Wir brauchen Zeichen der Hoffnung
Es geht heute um Zeichen. „Was tust du denn für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben?“, fragen die Leute Jesus. Sie wollen ein Zeichen sehen, um glauben zu können, um an ihn glauben zu können.
Um klar zu machen, was sie mit ihrer Frage und Bitte meinen, verweisen sie auf ein Zeichen aus der Vergangenheit, aus der Geschichte des Volkes Israel, ein Zeichen, das eine nachhaltige Wirkung entfaltet hatte, das Manna in der Wüste.
Vielleicht erinnern Sie sich an diese Geschichte. Die Israeliten hatten in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte wie Fremdarbeiter in Ägypten gelebt, hatten dort schwer arbeiten müssen und waren von den Ägyptern geschunden worden. Es war für die Israeliten wie ein Sklavendasein gewesen, und sie hatten sich deshalb nach Freiheit gesehnt. Mose führte sie dann in die Freiheit mit dem Versprechen, sie in ein Land zu bringen, in dem sie in Ruhe und Frieden würden wohnen können, ein Land, wie er es poetisch ausdrückte, in dem Milch und Honig fließt.
Der Weg in die Freiheit sollte am Ende vierzig Jahre dauern. Es war ein beschwerlicher Weg, eine - nicht nur im wörtlichen Sinne – „Wüstenwanderung“. Der Weg in die Freiheit war so beschwerlich, dass sich die Befreiten manchmal in die Unfreiheit zurücksehnten: „Ach, wären wir doch bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben“, stöhnten sie unterwegs. „In Ägypten hatten wir wenigstens zu essen! Was nützt uns die Freiheit, wenn wir hier vom Hungertod bedroht sind!“
Sie glaubten Mose nicht mehr, sie glaubten seinem Versprechen nicht mehr, sie glaubten demjenigen nicht mehr, auf den sich Mose berief. Er handelte ja im Auftrag Gottes.
Die Belastungen des Lebens können manchmal unerträglich werden. Was kann dann helfen? Dann kann ein Zeichen helfen. Ein Zeichen der Hoffnung. Und das heißt, ein kleines Stück Wirklichkeit, das anders ist als das bisher Erlebte, das die Übermacht der bisherigen Erfahrungen infrage stellt, ein Stück positiver Gegenwirklichkeit also, das der Hoffnung noch einmal eine Chance gibt.
Für die auf ihrer Wüstenwanderung vom Hungertod bedrohten Israeliten war es das Manna. Mit knurrenden Mägen und niedergeschlagenen Gemütern hatten sie sich eines Abends schlafen gelegt. Als sie am nächsten Morgen aufwachten und der Tau des Morgens verdunstet war, sahen sie überall auf dem Boden kleine Körner liegen. Die Israeliten wussten damit zunächst nichts anzufangen. Die Körner waren aber essbar. Mose forderte seine Leute auf, die Körner zu sammeln, für jede Familie einen Krug voll. Das ergab dann in der Tat eine gute Mahlzeit. Man meint heute, dass es sich bei diesen Körnern wohl um die Absonderung einer Schildlaus gehandelt haben könnte, die sich von dem Saft der Tamariske ernährt. Die Beduinen benutzen solche Körner heute noch als Honigersatz.
In der Situation des Hungers war dies die Rettung. Die Israeliten nannten die Körner „Manna“, Brot des Himmels. Und sie nahmen dieses Manna als ein Zeichen der Hoffnung. Als einen Hinweis darauf also, dass ihr Leben während der Wüstenwanderung nicht nur von Beschwerden bestimmt war, dass es da vielmehr auch noch Hilfreiches und Erfreuliches gab, dass sie also nicht vollständig und schutzlos ihrer Not ausgeliefert waren.
Wenn dieses Manna auch nicht viel war im Verhältnis zur Größe ihrer Not, so waren sie doch bereit, sich von dieser kleinen positiven Gegenerfahrung leiten zu lassen und ihre Hoffnung doch noch einmal zu erneuern - gegen das Übermaß an Beschwerlichkeiten. Sie waren bereit, Mose mit seinen Versprechungen doch noch einmal Glauben zu schenken und das Vertrauen zu demjenigen zu erneuern, auf den sich Mose berief.
Das Manna also war ein Zeichen der Hoffnung, und um solche Zeichen geht es heute, um kleine positive Gegenerfahrungen, die angesichts der Mächtigkeit der Probleme, der Gefährdungen, der Belastungen, des Leids geradezu wie Wunder erscheinen.
Solche kleinen Zeichen der Hoffnung sind notwendig. Für die Israeliten während der Wüstenwanderung war es das Manna. Für manche Menschen vor 50-55 Jahren war es die alte Kastanie, um mal ein kleines Beispiel aus unserer Vergangenheit zu erzählen. Wir blicken ja in diesem Jahr viel zurück, weil wir am 1. Advent das 100jährige Jubiläum unserer Kirche feiern. Vor ein paar Monaten, im März, hatten wir bereits das 50jährige Jubiläum des Wiederaufbaus unserer Kirche.
Diese Kirche war in ihrer ursprünglichen Gestalt im Juli 1943 weitgehend zerstört worden - im Zuge der Bombardierung Hamburgs und in der Folge eines überhaupt schrecklichen Krieges. Der Krieg brachte unendliches Leid über viele Menschen. Er zerstörte Leben, er zerstörte Häuser – und er zerstörte in vielen Menschen auch den Glauben, den Glauben an das Gute und Schöne, den Glauben an den Menschen, in vielen Fällen den Glauben von Einzelnen auch an sich selbst. Er zerstörte bei vielen auch den Glauben an Gott, an den „lieben“ Gott, wie sie ihn als Kinder zu nennen gelernt hatten.
Eine Dame aus unserer Gemeinde hatte uns mal eine kleine recht poetisch abgefasste Geschichte über eine Kastanie überreicht, eine Kastanie hier auf dem Gelände unserer Kirche. An dem Tag, an dem diese Kirche zerbombt wurde und das Feuer das Kirchendach zum Einsturz brachte, stand auch jene Kastanie in Flammen.
Von ihr blieb nur ein hoher schwarzer Stumpf übrig. Es war ein jammervoller Anblick. Und die Leute, die nach dem Feuersturm, nicht nur ihr ganz persönliches Leid zu beklagen hatten, sondern mit Tränen in den Augen auch vor unserer Kirche standen, fühlten sich innerlich ebenso ausgebrannt wie die Kirche und wie dieser Baum.
Und dann geschah das, was in jenem Augenblick der Trostlosigkeit wohl keiner mehr für möglich gehalten hatte: Aus dem verkohlten Überrest des Baumes wuchs neues, frisches Grün heraus. Aus dem scheinbar toten Holz spross neues Leben.
Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Wirkung dies auf Passanten hatte, als sie noch inmitten der Trümmerlandschaft aus dem schwarz-verkohlten Holz das erste frische, zarte Grün neu und unerwartet hervorsprießen sahen: Das war ein Zeichen des Lebens, der Kraft des Lebens, der Kraft des Lebens, die sich letztlich wieder als stärker erwiesen hatte, als die Kraft des Todes. Das war ein Zeichen der Hoffnung, eine Wiederbelebung des Glaubens an den Schöpfer, der seine Menschen noch nicht aufgegeben hat, der noch einmal einen neuen Anfang schenkt.
Was für die Israeliten das Manna war, war für jene Dame aus Hoheluft damals gegen Ende des Krieges die Kastanie. Wir brauchen alle solche kleinen Zeichen der Hoffnung. Es können wirklich kleine Zeichen sein. Sie zählen dennoch mehr als die Vielzahl der Probleme, und sie können - wenn auch klein - dennoch gewichtiger sein als schwerste Belastungen, auch als die eines Krieges.
Die Menschen der Bibel damals, die sich an Jesus gewandt hatten mit der Frage: „Was hast du denn für ein Zeichen zu bieten?“, wollten - etwas provokativ - von ihm wissen, ob er das Zeichen des Manna, des Himmelsbrots, überbieten könnte.
Er konnte es. Für seine Gesprächspartner überraschend - und in dem Augenblick für sie noch nicht verständlich - antwortet er: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, der wird nicht mehr hungrig sein.“
Wir wissen heute schon eher, was er, Jesus, gemeint hat. In seiner Person nämlich verkörpert er, was für uns so wichtig ist wie das tägliche Brot, nämlich: wahre Mitmenschlichkeit, Vergebung, Liebe, das Ja zum Menschen und das Ja zum Leben - trotz aller widrigen Erfahrungen.
Jesus Christus verkörperte in seiner Person ein Stück positiver Gegenwirklichkeit. Er stellte als ein Mensch wenig Masse dar, aber er war eben ein Zeichen. Das, wofür er stand, sollte im Gedächtnis der Menschen bleiben, und er ist im Gedächtnis der Menschen geblieben - bis heute. Wenn es heute auch viele gibt, die mit ihm nicht mehr recht was anzufangen wissen oder ihn gar nicht kennen, so ist diese Unkenntnis, dieses Unwissen – vielleicht, hoffentlich - nur vorübergehender Natur.
Wir alle brauchen dieses Zeichen, dieses göttliche Zeichen der Menschlichkeit, unsere Gesellschaft braucht dieses Zeichen, alle Welt braucht es.
Das Kreuz, das Todeswerkzeug, ist zum Zeichen des Lebens geworden, stärker noch als die verbrannte Kastanie. Denn am Kreuz war ein Mensch unschuldig zu Tode gebracht worden. Und er hat - als der Auferstandene - trotz seiner enttäuschenden Erfahrungen an seiner Liebe zu den Menschen festgehalten. Er hat sich selbst mit seinem ganzen Leben den Menschen geschenkt.
Sein Leib war von Menschenhand gebrochen worden. Er aber hat trotzdem Menschenseelen geheilt. Bis heute gehen Heil und Heilung von ihm aus. Wenn wir in Gottesdiensten das Abendmahl feiern, dann erinnern wir uns an seinen zerbrochenen Leib, und wir nehmen das Heil, das er uns schenkt, zeichenhaft in Brot und Wein in uns auf.
Jesus Christus ist das Brot des Lebens, Himmelsbrot, Brot Gottes. Möge er uns stärken und unseren Hunger nach dem wahren Leben stillen.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 18. Juli 1999)