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Laetare (19.3.23)


„Gott besinnt sich eines Besseren“

17. März 1996

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Jesaja 54,7-10


Sie ken­nen ver­mut­lich den Schla­ger, den ein Paar sich ein­mal für die kirch­li­che Trau­ung in un­se­rer Kir­che ge­wünscht hat­te: „Mar­mor, Stein und Ei­sen bricht, aber un­se­re Lie­be nicht.“ Dies ist, wie ich fin­de, die pro­fa­ne Va­ri­an­te des Bi­bel­wor­tes, das wir eben ge­hört ha­ben: „Ber­ge mö­ge von ih­rer Stel­le wei­chen und Hü­gel wan­ken, aber mei­ne Lie­be zu dir kann durch nichts er­schüt­tert wer­den.“ Die Spra­che der Lie­ben­den kommt nicht oh­ne Über­trei­bun­gen aus.

Wir ha­ben hier ei­nen sehr po­e­ti­schen Text vor uns, ei­ne Lie­bes­er­klä­rung Got­tes an sein Volk. Je­sa­ja, der Pro­phet und Dich­ter, lässt Gott hier spre­chen als ei­nen Ehe­mann, der einst im Zorn sei­ne Frau für ei­ne klei­ne Wei­le ver­las­sen hat und nun zu­rück­kehrt und ihr von neu­em sei­ne Lie­be schenkt, nun aber auf im­mer.

Dies ist viel­leicht ein un­ge­wöhn­li­ches Bild. Aber wie kön­nen wir et­was über Gott aus­sa­gen? Wie kön­nen wir et­was aus­sa­gen ü­ber den Sinn und den letz­ten Hin­ter­grund un­se­res Le­bens? Al­les Re­den über un­ser Da­sein, über un­ser Wo­her und Wo­hin und Wa­rum, al­les Re­den über Gott kann nur Stück­werk sein. Bil­der sind ein Ver­such, in an­schau­li­che Wor­te zu fas­sen, was so schwer be­greif­bar und er­klär­bar ist.

Je­sa­ja spricht über das Schick­sal sei­nes Vol­kes. Das Volk Is­rael hat es im­mer schwer ge­habt. Schwe­re Zei­ten durch­lebt es nicht nur heu­te, schwe­re Zei­ten hat es nicht nur in die­sem Jahr­hun­dert durch­lit­ten. Auch zur Zeit Je­sa­jas – und das ist über zweieinhalbtausend Jah­re her – hat­te das Volk schwer zu lei­den ge­habt. Je­ru­sa­lem war zer­stört wor­den, die Ober­schicht der Be­völ­ke­rung war nach Ba­by­lon ins Exil ver­schleppt wor­den. Die Men­schen fühl­ten sich von Gott ver­las­sen.

Je­sa­ja macht sei­nen Lands­leu­ten Hoff­nung auf Rück­kehr in die Hei­mat, Hoff­nung auf den Wie­der­auf­bau Je­ru­sa­lems, Hoff­nung auf ein Wie­der­er­blü­hen der Hei­mat. „Gott hat euch nicht für im­mer ver­las­sen. Er hat sich nur für ei­ne Wei­le ab­ge­wen­det. Sei­ne Lie­be zu Euch ist ge­blie­ben. Er wird sich euch wie­der zu­wen­den. Dann wer­det ihr wie­der in Glück und Frie­den le­ben kön­nen – und zwar auf Dau­er.“

Es ist für uns ei­ne nur schwer an­nehm­ba­re Vor­stel­lung von Gott, dass er sein Volk für ei­ne Wei­le ver­las­sen ha­ben soll­te, dass er über­haupt ei­nen Men­schen ver­las­sen ha­ben soll­te. Un­se­re Vor­stel­lung ist die vom „lie­ben“ Gott, der im­mer bei uns ist und treu zu uns hält. Wir ken­nen zwar die Er­fah­rung der Gott­ver­las­sen­heit, aber es will nicht in un­se­re Got­tes­vor­stel­lung pas­sen, dass die Ab­we­sen­heit Got­tes Got­tes Ab­sicht sein könn­te.

Un­ser Den­ken setzt be­reits bei dem an, was Je­sa­ja hier als die neue Be­zie­hung Got­tes zu sei­nem Volk ver­kün­det: „Gott wird euch nie­mals ver­las­sen.“ Das ist ja die Bot­schaft des Neu­en Te­sta­ments: die un­er­schüt­ter­li­che Lie­be Got­tes. Mag der Mensch auch Schuld auf sich ge­la­den ha­ben, Gott wird den Men­schen nicht ver­las­sen. Auch in sei­ner Schuld, auch in sei­nen Nie­drig­kei­ten, auch im Schei­tern und Ver­sa­gen ist der Mensch nicht gott­ver­las­sen. Gott ist bei ihm mit sei­nem Trost, mit sei­ner Hil­fe, mit sei­ner Ver­ge­bung.

Wa­rum es Not und Un­glück, Un­recht und Ver­sa­gen gibt, bleibt für uns da­mit al­ler­dings letzt­lich ein Rät­sel. Je­sa­ja konn­te noch vom Zorn Got­tes spre­chen. Und er konn­te noch er­in­nern an die Sint­flut, in der der Schöp­fer sei­ne Kre­a­tu­ren bis auf ei­nen klei­nen Rest wie­der aus­ge­löscht hat­te, weil sie nicht gut ge­ra­ten wa­ren.

Gott als der Stra­fen­de, Gott gar als ei­ner, der Le­ben aus­löscht, das ist für uns ei­ne al­ter­tüm­li­che Vor­stel­lung. Es ist ei­ne un­er­träg­li­che Vor­stel­lung. Wir kön­nen zwar mit Dank­bar­keit fest­stel­len, dass wir zur Ver­ant­wor­tung be­ru­fen sind für un­ser ei­ge­nes Tun, dass uns mit der Selbst­ver­ant­wor­tung un­se­re Mün­dig­keit als ei­gen­stän­di­ge We­sen zu­ge­spro­chen ist. Es bleibt aber doch un­leug­bar, dass wir uns nicht selbst ge­schaf­fen ha­ben. Wir blei­ben Kre­a­tu­ren – und das heißt doch: Es gibt ei­ne Gren­ze un­se­rer Ver­ant­wor­tung. Es gibt ei­ne Gren­ze der Vor­werf­bar­keit. Für das, was wir sind und was wir tun, sol­len wir zwar selbst Re­de und Ant­wort ste­hen, aber die letz­te Ver­ant­wor­tung kön­nen wir nicht tra­gen. Die Bür­de der letz­ten Ver­ant­wor­tung müs­sen wir an den­je­ni­gen zu­rück­ge­ben dür­fen, der uns letzt­lich ge­schaf­fen hat. Und wir dür­fen die­se letz­te Ver­ant­wor­tung ab­ge­ben. Da­zu be­freit uns das Neue Te­sta­ment.

Im Neu­en Te­sta­ment ler­nen wir in der Ge­stalt Je­sus Chri­stus Gott als den lie­ben­den Gott ken­nen, der an den Schwä­chen und Feh­lern und Ver­feh­lun­gen des Men­schen selbst lei­det als Mit­lei­den­der. Und der den Men­schen ab­nimmt, was die­se sich selbst an Schuld und Not und Elend auf sich ge­la­den ha­ben, um ih­nen so ei­ne neue Chan­ce zum Le­ben, zur Um­kehr, zur Bes­se­rung zu ge­ben.

Auch bei Je­sa­ja, dem Pro­phe­ten des Al­ten Te­sta­ments, ler­nen wir Gott als den lie­ben­den Gott ken­nen. Je­sa­ja spricht von ei­nem Sin­nes­wan­del Got­tes, dem Wan­del vom Zorn zur lie­be­vol­len Zu­wen­dung: „Als du mich zum Zorn ge­reizt hat­test, ha­be ich mich ei­nen Au­gen­blick von dir ab­ge­wandt. Aber nun will ich dir für im­mer gut sein.“ Die Ver­schlep­pung ins ba­by­lo­ni­sche Exil legt Je­sa­ja als ein Zei­chen des Zor­nes Got­tes aus. Der Lie­bes­be­weis Got­tes wird die Rück­kehr der Is­rae­li­ten in ih­re Hei­mat sein, der Wie­der­auf­bau und an­dau­ern­des Wohl­er­ge­hen.

Die Is­rae­li­ten sind zu­rück­ge­kehrt, der Wie­der­auf­bau Je­ru­sa­lems hat statt­ge­fun­den. Das Glück war den­noch nur bruch­stück­haft und nicht von Dau­er. 

Es ist zu ei­ner grund­sätz­li­chen Fra­ge ge­wor­den, wie die Ver­hei­ßung des dau­er­haf­ten Bei­stan­des Got­tes zu ver­ste­hen ist. Dem Volk Is­rael war kein an­hal­ten­des Wohl­er­ge­hen, kein dau­er­haf­ter Frie­de be­schie­den. Es ist bis heu­te nicht zur Ru­he ge­kom­men.

War die Lie­bes­er­klä­rung Got­tes, die Je­sa­ja hier so po­e­tisch for­mu­liert hat, wirk­lich nur die ty­pisch maß­lo­se Ü­ber­trei­bung des Lie­ben­den aus dem Über­schwang des Ge­fühls her­aus?

Wenn wir die Er­klä­rung im po­li­tisch-kon­kre­ten Sin­ne ver­ste­hen, müs­sen wir die Fra­ge wohl be­ja­hen. Denn die kon­kre­ten Le­bens­ver­hält­nis­se ha­ben sich seit je­ner Zeit we­der für das Volk Is­rael noch für die Welt­be­völ­ke­rung ins­ge­samt we­sent­lich zum Bes­se­ren ge­wan­delt.

Wir ha­ben die Zu­sa­ge der Lie­be und Treue Got­tes durch Je­sus Chri­stus aber in ei­ner an­de­ren Wei­se aus­zu­le­gen ge­lernt. Je­sus Chri­stus hat die Pro­ble­me der mensch­li­chen Ge­sell­schaft durch­lebt und durch­lit­ten, die Lieb­lo­sig­keit und Bös­ar­tig­keit, die mensch­li­chen Schwä­chen, das Un­ver­ständ­nis, die In­to­le­ranz, Lü­ge, Hass und Ge­walt. Was er er­lebt und durch­lit­ten hat, hät­te ein wei­te­rer Be­weis für die Un­ver­bes­ser­lich­keit des Men­schen und ein wei­te­rer Be­weis für die Wir­kungs­lo­sig­keit der gött­li­chen Lie­be in un­se­rer Welt sein kön­nen.

In sei­nem Le­ben, Lei­den und Ster­ben und Auf­er­ste­hen hat sich die Lie­be Got­tes zu uns je­doch in an­de­rer, in neu­er Wei­se of­fen­bart – nicht als die Kraft des all­mäch­ti­gen Got­tes der die Le­bens­ver­hält­nis­se neu baut und ein Reich des Frie­dens auf Er­den schafft. Die Lie­be Got­tes hat sich of­fen­bart als die un­zer­stör­ba­re Kraft des Le­bens, als die Blu­me, die aus den Trüm­mern wächst, als das Pflänz­chen, das den As­phalt durch­stößt, als die Blü­te, die in der Wü­ste aus dem Kak­tus sprießt. Mit­ten im Krieg pflegt ei­ne Frau ver­wun­de­te feind­li­che Sol­da­ten, Men­schen aus der Wohl­stands­ge­sell­schaft ver­su­chen in ei­ner der Hun­ger­re­gio­nen un­se­rer Welt, Hun­gri­ge zu spei­sen. Ein Nach­bar ver­zich­tet auf sein Recht um des Frie­dens wil­len. Ein zer­strit­te­nes Ehe­paar backt zur Ver­söh­nung ei­nen Hoch­zeits­ku­chen.

Die Lie­be Got­tes ist die Kraft, die in al­len Ver­wü­stun­gen und Zer­stö­run­gen un­se­res Le­bens nicht aus­zu­lö­schen ist, die sich un­schein­bar und oft un­sicht­bar doch im­mer wie­der ent­fal­tet und der Kraft des Le­bens zum Sie­ge ver­hilft. Es kön­nen in der Tat Ber­ge wan­ken und Hü­gel hin­fal­len, es kön­nen Häu­ser vom Krieg zer­bombt in sich zu­sam­men­fal­len – so­lan­ge die Er­de steht, wird es die Lie­be ge­ben, die Kraft zu neu­em Le­ben, zu ei­nem neu­en An­fang, die Kraft zur Ver­söh­nung und zur Ver­ge­bung. Das ist die Ver­hei­ßung des Bun­des Got­tes mit No­ah, das ist es wohl auch, was Je­sa­ja ge­meint hat, und das ist es, was wir in Je­sus Chri­stus be­stä­tigt und be­sie­gelt fin­den.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 17. März 1996)

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