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9. Sonntag nach Trinitatis (18.8.19)


Sein Bestes geben und auf Nachsicht vertrauen

27. Juli 1986

9. Sonntag nach Trinitatis

Philipper 3,7-11


Die Gemeinde in Philippi in Griechenland war die erste europäische Gemeinde, die Paulus gegründet hatte. Paulus hatte zahlreiche Gemeinden gegründet. Er reiste von Ort zu Ort und erhielt die einmal angeknüpften Kontakte durch Briefe aufrecht.

Wenn wir einen Brief schreiben, gehen wir darin auf unseren Adressaten ein. Wir erkundigen uns nach seinem Befinden, wir nehmen Stellung zu dem, was wir von ihm gehört haben, und sprechen vielleicht eine Ermutigung aus, wenn wir meinen, dass dies unserem Adressaten guttun könnte. Wir sagen vielleicht sogar ein kritisches Wort, wenn wir meinen, dass der andere es nötig hat und es vertragen kann. Und wir erzählen etwas über uns. Kurz: Ein Brief ist ein persönliches Schreiben, in dem sich die Wesensart, die Einstellungen und die Situation des Schreibers und des Angeschriebenen spiegeln. Aus diesen persönlichen Zusammenhängen heraus muss ein Brief zunächst einmal verstanden werden. Ein Brief ist keine theoretische Lehrschrift von allgemeingültigem Charakter.

Mit seinem Brief an die Philipper hat Paulus auf bestimmte Vorgänge in der Gemeinde von Philippi Bezug genommen. Es hat da Auseinandersetzungen unter den Christen gegeben, Streitereien, Unstimmigkeiten. Paulus warnt vor bestimmten Leuten. Er lässt sich dabei sogar zu drastischen Formulierungen hinreißen: „Nehmt euch in Acht vor den Hunden“, sagt er, „nehmt euch in Acht vor den böswilligen Arbeitern, nehmt euch in Acht vor der Zerschneidung.“

Wir können nicht mit letzter Präzision erkennen, was das für Leute waren, die Paulus da im Visier hatte. In unserem Predigtabschnitt behandelt er aber einen kritischen Punkt, der auf die Art seiner Gegner schließen lässt und der für Paulus einen besonderen Stein des Anstoßes darstellte. Indem Paulus diesen Punkt behandelt, bringt er seine eigene Biographie und seine ganze innere Einstellung mit ein.

Es geht um den Punkt der Gerechtigkeit, nicht der sozialen Gerechtigkeit, sondern vielmehr um Gerechtigkeit im Sinne der Frage: „Was muss ich tun, wie muss ich sein, damit ich als rechtschaffen gelten kann, dass mir keiner etwas vorwerfen kann, dass ich von mir sagen kann: Du bist in Ordnung. Dir kann keiner was!?“

Diese Frage hatte für Paulus ganz stark religiösen Charakter: „Was muss ich tun, wie muss ich leben, damit ich vor Gott bestehen kann?“ Das war die Frage, die Paulus bewegte und die die Menschen seines Volkes bewegte.

Die Verantwortung des eigenen Lebens vor Gott ist ein Thema, das auch Menschen unserer Zeit – bewusst oder unbewusst – bewegt. Wer sich nicht gern in religiösen Vorstellungen und Wendungen ausdrückt, wird vielleicht dennoch nicht leugnen, dass auch er das Bedürfnis in sich spürt, ein einwandfreies Leben zu führen, in allem gerechtfertigt zu sein, sein Leben verantworten zu können vor einer höheren Instanz, sei es vor der Gesellschaft oder vor der Moral oder vor den künftigen Generationen oder vor sich selbst oder wie auch immer man diese uns gegenüberstehende Instanz bezeichnen mag.

Das Judentum zur Zeit des Paulus hatte auf die Frage: „Wie können wir vor Gott bestehen?“, die bekannte, dem Judentum eigene Antwort gegeben: Es komme alles auf die Befolgung des jüdischen Gesetzes an, welches ja als göttliches Gesetz verstanden wurde. Für Paulus hat dieses Thema in seiner eigenen Biographie eine zentrale Rolle gespielt. Er war von Hause aus Pharisäer gewesen, hatte also der jüdischen Gruppierung angehört, die auf die peinlich genaue Gesetzeserfüllung so besonders großen Wert legte. Er war ein überzeugter und engagierter Pharisäer gewesen, eben bis zu dem Punkt, dass er sich an der Verfolgung der christlichen Gemeinde beteiligt hatte.

Für ihn ist die jüdische Gesetzesgerechtigkeit dann aber zu einem großen Problem geworden. Vielleicht ist an diesem Punkt bei Paulus der innere Umschwung erfolgt. Wir lesen von der Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus, wo ihm in einer Vision Christus selbst erschien. Diese sonderbare Geschichte sollte zum Ausdruck bringen, dass die Bekehrung zu Christus nicht eine Frage des bloßen eigenen Willens, sondern ein letztlich unverfügbares Geschehen an einem selbst ist.

Die Frage, die mit der Schilderung jener Episode nicht beantwortet ist, die uns aber interessiert, ist diese: Welche Einsichten haben Paulus dann dazu bewogen, sich so radikal und entschieden dem Glauben an Christus zuzuwenden, also eine Wende um 180° zu vollziehen?

Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass ihm die jüdische Gesetzesfrömmigkeit, in der er aufgewachsen war und die er sich ganz zu eigen gemacht hatte, schließlich fragwürdig geworden war. Diese Fragwürdigkeit muss ihm vor allem an Jesus Christus aufgegangen sein. Denn an der Person Jesus Christus ging Paulus eine ganz neue Antwort auf die Frage auf: „Wie kann ich vor Gott bestehen?“

Diese neue Antwort erlangte für Paulus eine solche Überzeugungskraft, dass er sich über seine ehemaligen Anschauungen in der abfälligsten Weise äußert. Das alles erachtet er für Dreck, was ihm zuvor heilig gewesen ist: „Was mir damals als Gewinn erschien, das erachte ich nun – durch Christus – als Schaden. Ich erachte das alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn.“

Worin diese Erkenntnis Jesu Christi besteht, bezeichnet er näher: Sie besteht in der Einsicht, „dass meine Gerechtigkeit nicht aus dem Gesetz kommt, sondern allein aus dem Glauben an Christus, d. h. von Gott – ohne mein vorheriges Zutun.“ Mit anderen Worten: An Christus ist Paulus klar geworden, dass der Mensch vor Gott nicht dadurch Bestand hat, dass er sich vor dem Gesetz untadelig verhält. Bestehen kann der Mensch vor Gott vielmehr nur aufgrund der Gnade Gottes, wie sie durch Christus offenbar geworden ist. Vor denen also warnt Paulus in seinem Brief, die die jüdische Gesetzesfrömmigkeit wieder einführen und sie auch für die Christen zur ersten und obersten und heiligsten Pflicht machen wollen.

Wir hier und heute sind nicht mit dem jüdischen Gesetzesglauben vorbelastet, aber wie schon erwähnt, gibt es doch in allen von uns ein Gefühl der Verantwortung und das starke Bedürfnis, für rechtschaffen befunden zu werden. Es lässt sich niemand gern etwas vorwerfen. Dieser Drang nach Rechtschaffenheit kann gerade unter den Empfindsameren zu einer erheblichen Belastung werden. Denken wir einmal an die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, an den Hunger in der Welt beispielsweise, oder an die Bedrohungen auf militärischem Gebiet oder die Gefährdungen unserer Umwelt.

Wer sich der menschlichen Schuld an diesen unseligen Zuständen bewusst geworden ist, und wer seine persönliche Mitverantwortung für die weitere Entwicklung erkannt hat, der wird die ungeheure Last empfinden, die ihm damit auferlegt ist. Das ist ein ungeheurer moralischer Druck. Von den großen Problemen geht ein Anspruch aus, nämlich die Probleme zu lösen. Dieser Anspruch bereitet ein schlechtes Gewissen, und damit müssen wir irgendwie zurechtkommen. Wie gehen wir mit diesem Anspruch um, mit diesem Anspruch nämlich, etwas zu tun, zu handeln?

Unter unseren verantwortungsbewussten Mitmenschen gibt es nicht wenige, die darin bereits die entscheidende und erlösende und entlastende Antwort sehen, dass sie sagen: „Wir müssen etwas tun!“, und die sich dann auch engagieren.

Diejenigen haben durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit den – ich sage das jetzt auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden – mit den jüdischen Gesetzesfrommen. Deshalb hat uns Paulus in dieser Hinsicht auch etwas Aktuelles zu sagen. Wer meint, der uns durch die großen Probleme unserer Zeit aufgebürdeten Verantwortung dadurch gerecht zu werden, dass er etwas tut – zur Lösung der Probleme, der ist im Grunde dem Denken verhaftet, das Paulus in seiner ersten Lebensphase als Dreck bezeichnet hat. Das Tun hat nämlich, wie Paulus bald erkannt hatte, keine entlastende Funktion. Unser Tun wird immer weit hinter dem zurückbleiben, was eigentlich zu tun nötig wäre.

Wer – wie Paulus – ehrlich und illusionslos sich selbst betrachtet, wird schnell eingestehen müssen, dass das Handeln uns nicht entlastet, sondern uns im Gegenteil schließlich ganz zugrunde richtet, weil es ungenügend, fehlerhaft und moralisch zweifelhaft ist.

Dies ist nun alles ganz missverständlich, wie eben die Ausführungen von Paulus missverständlich sind. Darum das Ganze noch einmal von der anderen Seite her formuliert. Angesichts der Probleme unserer Welt würde Paulus vielleicht sagen: „Die hat der Mensch schuldhaft verursacht und jeder sollte sein Verhalten so ausrichten, dass er zur Lösung der Probleme beiträgt und nicht schuldhaft die Probleme noch vergrößert oder auch nur sie belässt, wie sie sind.“

Aber bevor wir uns an die Arbeit machen, so würde Paulus vielleicht sagen, sollten wir uns folgende Fragen stellen: „Rechnen wir mit dem Erfolg unseres Handelns? Sind wir davon überzeugt, dass wir die Probleme lösen werden? Werden wir die Kraft zum Durchhalten haben, immer guten Willens sein und das Rechte tun?“ Wenn wir die Fragen mit Ja beantworten würden, dann würde Paulus wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und voller Mitleid und Entsetzen ausrufen: „Welcher Größenwahn, welche Überheblichkeit, welche illusionäre Überschätzung menschlicher Fähigkeiten!“ Und wenn wir die Fragen verneinen würden, dann würde er vielleicht sagen: „Recht so! Aber wie wirst du dann mit dem Scheitern fertig?“

Dies ist die entscheidende Frage, auf die Paulus dann mit Jesus Christus die denkbar menschlichste Antwort gibt. Wenn wir den an uns ergehenden Ansprüchen nicht gerecht werden können, sind wir auf zuvorkommende Vergebung, auf zuvorkommende Entlastung angewiesen. Sie steht uns als Angebot zur Verfügung.

Wenn ich mir also in Wahrhaftigkeit klar darüber geworden bin, dass mein Handeln stets überaus mangelhaft sein wird, wie kann ich dann Kraft und Mut zum Handeln haben? Antwort: Indem ich mich davon befreien lasse, in dem Erfolg meines Handelns meine eigene Rechtschaffenheit zu suchen. Am Anfang muss die Vergebung stehen, wie sie in Christus verkörpert ist. Dann erst sind wir frei zu tun, was von uns gefordert ist, ohne unsere Kräfte zu überschätzen und ohne am Scheitern zu verzweifeln. Dann haben wir den langen Atem der Hoffnung.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 27. Juli 1986)

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