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8. Sonntag nach Trinitatis (11.8.19)


Zukunft ist mehr als Fortsetzung der Vergangenheit

9. August 1981

8. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 2,1-5


Es ist ein Segen, dass wir nicht wissen, was uns die Zukunft bringt. Es wäre schrecklich, wenn wir unser ganzes Leben schon sozusagen auf einer Filmrolle hätten, die wir abspulen und betrachten könnten. Stellen wir uns vor, wir könnten uns abends hinsetzen und den Film unseres Lebens vor uns ablaufen lassen. Das wäre ja schrecklich. Es könnten schreckliche Dinge sein, die wir uns da anschauen müssten. Es könnte natürlich auch eine große Langeweile in uns ausbrechen. Es könnte ja sein, dass in unserem Leben nichts Aufregendes mehr passiert. Wir würden uns dann vielleicht fragen: „Wozu leben wir überhaupt?“ Und vielleicht würden wir sogar zu dem Schluss kommen, es wäre besser, gar nicht zu leben. 

Zum Glück wissen wir nicht, was uns die Zukunft bringt. Das ist überhaupt das Aufregende am Leben: dass wir nicht wissen, was als Nächstes auf uns zukommt. Die Zukunft ist für uns offen, mehr oder weniger natürlich, ein unbekanntes Land, voller Gefahren, aber auch voller Verheißungen. Was sich da noch alles ereignen wird! Wissen können wir es nicht. Was glauben wir, was sich da wohl noch alles ereignen wird in unserem Leben? Was glauben wir?

Wir sind, was die Betrachtung unserer Zukunft angeht, geneigt, nach einer ganz einfachen Methode zu verfahren. Wir nehmen unsere bisher gesammelten Erfahrungen und ziehen die Linien einfach weiter in die Zukunft. Damit haben wir ein gewisses Raster für unsere künftigen Lebensmöglichkeiten. Auf dieses Raster stellen wir unser Verhalten, unser Denken, auch unsere Gefühle ein. 

Dieses Raster ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden, weil jeder Mensch etwas andere Erfahrungen sammelt und auch anders veranlagt ist. Aber die Unterschiede sind wiederum gar nicht so groß. Innerhalb eines Volkes oder eines Staates gibt es verblüffende Ähnlichkeiten, weil ja gemeinsame nationale Erfahrungen gesammelt werden. Und auch über die Grenzen hinweg gibt es Ähnlichkeiten in der Betrachtung der Zukunft - einfach weil es gemeinsame, allgemein menschliche Erfahrungen gibt.

Je jünger einer ist und je weniger Erfahrungen er also hat, desto weniger kann er natürlich Linien in die Zukunft ausziehen, die ein gewisses festes Raster ergeben würden. Deshalb kommen Jugendliche oft auf Ideen, die aus dem Rahmen fallen. Man wirft ihnen dann mangelnden Realismus vor, belächelt ihren Idealismus, ihre fehlende Erfahrung, ihre Naivität. Und man tröstet sich mit der Aussicht, dass auch Jugendliche älter werden und - in Anführungszeichen - „vernünftiger“ werden. Werden sie dann ja auch meistens - leider! Leider sage ich, weil es eine fragwürdige Methode ist, die Erfahrungen unserer Vergangenheit einfach in die Zukunft zu verlängern. Zwar müssen wir uns in gewisser Weise hinsichtlich der Betrachtung und Planung unserer Zukunft - auch - nach unseren Erfahrungen richten. Aber erstens ist die Wirklichkeit viel mehr als unsere Erfahrungen, und jederzeit kann etwas völlig Neues geschehen. Es geschehen Dinge, die aus keiner bisherigen Erfahrung abzuleiten sind. 

Wenn man meinem Vater 1920, als er gerade aus der Schule gekommen war, gesagt hätte, dass er in seinen alten Tagen nach Chicago fliegen würde, um dort für ein paar Wochen Bekannte zu besuchen, und dass er täglich auf einem Fernsehbildschirm in Farbe an Ereignissen in aller Welt teilnehmen würde und dass er sich mit einem eigenen Telefonapparat zu jeder Zeit direkt mit einem Bekannten in Argentinien zum Beispiel würde unterhalten können –, wenn ihm das damals jemand gesagt hätte, er hätte über so viel „Spinnerei“ nur müde lächeln können. Aber die Zukunft hat diese Wirklichkeiten hervorgebracht. Sie sind jetzt so sehr Bestandteil unserer täglichen Erfahrung, dass wir sie gar nicht mehr als etwas Besonderes zur Kenntnis nehmen. 

Die Zukunft ist für die allergrößten Überraschungen gut. Unser menschlicher Geist ist viel zu klein, als dass er sich ausdenken könnte, was da noch alles auf uns zukommen kann, auch in Kürze auf uns zukommen kann. Das Undenkbare wird in der Zukunft möglich.

Die Erfahrungen bleiben also hinter der Wirklichkeit weit zurück. Erstens. Und deshalb ist es ziemlich unangebracht, unseren Blick in die Zukunft allzu sehr von unseren bisherigen Erfahrungen bestimmt sein zu lassen. 

Und zweitens: Indem wir unsere Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft verlängern und uns nach diesem Raster verhalten, prägen wir unsere eigene Zukunft natürlich auch mit - nach dem Bild der Vergangenheit - und produzieren nun immer wieder das, was bereits gewesen ist. Wir engen unsere eigenen Lebensmöglichkeiten ein auf den Raum, den wir in den ersten Jahren bereits beschritten haben. Man kann es auch anders sagen: Wir erheben unsere begrenzten Erfahrungen zum Lebensgesetz und knebeln uns damit selbst.

Solche Art des Umgangs mit der Zukunft ist fragwürdig, ich meine sogar, sie ist unchristlich. Unchristlich, weil Jesus Christus, dem wir, die wir hier sitzen, ja nachzuleben versuchen, Lebensmöglichkeiten der Zukunft eröffnet im Widerstand gegen den Druck der Erfahrungen. Er hat – bis zuletzt – zum Beispiel schlechte bis schlechteste Erfahrungen mit Menschen gemacht. Trotzdem glaubte er an den Menschen. Trotz der Grimasse des Bösen vermochte er im Antlitz des Menschen das Ebenbild Gottes zu erkennen. Es waren nicht seine Erfahrungen, die seine Einstellung und sein Verhalten dem Menschen gegenüber prägten. Sondern es war die Liebe zum Menschen, die von jenseits aller Erfahrungen herkommt. Die Liebe zu allen Menschen, zu dem Menschen schlechthin ist durch Erfahrung nicht begründbar. Sie steht zur Erfahrung im Widerspruch. Sie ist nun aber durch Jesus Christus Teil unserer Erfahrungen geworden. Sie zählt freilich nicht zu den Erfahrungen, die uns unwiderstehlich prägen. Andere Erfahrungen sind da in der Regel stärker. Die Liebe zu allen Menschen und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, bleiben etwas Fremdartiges in unserer Erfahrungswelt. 

Jesus Christus hat gesagt: „Mein Reich, das Reich Gottes, ist nicht von dieser Welt. Damit meinte er eben dieses: Es ist nicht gebaut nach den Regeln, nach denen wir bisher gelebt haben und meinen weiter leben zu müssen. Es ist nicht die bloße Verlängerung unserer bisherigen Erfahrungen in die Zukunft hinein. Es ist vielmehr ein Reich auf Liebe gegründet, unerschütterlich, eine feste Burg gegen den Ansturm widerstreitender Erfahrungen. In diesem Reich wird der Mensch wieder der sein, als den Gott ihn geschaffen hat: ein Liebender.

Es fällt uns schwer, so etwas zu glauben, und noch schwerer, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Aber die Anstrengung lohnt sich, das Wagnis lohnt sich, auf eine Zukunft hin zu leben, die gestaltet ist aus der Liebe zum Menschen. 

Der Prophet Joel fordert auf: „Ruft dies aus unter den Völkern, rüstet zum Krieg, erweckt die Helden; es sollen herkommen, anrücken alle Krieger! Schmiedet eure Flugscharen zu Schwertern und eure Sicheln zu Spießen.“ Das ist der Ruf, den wir kennen. Wir hören und lesen ihn täglich. Der Ruf von damals, der Ruf von jeher, der Ruf von heute und der Ruf von morgen. So war es, so ist es und so wird es folglich sein: Erfahrung in die Zukunft verlängert.

Eine andere Stimme klingt fremd und ungewohnt, aber ich muss sie hören, weil ich von Jesus Christus weiß: "Die Völker werden ihre Schwerter umschmieden zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ 

So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Und doch möchte ich diesen Satz jeden Tag wieder lesen, möchte ich die Bibel an dieser Stelle aufgeschlagen lassen, wenn ich die Tageszeitung lese. Allen Erfahrungen zum Trotz möchte ich lieber auf Hoffnung setzen. „Nie wieder Krieg!“ Ich spüre, wie ich einen solchen Satz nur verschämt sagen kann – aus Angst vor mitleidigem Lächeln. Dennoch möchte ich mich lieber fragen: "Was kann ich dazu beitragen, damit das Bild aus dem Propheten Jesaja doch Wirklichkeit werden kann?"

Was kann ich dazu beitragen, dass sich Völker friedlich begegnen und dass aus Feinden Freunde werden? Mir wird deutlich, wenn ich darüber nachdenke, dass die Kirche ein Ort der friedlichen Begegnung über alle Grenzen hinweg ist. Christen gibt es in aller Welt. Wir hören dasselbe Wort, lesen die Bibel, die uns allen gemeinsam ist, bekennen uns alle zu derselben Person: Jesus Christus ist unser Berg Zion. Vielleicht nutzen wir einfach noch nicht genügend die Gemeinschaft, die unter uns schon besteht, über die Grenzen, auch feindlichen Grenzen hinweg. Da sehe ich noch eine große Aufgabe. „Ihr seid das Salz der Erde“ - uns ist ein besonderer Auftrag gegeben als Christen. Lasst uns diesen Auftrag wahrnehmen. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 9. August 1981)

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