisherigen Sicherheiten auf. Sie waren auf Jesus bezogen, auf ihn angewiesen, von seinen Erklärungen und Interpretationen abhängig. 

Jesus stellte für sie einen Bruch mit der Vergangenheit dar, das Alte war für sie vergangen, auf das Neue gingen sie erst noch zu. Das Neue lag noch etwas nebelhaft vor ihnen; sie selbst hätten den Weg in die neue Zukunft noch nicht gehen können. Sie konnten nur vertrauensvoll Jesus folgen und im Vertrauen auf ein gutes Ende die Unsicherheiten und Gefährdungen und Benachteiligungen in Kauf nehmen, die ihnen die Verbindung mit ihm einbrachten.

Und dann also steht der Abschied Jesu bevor. Wir können wohl verstehen, dass Jesus sie darauf schonend vorbereitet. Sie werden selbstständig werden müssen. Wenn sie nicht zurückfallen wollen in ihre früheren Konventionen, in das, was einmal gewesen war, sondern an ihrem neuen Glauben festhalten wollen, dass Jesus der Messias ist, dass er von Gott gesandt ist, dann werden sie diesen Glauben künftig selbst vertreten und mit all seinen praktischen Konsequenzen im religiösen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich selbst gestalten müssen. 

Was später das Priestertum aller Gläubigen genannt worden ist, das empfiehlt Jesus hier seinen Jüngern an. Für sie ist das noch eine zunächst unvorstellbar große Aufgabe. Denn sie sollen an der Gestaltung von etwas Neuem eigenständig mitwirken, dessen Umrisse ihnen noch recht undeutlich sind. All ihre Unsicherheiten, ihre Ängste, Fragen und Wünsche sollen sie Gott selbst vortragen im Gebet. Und wenn sie dies tun, dann sollen sie sich dabei dessen bewusst sein, dass er, Jesus, beim Vater ist, Gott – Vater und Sohn – sind eins. Diese Vorstellung wird ihnen helfen, Gott so zu sehen, wie sie ihn, Jesus, erlebt haben: als denjenigen, der die Menschen liebt, der barmherzig mit ihren Schwächen und Nöten ist und der Schuld und Versagen verzeiht. 

Eine solche unmittelbare Gottesbeziehung waren die Jünger nicht gewohnt. Ihre Umwelt würde dies als Anmaßung betrachten. Auf ihrem schweren Weg der eigenständigen Nachfolge Jesu würden sie sein tröstendes und stärkendes Wort gebrauchen: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Jesus hat seine Mittlerrolle ausdrücklich abgelegt und denen, die ihm nachzufolgen bereit sind, eine eigene Mündigkeit in Sachen des Glaubens zugesprochen. Diese Mündigkeit wahrzunehmen, ist gar nicht so einfach. Sie setzt Mut und Initiative und Phantasie voraus. Gott ist eben so groß und unfassbar, so geheimnisvoll und so unnahbar, dass die Existenz eines Mittlers durchaus wie eine Erleichterung erscheinen kann. 

Stellen wir uns nur einmal vergleichsweise vor, ein einfacher Bankkunde im Zentrum von Frankfurt beklagt sich unten am Schalter über die Geschäftsbedingungen der Bank und der Bankangestellte würde dem Kunden sagen: „Nehmen sie doch den Fahrstuhl in den 35. Stock und tragen Sie dort dem Chef ihre Klage persönlich vor.“ Ob es dem Bankkunden recht wäre, sich gleich an die höchste Stelle zu wenden, ist fraglich. Eine mittlere Instanz wäre ihm vielleicht sympathischer, selbst wenn er davon ausgehen könnte, dass seine Sache von ganz oben entschieden werden müsste.

Zum anderen kennen wir die Erfahrung, wie lästig es sein kann, nicht bis zum Entscheidungsträger vorgelassen zu werden, wie entwürdigend es sein kann, mit dem eigenen Anliegen schon im Vorzimmer abgewiesen zu werden. Wir hätten den Chef gern selbst gesprochen, aber wir kommen nicht an ihn heran.

Verzeihen Sie diese profanen Vergleiche. Worum es geht, ist dies: Jesus ermutigt seine Jünger zu einem direkten, unmittelbaren Gottesverhältnis. Er spricht ihnen die religiöse Mündigkeit zu und er macht ihnen Mut, sie wahrzunehmen. 

Was er den Jüngern sagte, dürfen wir in gleicher Weise auf uns beziehen. Zwischen uns und Gott ist eine vermittelnde Instanz nicht notwendig. Wenn sich im Laufe der Kirchengeschichte auch immer wieder solche Instanzen aufgebaut haben: Wir können uns direkt an ihn wenden. Da gibt es auch keine Vorbedingungen und Auflagen: weder Leistung und Erfolg, sozialer Status, adrettes Aussehen, weiße Weste oder besondere Frömmigkeit. 

Wir dürfen uns an ihn wenden als diejenigen, die wir sind. Das wird uns nicht schwerfallen, wenn wir ihn als denjenigen ansehen, den uns Jesus Christus vor Augen gestellt hat - als Gott, den liebenden Vater aller Menschen. 

Wer Gott so sehen kann, der wird mit eben solchen Augen den Mitmenschen ansehen als das von Gott geliebte Kind, als Schwester und Bruder unserer selbst. In der Taufe – wie auch im Abendmahl – wird diese Familie zeichenhaft dargestellt.  

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus in Hamburg-Hoheluft am 5. Mai 1991)

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