„Gott besinnt sich eines Besseren“
Sie kennen vermutlich den Schlager, den ein Paar sich einmal für die kirchliche Trauung in unserer Kirche gewünscht hatte: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“ Dies ist, wie ich finde, die profane Variante des Bibelwortes, das wir eben gehört haben: „Berge möge von ihrer Stelle weichen und Hügel wanken, aber meine Liebe zu dir kann durch nichts erschüttert werden.“ Die Sprache der Liebenden kommt nicht ohne Übertreibungen aus.
Wir haben hier einen sehr poetischen Text vor uns, eine Liebeserklärung Gottes an sein Volk. Jesaja, der Prophet und Dichter, lässt Gott hier sprechen als einen Ehemann, der einst im Zorn seine Frau für eine kleine Weile verlassen hat und nun zurückkehrt und ihr von neuem seine Liebe schenkt, nun aber auf immer.
Dies ist vielleicht ein ungewöhnliches Bild. Aber wie können wir etwas über Gott aussagen? Wie können wir etwas aussagen über den Sinn und den letzten Hintergrund unseres Lebens? Alles Reden über unser Dasein, über unser Woher und Wohin und Warum, alles Reden über Gott kann nur Stückwerk sein. Bilder sind ein Versuch, in anschauliche Worte zu fassen, was so schwer begreifbar und erklärbar ist.
Jesaja spricht über das Schicksal seines Volkes. Das Volk Israel hat es immer schwer gehabt. Schwere Zeiten durchlebt es nicht nur heute, schwere Zeiten hat es nicht nur in diesem Jahrhundert durchlitten. Auch zur Zeit Jesajas – und das ist über zweieinhalbtausend Jahre her – hatte das Volk schwer zu leiden gehabt. Jerusalem war zerstört worden, die Oberschicht der Bevölkerung war nach Babylon ins Exil verschleppt worden. Die Menschen fühlten sich von Gott verlassen.
Jesaja macht seinen Landsleuten Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat, Hoffnung auf den Wiederaufbau Jerusalems, Hoffnung auf ein Wiedererblühen der Heimat. „Gott hat euch nicht für immer verlassen. Er hat sich nur für eine Weile abgewendet. Seine Liebe zu Euch ist geblieben. Er wird sich euch wieder zuwenden. Dann werdet ihr wieder in Glück und Frieden leben können – und zwar auf Dauer.“
Es ist für uns eine nur schwer annehmbare Vorstellung von Gott, dass er sein Volk für eine Weile verlassen haben sollte, dass er überhaupt einen Menschen verlassen haben sollte. Unsere Vorstellung ist die vom „lieben“ Gott, der immer bei uns ist und treu zu uns hält. Wir kennen zwar die Erfahrung der Gottverlassenheit, aber es will nicht in unsere Gottesvorstellung passen, dass die Abwesenheit Gottes Gottes Absicht sein könnte.
Unser Denken setzt bereits bei dem an, was Jesaja hier als die neue Beziehung Gottes zu seinem Volk verkündet: „Gott wird euch niemals verlassen.“ Das ist ja die Botschaft des Neuen Testaments: die unerschütterliche Liebe Gottes. Mag der Mensch auch Schuld auf sich geladen haben, Gott wird den Menschen nicht verlassen. Auch in seiner Schuld, auch in seinen Niedrigkeiten, auch im Scheitern und Versagen ist der Mensch nicht gottverlassen. Gott ist bei ihm mit seinem Trost, mit seiner Hilfe, mit seiner Vergebung.
Warum es Not und Unglück, Unrecht und Versagen gibt, bleibt für uns damit allerdings letztlich ein Rätsel. Jesaja konnte noch vom Zorn Gottes sprechen. Und er konnte noch erinnern an die Sintflut, in der der Schöpfer seine Kreaturen bis auf einen kleinen Rest wieder ausgelöscht hatte, weil sie nicht gut geraten waren.
Gott als der Strafende, Gott gar als einer, der Leben auslöscht, das ist für uns eine altertümliche Vorstellung. Es ist eine unerträgliche Vorstellung. Wir können zwar mit Dankbarkeit feststellen, dass wir zur Verantwortung berufen sind für unser eigenes Tun, dass uns mit der Selbstverantwortung unsere Mündigkeit als eigenständige Wesen zugesprochen ist. Es bleibt aber doch unleugbar, dass wir uns nicht selbst geschaffen haben. Wir bleiben Kreaturen – und das heißt doch: Es gibt eine Grenze unserer Verantwortung. Es gibt eine Grenze der Vorwerfbarkeit. Für das, was wir sind und was wir tun, sollen wir zwar selbst Rede und Antwort stehen, aber die letzte Verantwortung können wir nicht tragen. Die Bürde der letzten Verantwortung müssen wir an denjenigen zurückgeben dürfen, der uns letztlich geschaffen hat. Und wir dürfen diese letzte Verantwortung abgeben. Dazu befreit uns das Neue Testament.
Im Neuen Testament lernen wir in der Gestalt Jesus Christus Gott als den liebenden Gott kennen, der an den Schwächen und Fehlern und Verfehlungen des Menschen selbst leidet als Mitleidender. Und der den Menschen abnimmt, was diese sich selbst an Schuld und Not und Elend auf sich geladen haben, um ihnen so eine neue Chance zum Leben, zur Umkehr, zur Besserung zu geben.
Auch bei Jesaja, dem Propheten des Alten Testaments, lernen wir Gott als den liebenden Gott kennen. Jesaja spricht von einem Sinneswandel Gottes, dem Wandel vom Zorn zur liebevollen Zuwendung: „Als du mich zum Zorn gereizt hattest, habe ich mich einen Augenblick von dir abgewandt. Aber nun will ich dir für immer gut sein.“ Die Verschleppung ins babylonische Exil legt Jesaja als ein Zeichen des Zornes Gottes aus. Der Liebesbeweis Gottes wird die Rückkehr der Israeliten in ihre Heimat sein, der Wiederaufbau und andauerndes Wohlergehen.
Die Israeliten sind zurückgekehrt, der Wiederaufbau Jerusalems hat stattgefunden. Das Glück war dennoch nur bruchstückhaft und nicht von Dauer.
Es ist zu einer grundsätzlichen Frage geworden, wie die Verheißung des dauerhaften Beistandes Gottes zu verstehen ist. Dem Volk Israel war kein anhaltendes Wohlergehen, kein dauerhafter Friede beschieden. Es ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen.
War die Liebeserklärung Gottes, die Jesaja hier so poetisch formuliert hat, wirklich nur die typisch maßlose Übertreibung des Liebenden aus dem Überschwang des Gefühls heraus?
Wenn wir die Erklärung im politisch-konkreten Sinne verstehen, müssen wir die Frage wohl bejahen. Denn die konkreten Lebensverhältnisse haben sich seit jener Zeit weder für das Volk Israel noch für die Weltbevölkerung insgesamt wesentlich zum Besseren gewandelt.
Wir haben die Zusage der Liebe und Treue Gottes durch Jesus Christus aber in einer anderen Weise auszulegen gelernt. Jesus Christus hat die Probleme der menschlichen Gesellschaft durchlebt und durchlitten, die Lieblosigkeit und Bösartigkeit, die menschlichen Schwächen, das Unverständnis, die Intoleranz, Lüge, Hass und Gewalt. Was er erlebt und durchlitten hat, hätte ein weiterer Beweis für die Unverbesserlichkeit des Menschen und ein weiterer Beweis für die Wirkungslosigkeit der göttlichen Liebe in unserer Welt sein können.
In seinem Leben, Leiden und Sterben und Auferstehen hat sich die Liebe Gottes zu uns jedoch in anderer, in neuer Weise offenbart – nicht als die Kraft des allmächtigen Gottes der die Lebensverhältnisse neu baut und ein Reich des Friedens auf Erden schafft. Die Liebe Gottes hat sich offenbart als die unzerstörbare Kraft des Lebens, als die Blume, die aus den Trümmern wächst, als das Pflänzchen, das den Asphalt durchstößt, als die Blüte, die in der Wüste aus dem Kaktus sprießt. Mitten im Krieg pflegt eine Frau verwundete feindliche Soldaten, Menschen aus der Wohlstandsgesellschaft versuchen in einer der Hungerregionen unserer Welt, Hungrige zu speisen. Ein Nachbar verzichtet auf sein Recht um des Friedens willen. Ein zerstrittenes Ehepaar backt zur Versöhnung einen Hochzeitskuchen.
Die Liebe Gottes ist die Kraft, die in allen Verwüstungen und Zerstörungen unseres Lebens nicht auszulöschen ist, die sich unscheinbar und oft unsichtbar doch immer wieder entfaltet und der Kraft des Lebens zum Siege verhilft. Es können in der Tat Berge wanken und Hügel hinfallen, es können Häuser vom Krieg zerbombt in sich zusammenfallen – solange die Erde steht, wird es die Liebe geben, die Kraft zu neuem Leben, zu einem neuen Anfang, die Kraft zur Versöhnung und zur Vergebung. Das ist die Verheißung des Bundes Gottes mit Noah, das ist es wohl auch, was Jesaja gemeint hat, und das ist es, was wir in Jesus Christus bestätigt und besiegelt finden.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 17. März 1996)