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10. Sonntag nach Trinitatis (25.8.19)


Gott und den Menschen lieben

19. Oktober 2003

18. Sonntag nach Trinitatis

Markus 12,28-34


„Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Diese sehr grundsätzliche Frage hätte auch von uns kommen können - aus dem Wunsch heraus, sich im Leben orientieren zu können, einen Leitfaden zu haben, der einen durch die Vielzahl der Stimmen und Meinungen und Anforderungen und Aufforderungen hindurchführt. Worauf kommt es an? Was ist letztlich wichtig? „Bring das doch mal auf den Punkt!“, so würden auch wir vielleicht gern Jesus bitten, wenn er denn jetzt vor uns stünde.

Jesus antwortet dem Schriftgelehrten mit dem Doppelgebot: „Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das ist kurz und knapp formuliert und dadurch dann auch sehr interpretationsbedürftig. Aber die kurze Antwort weist immerhin die Richtung. In eine andere Richtung, als wenn er z. B. gesagt hätte: „Glaube an nichts und niemanden, außer an dich selbst.“

Jesus weist mit seiner kurzen Antwort zunächst einmal über uns selbst hinaus: „Liebe Gott!“ Gott - mit diesen vier Buchstaben verweist er uns auf das Geheimnis unseres Daseins, auf das für unseren Verstand letztlich nicht Begreifbare, auf den Urgrund unseres Seins, auf das, was schon war, als noch kein Mensch war, und auf das, was noch sein wird, wenn kein Mensch mehr sein wird. Er verweist uns auf Unendlichkeit und Ewigkeit, auf das Unverfügbare, auf die schöpferische Kraft, die all das geschaffen hat, was wir sind und haben und womit wir dann ein wenig weitergestalten können.

Auf dieses Unfassbare, Unbegreifliche, Unverfügbare verweist uns Jesu als erstes. Er wendet sich mit seinem Hinweis nicht an unseren Verstand, er wendet sich an unser Herz: „Liebe Gott!“, sagt er und fordert uns damit zu einer persönlichen Beziehung auf. Er gibt dem Geheimnis unseres Daseins ein persönliches Antlitz. Er verweist uns so an den Unfassbaren, den Unbegreiflichen, den Unverfügbaren, an den Schöpfer allen Seins, als wäre da ein Wesen in menschlicher Gestalt, einer, der alles geschaffen hat, der alles in seiner Hand hält: „Liebe Gott!“ - den Geheimnisvollen, Unbekannten, Unbegreiflichen. Liebe ihn, hab keine Angst vor ihm, lass ihn dir nicht gleichgültig sein, gib auf ihn Acht, höre auf ihn, erforsche, was er dir zu sagen hat, gib dein Bestes, es ihm recht zu machen, seinem Willen zu entsprechen, sodass er Freude an dir hat. Achte ihn und ehre ihn.

„Liebe Gott!“ - eine so persönliche Beziehung empfiehlt uns Jesus, eine Herzensbeziehung zu dem Urgrund unseres Seins.

Wie sollen wir diese Beziehung nun gestalten? Was hat uns Jesus da kurz und knapp zu sagen? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, sagt er. Die Liebe zum Menschen ist offenbar wesentlicher Bestandteil der Liebe zu Gott.

„Liebe deinen Nächsten!“ Jesus sagt nicht: „Bring Gott Opfer dar!“ Er sagt auch nicht: „Geh täglich in den Tempel, um ihn anzubeten!“ Er sagt auch nicht: „Kastei dich selbst!“ Und er sagt auch nicht: „Bring Höchstleistungen dar, sei besser als alle anderen!“ Er sagt: „Liebe deinen Nächsten!“ Er verweist uns an den Mitmenschen und empfiehlt uns auch hier eine Herzensbeziehung: „Liebe deinen Nächsten, gib auf ihn Acht, lass ihn dir nicht gleichgültig sein, sei geduldig mit ihm, hilf ihm, wo er sich selbst nicht helfen kann, sei nachsichtig mit ihm, verzeih ihm, wenn er dir etwas angetan hat, sei auf sein Wohl bedacht, achte ihn, respektiere ihn, fördere ihn. Liebe ihn wie dich selbst! Behandle ihn so, wie du selbst behandelt werden möchtest!“

„Liebe Gott!“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ - das zuammengenommen ist das höchste Gebot. „Gott lieben und sich den Nächsten gleichgültig sein lassen, das würde nicht zusammenpassen. Das wäre ein Widerspruch in sich selbst.

Mit seiner komprimierten Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot weist Jesus die Richtung. Lässt sich diese kurze Antwort weiter entfalten?

Zur Liebe zu Gott gehört als wesentlicher Bestandteil die Liebe zum Menschen. Aber die Liebe zu Gott umfasst noch mehr als die Liebe zum Menschen. Da ist die ganze Schöpfung um den Menschen herum, das ganze große geheimnisvolle Dasein. Was heißt da „Gott lieben“? Heißt das nicht: Das Ganze annehmen - so, wie es ist - mit all seinen schönen, aber auch mit all seinen beschwerlichen Seiten - als Gabe und Aufgabe, als Geschenk und Auftrag, in Dankbarkeit und in Verantwortung - in guten und in bösen Tagen?

Dieses Dasein ist ja nicht nur geheimnisvoll, es ist auch voller - oftmals irritierender - Ungereimtheiten und voller - oftmals schwer erträglicher - Belastungen. Dieses Dasein mutet uns manchmal eine Menge zu. Gott mutet uns eine Menge zu. Wenn wir dann manchmal fragen: „Warum?“ - oder auch ganz persönlich: „Warum gerade mir?“, dann bleibt unsere Frage oftmals offen, schmerzlich offen. Gott lieben - das heißt dann auch: Ihn dennoch lieben. Ihm dennoch verbunden bleiben. Sich ihm dennoch anvertrauen. Dennoch annehmen, was er uns gibt und auferlegt.

Und ist es nicht ebenso mit der uns anempfohlenen Liebe zum Nächsten? Gehört zu dieser Liebe nicht auch das „Dennoch“? Und ist es nicht gerade das Dennoch, das die Nächstenliebe so groß und bedeutsam macht? Nicht das gequälte Dennoch, das die Zuwendung zum Nächsten aus Zwang mit mürrischem Gesicht und innerer Verachtung vollziehen lässt. Sondern ein Dennoch, das einer tiefen Einsicht entspringt, einer Einsicht in die Tiefen des Herzens, die sich in den Schwächen und Fehlern und Verfehlungen des anderen, in der Angewiesenheit, der Hilfsbedürftigkeit des anderen selbst erkennt und ihm darum gibt, was wir für uns selbst doch auch ersehnen.

Die Liebe zum Nächsten ist mehr als die Liebe zu unseren Lieben. Die Nächstenliebe bewährt sich da, wo wir mit jemandem zu tun haben, der uns fremd ist, der anders ist als wir, der uns eine Last ist, der uns Ungutes angetan hat, der uns feindlich gesonnen ist, der uns keine Vorteile zu bieten hat, uns unsere Liebe nicht vergelten kann.

Was gibt einer solchen Liebe Sinn? Sie hat ihren Sinn in sich selbst. Sie kann unserem Leben Sinn geben. Sie kann Lebensmöglichkeiten schaffen. Sie kann Möglichkeiten des Friedens eröffnen. Sie kann aus Sackgassen in zwischenmenschlichen Beziehungen herausführen. Sie kann harte Herzen erweichen, Fäuste öffnen, Grenzen öffnen, über Gräben hinweghelfen. Sie kann Leid lindern helfen. Sie kann helfen, die Ungereimtheiten, die Widersprüchlichkeiten, die offenen Fragen des Lebens, das oftmals unbeantwortbare „Warum?“ auszuhalten. Die Liebe kann erlösen und befreien. Sie ist die Quelle der Lebenskraft, sie ist die Grundlage des Vertrauens, sie ist der tragfähige Grund beständiger Hoffnung auf eine Welt, in der der Geist Gottes regiert, und der Hoffnung auf einen Menschen, in dem sich der Wille Gottes erfüllt.

Die Liebe ist der Weg zum Reich Gottes. Mögen wir alle auf diesem Weg voranschreiten.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 19. Oktober 2003)

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