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3. Sonntag nach Ostern (30.4.23)


Vorbereitung auf den leidvollen Weg zur Freude

2. Mai 1993

Jubilate

(3. Sonntag nach Ostern)

Johannes 16,16(17-19)20-23a


Das Zu­sam­men­sein Je­su mit sei­nen Jün­gern war nur vor­ü­ber­ge­hen­der Na­tur. Der Zei­traum zwi­schen dem er­sten Ken­nen­ler­nen und dem Ab­schied kann nur et­wa höch­stens drei Jah­re be­tra­gen ha­ben. Drei Jah­re war Je­sus mit sei­nen Jün­gern zu­sam­men. Drei Jah­re, die das Le­ben der Jün­ger grund­le­gend ver­än­der­ten. Bis zur Be­geg­nung mit ihm hat­te je­der sein ei­ge­nes Le­ben ge­habt – mit der ei­ge­nen Fa­mi­lie, ei­nem ei­ge­nen Be­ruf, mit ei­ner dörf­li­chen Le­bens­ge­mein­schaft, in der al­les so sei­ne Ord­nung hat­te.

Dann kam der Ein­bruch, der Auf­bruch mit Je­sus, die Auf­ga­be al­ler bis­he­ri­gen Le­bens­ge­wohn­hei­ten, ei­ne Neu­o­rien­tie­rung. Dreh- und An­gel­punkt des neu­en Le­bens war nun Je­sus selbst, sein Re­den und Han­deln. Er set­zte neue Maß­stä­be. Für die Jün­ger be­deu­te­te das ei­nen Lern­pro­zess, die Auf­ga­be des Ge­wohn­ten, ei­ne Ver­un­si­che­rung, ei­ne Ab­hän­gig­keit von Je­sus. Denn wenn sie bis­her aus sich selbst her­aus ge­lebt hat­ten, so wa­ren sie jetzt ab­hän­gig von sei­nen Vor­ga­ben, von dem Neu­en, das er ih­nen vor­leb­te. Je­sus wur­de für sie so zu ei­ner über­mäch­ti­gen Fi­gur, nicht äu­ßer­lich, son­dern in­ner­lich durch sei­ne über­zeu­gen­de Au­to­ri­tät, die ihn zum in­ne­ren Mit­tel­punkt der Jün­ger mach­te. Sie woll­ten sich von ihm lei­ten las­sen, denn das ver­sprach ih­nen ei­ne heil­sa­me Neu­o­rien­tie­rung ih­res Le­bens.

Wenn man dies be­denkt, dann wird ei­nem wohl auch klar wer­den, was der Weg­gang Je­su – sein Tod und schließ­lich sei­ne Him­mel­fahrt – für die Jün­ger be­deu­tet ha­ben muss. Sie stan­den ja noch nicht wie­der auf ei­ge­nen Beinen. Sie hat­ten die Art Je­su noch nicht zu ih­rer ei­ge­nen Art ge­macht. Sie hat­ten sich noch mit­ten im Lern­pro­zess be­fun­den. Und vie­les war ih­nen noch un­klar ge­we­sen. Vie­les an Je­sus hat­ten sie noch gar nicht ver­stan­den, vie­les so­gar miss­ver­stan­den. Ei­gent­lich hät­ten sie ihn noch viel län­ger zu ih­rer ei­ge­nen Orien­tie­rung ge­braucht.

Schon der dro­hen­de Ab­schied muss­te die Jün­ger zu­tiefst ver­un­si­chern. Die Ab­sicht Je­su in un­se­rem Pre­digt­ab­schnitt ist es, den Jün­gern den Ab­schied zu er­leich­tern, ih­nen über die auf sie zu­kom­men­den Schwie­rig­kei­ten hin­weg­zu­hel­fen durch das Auf­zei­gen ei­ner neu­en Per­spek­ti­ve für die Zu­kunft. Er sagt ih­nen: „In Kür­ze wer­de ich nicht mehr bei euch sein. Dann bin ich weg. Aber mei­ne Ab­we­sen­heit wird be­fri­stet sein. Nach ei­ner ge­wis­sen Zeit wer­den wir wie­der zu­sam­men­ sein. Wenn ihr in der Zeit mei­ner Ab­we­sen­heit trau­rig seid, dann denkt dar­an: Es gibt ein Wie­der­se­hen. Die Zeit eu­res Lei­dens wird vor­ü­ber­ge­hen, und dann wird sich eu­er Ab­schieds­schmerz in Wie­der­se­hens­freu­de ver­wan­deln.“

Mit dem Hin­weis auf ei­ne fro­he Zu­kunft ver­sucht Je­sus den Jün­gern über die schwie­ri­ge Ge­gen­wart hin­weg­zu­hel­fen.

Die Jün­ger ha­ben, wenn wir den neu­te­sta­ment­li­chen Be­rich­ten fol­gen, Je­sus nach des­sen Tod noch ein­mal als den Auf­er­stan­de­nen wie­der­ge­se­hen, dann aber - nach Him­mel­fahrt - ist er gänz­li­chen ih­ren Au­gen ent­schwun­den. Das Wie­der­se­hen mit Je­sus hat sich in ei­ne un­be­fri­stete Zu­kunft ver­la­gert. Zeit ih­res Le­bens ha­ben die Jün­ger Je­sus dann nicht mehr leib­haf­tig wie­der­ge­se­hen. Auch die nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen ha­ben die Wie­der­kehr Chri­sti nicht er­lebt. Noch heu­te blicken wir auf die Wie­der­kehr Chri­sti als ei­nes Er­eig­nis­ses in ei­ner un­be­stimm­ten Zu­kunft vor­aus.

Das Pro­blem, vor dem die Jün­ger Je­su bei des­sen Ab­schied stan­den, war al­so nicht durch den blo­ßen Hin­weis auf ein bal­di­ges Wie­der­se­hen im Sin­ne von: Beißt die Zäh­ne zu­sam­men, dann über­steht ihr die Durst­strecke, zu lö­sen.

In den Jün­gern muss­te viel­mehr ein Rei­fungs­pro­zess ein­set­zen. Ih­re Trau­er muss­te or­dent­lich ver­ar­bei­tet wer­den. Sie muss­ten wie­der auf die ei­ge­nen Fü­ße kom­men. Sie muss­ten es ler­nen, auch oh­ne die leib­li­che Ge­gen­wart Je­su dau­er­haft aus­zu­kom­men. Sie durf­ten sich auf das Wie­der­se­hen nicht in dem Sin­ne ver­las­sen, dass sie hät­ten mei­nen kön­nen: „Am 5. Okt­o­ber ist es so weit. Bis da ­hin hal­ten wir durch, und dann geht es wei­ter wie bis­her.“ Das wä­re ei­ne Il­lu­sion ge­we­sen. Das Wie­der­se­hen konn­te für sie eher nur ein in­ne­res Leit­bild sein nach dem Mot­to: Wir rech­nen mit der Mög­lich­keit ei­nes Wie­der­se­hens, rich­ten un­ser Le­ben aber so ein, dass wir auch mit ei­ner län­ge­ren War­te­zeit zu­recht­kom­men.

Die­ses „Sich Ein­rich­ten auf län­ge­re Zeit“ kann so ge­sche­hen, dass die Jün­ger nun doch die Art Je­su zu ih­rer ei­ge­nen Art zu ma­chen ver­su­chen, dass sie al­so all das, was sie bis­her mit Je­sus er­lebt ha­ben, in sich so auf­neh­men und ver­ar­bei­ten, dass es sie von in­nen her­aus zu lei­ten ver­mag. Die über­mäch­ti­ge Leit­fi­gur, der sie bis­her nur ge­folgt wa­ren, muss­te zur in­ne­ren Leit­fi­gur wer­den, zu ei­nem Teil ih­rer selbst.

Ein sol­cher Ver­ar­bei­tungs­pro­zess ist ein Rei­fungs­pro­zess. Er be­steht aus ei­nem Los­lö­sungs­pro­zess und ei­nem Selbst­fin­dungs­pro­zess. Er be­steht in dem Auf­bau ei­ner neu­en ei­ge­nen Iden­ti­tät.

Je­sus hat sei­ne Jün­ger auf die­sen Pro­zess scho­nend vor­be­rei­tet. Mit dem Bild der schwan­ge­ren Frau hat er sie auf die schwie­ri­ge Zeit zu­ver­sicht­lich ein­zu­stim­men ver­sucht. Die Frau macht die Be­schwer­den der Schwan­ger­schaft, schließ­lich die Schmer­zen der We­hen durch. Aber am En­de steht die Freu­de über die Ge­burt des Kin­des. Dann ist die vor­an­ge­gan­ge­ne Müh­sal ver­ges­sen. Wür­de ei­ne Frau nur die Last der Schwan­ger­schaft se­hen, könn­te sie trüb­sin­nig wer­den. Aber der Blick auf das gu­te En­de gibt Kraft, die Be­schwer­den zu tra­gen, sie an­zu­neh­men und ge­dul­dig aus­zu­hal­ten. Ei­ne Schwan­ger­schaft kann auch un­glück­lich en­den. Aber von ih­rer Art her trägt die Schwan­ger­schaft ei­ne po­si­ti­ve Ver­hei­ßung in sich, und die­se be­rech­tigt zur Zu­ver­sicht, zur Hoff­nung. Selbst wenn die kon­kre­te Schwan­ger­schaft fehl­schlägt, bleibt die Schwan­ger­schaft im­mer Trä­ger der Hoff­nung auf neu­es Le­ben.

Mit dem Glau­ben an Je­sus Chri­stus ist das - in ei­nem über­tra­ge­nen Sin­ne - so ähn­lich. Wird das Wort Je­su auf­ge­nom­men, so wirkt es im Le­ben des Glau­ben­den wie der Sa­me im Leib der Frau. Es schafft durch ei­ne Zeit be­schwer­li­chen Rei­fens hin­durch neu­es Le­ben.

Der Akt des Glau­bens be­steht in ei­nem mehr­stu­fi­gen Pro­zess: Da ist zu­nächst das Los­las­sen von den al­ten Ge­wohn­hei­ten und Ein­stel­lun­gen und das Sich-Ein­stel­len auf das An­ge­bot Je­su, die Be­fol­gung sei­ner Wor­te, die Nach­ah­mung sei­ner Art, die ver­trau­ens­vol­le Hin­ga­be an sei­ne Füh­rung. Dann folgt die Ver­ar­bei­tung die­ses An­ge­bo­ts Je­su, die in­ne­re Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen Wor­ten und Ta­ten und die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Um­welt, die die Ver­än­de­run­gen des Glau­ben­den nicht ein­fach an­nimmt. Die­ser Pro­zess der Aus­ein­an­der­set­zung ist mit ei­ner Los­lö­sung von Je­sus als ei­ner äu­ße­ren Leit­fi­gur und ei­ner Ver­in­ner­li­chung, ei­ner In­ter­na­li­sie­rung des­sen ver­bun­den, was Je­sus Chri­stus zu ge­ben hat. Am En­de die­ses müh­sa­men Vor­gangs steht das Ge­schenk ei­nes neu­en Le­bens, ei­ne neue Iden­ti­tät. Wie die­ses neue Le­ben aus­se­hen wird, kann der Glau­ben­de vor­her ge­nau­so we­nig sa­gen, wie die Schwan­ge­re über ihr künf­ti­ges Kind Aus­sa­gen ma­chen kann.

Es gibt ein Vor­her und ein Nach­her - bei dem Glau­ben­den und bei den Jün­gern. Der Weg zwi­schen dem Vor­her und dem Nach­her ist ein be­schwer­li­cher. Die Be­schwer­den las­sen sich nicht ein­fach aus­schal­ten, so, wie die Frau nicht die Schwan­ger­schaft ein­fach über­sprin­gen kann. Es las­sen sich übri­gens noch vie­le an­de­re Bei­spie­le da­für fin­den, wie das gu­te Neue nur über die Zwi­schen­sta­tion der Müh­sal zu errei­chen ist. Wenn wir et­wa im Park spa­zie­ren ge­hen und ei­nen Jog­ger an uns vor­bei­he­cheln se­hen und uns fra­gen, wa­rum sich der Be­tref­fen­de so quält, dann lau­tet die Ant­wort: Die­ser Mensch nimmt die Stra­pa­ze des Jog­gens auf sich, weil er weiß, dass er sich hin­ter­her gut fühlt, dass er et­was zum Woh­le sei­ner Ge­sund­heit ge­tan hat.

Es gibt nur sel­ten den di­rek­ten und schnel­len Weg zum Glück. In der Re­gel müs­sen wir be­reit sein, ein ge­wis­ses Maß an Be­schwer­lich­kei­ten, an Schmer­zen, an Lei­den auf uns zu neh­men, und müs­sen be­reit sein, uns in Ge­duld zu üben.

Bei den Jün­gern war der Weg vom Vor­her zum Nach­her im We­sent­li­chen mit Pfing­sten ab­ge­schlos­sen. Pfing­sten könn­ten wir von da­her als das Fest der Selb­ststän­dig­keit im Glau­ben be­zeich­nen. Aber im Au­gen­blick be­fin­den wir uns noch – von der Kir­chen­jah­res­zeit her be­trach­tet – auf dem Weg dort­hin, auf dem Weg des Rei­fens, des Los­lö­sens von der über­mäch­ti­gen Je­sus­ge­stalt zur Ver­in­ner­li­chung des An­lie­gens und der Kraft Je­su.  Als Glau­ben­de kom­men wir von Je­sus und ge­hen auf Je­sus zu. Die­ser Weg ist ein Weg der Ver­wand­lung, ein Weg der Er­neu­e­rung: Das Al­te ver­geht und neu­es Le­ben ent­steht.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 2. Mai 1993)

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