Vorbereitung auf den leidvollen Weg zur Freude
2. Mai 1993
Jubilate
(3. Sonntag nach Ostern)
Johannes 16,16(17-19)20-23a
Das Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern war nur vorübergehender Natur. Der Zeitraum zwischen dem ersten Kennenlernen und dem Abschied kann nur etwa höchstens drei Jahre betragen haben. Drei Jahre war Jesus mit seinen Jüngern zusammen. Drei Jahre, die das Leben der Jünger grundlegend veränderten. Bis zur Begegnung mit ihm hatte jeder sein eigenes Leben gehabt – mit der eigenen Familie, einem eigenen Beruf, mit einer dörflichen Lebensgemeinschaft, in der alles so seine Ordnung hatte.
Dann kam der Einbruch, der Aufbruch mit Jesus, die Aufgabe aller bisherigen Lebensgewohnheiten, eine Neuorientierung. Dreh- und Angelpunkt des neuen Lebens war nun Jesus selbst, sein Reden und Handeln. Er setzte neue Maßstäbe. Für die Jünger bedeutete das einen Lernprozess, die Aufgabe des Gewohnten, eine Verunsicherung, eine Abhängigkeit von Jesus. Denn wenn sie bisher aus sich selbst heraus gelebt hatten, so waren sie jetzt abhängig von seinen Vorgaben, von dem Neuen, das er ihnen vorlebte. Jesus wurde für sie so zu einer übermächtigen Figur, nicht äußerlich, sondern innerlich durch seine überzeugende Autorität, die ihn zum inneren Mittelpunkt der Jünger machte. Sie wollten sich von ihm leiten lassen, denn das versprach ihnen eine heilsame Neuorientierung ihres Lebens.
Wenn man dies bedenkt, dann wird einem wohl auch klar werden, was der Weggang Jesu – sein Tod und schließlich seine Himmelfahrt – für die Jünger bedeutet haben muss. Sie standen ja noch nicht wieder auf eigenen Beinen. Sie hatten die Art Jesu noch nicht zu ihrer eigenen Art gemacht. Sie hatten sich noch mitten im Lernprozess befunden. Und vieles war ihnen noch unklar gewesen. Vieles an Jesus hatten sie noch gar nicht verstanden, vieles sogar missverstanden. Eigentlich hätten sie ihn noch viel länger zu ihrer eigenen Orientierung gebraucht.
Schon der drohende Abschied musste die Jünger zutiefst verunsichern. Die Absicht Jesu in unserem Predigtabschnitt ist es, den Jüngern den Abschied zu erleichtern, ihnen über die auf sie zukommenden Schwierigkeiten hinwegzuhelfen durch das Aufzeigen einer neuen Perspektive für die Zukunft. Er sagt ihnen: „In Kürze werde ich nicht mehr bei euch sein. Dann bin ich weg. Aber meine Abwesenheit wird befristet sein. Nach einer gewissen Zeit werden wir wieder zusammen sein. Wenn ihr in der Zeit meiner Abwesenheit traurig seid, dann denkt daran: Es gibt ein Wiedersehen. Die Zeit eures Leidens wird vorübergehen, und dann wird sich euer Abschiedsschmerz in Wiedersehensfreude verwandeln.“
Mit dem Hinweis auf eine frohe Zukunft versucht Jesus den Jüngern über die schwierige Gegenwart hinwegzuhelfen.
Die Jünger haben, wenn wir den neutestamentlichen Berichten folgen, Jesus nach dessen Tod noch einmal als den Auferstandenen wiedergesehen, dann aber - nach Himmelfahrt - ist er gänzlichen ihren Augen entschwunden. Das Wiedersehen mit Jesus hat sich in eine unbefristete Zukunft verlagert. Zeit ihres Lebens haben die Jünger Jesus dann nicht mehr leibhaftig wiedergesehen. Auch die nachfolgenden Generationen haben die Wiederkehr Christi nicht erlebt. Noch heute blicken wir auf die Wiederkehr Christi als eines Ereignisses in einer unbestimmten Zukunft voraus.
Das Problem, vor dem die Jünger Jesu bei dessen Abschied standen, war also nicht durch den bloßen Hinweis auf ein baldiges Wiedersehen im Sinne von: Beißt die Zähne zusammen, dann übersteht ihr die Durststrecke, zu lösen.
In den Jüngern musste vielmehr ein Reifungsprozess einsetzen. Ihre Trauer musste ordentlich verarbeitet werden. Sie mussten wieder auf die eigenen Füße kommen. Sie mussten es lernen, auch ohne die leibliche Gegenwart Jesu dauerhaft auszukommen. Sie durften sich auf das Wiedersehen nicht in dem Sinne verlassen, dass sie hätten meinen können: „Am 5. Oktober ist es so weit. Bis da hin halten wir durch, und dann geht es weiter wie bisher.“ Das wäre eine Illusion gewesen. Das Wiedersehen konnte für sie eher nur ein inneres Leitbild sein nach dem Motto: Wir rechnen mit der Möglichkeit eines Wiedersehens, richten unser Leben aber so ein, dass wir auch mit einer längeren Wartezeit zurechtkommen.
Dieses „Sich Einrichten auf längere Zeit“ kann so geschehen, dass die Jünger nun doch die Art Jesu zu ihrer eigenen Art zu machen versuchen, dass sie also all das, was sie bisher mit Jesus erlebt haben, in sich so aufnehmen und verarbeiten, dass es sie von innen heraus zu leiten vermag. Die übermächtige Leitfigur, der sie bisher nur gefolgt waren, musste zur inneren Leitfigur werden, zu einem Teil ihrer selbst.
Ein solcher Verarbeitungsprozess ist ein Reifungsprozess. Er besteht aus einem Loslösungsprozess und einem Selbstfindungsprozess. Er besteht in dem Aufbau einer neuen eigenen Identität.
Jesus hat seine Jünger auf diesen Prozess schonend vorbereitet. Mit dem Bild der schwangeren Frau hat er sie auf die schwierige Zeit zuversichtlich einzustimmen versucht. Die Frau macht die Beschwerden der Schwangerschaft, schließlich die Schmerzen der Wehen durch. Aber am Ende steht die Freude über die Geburt des Kindes. Dann ist die vorangegangene Mühsal vergessen. Würde eine Frau nur die Last der Schwangerschaft sehen, könnte sie trübsinnig werden. Aber der Blick auf das gute Ende gibt Kraft, die Beschwerden zu tragen, sie anzunehmen und geduldig auszuhalten. Eine Schwangerschaft kann auch unglücklich enden. Aber von ihrer Art her trägt die Schwangerschaft eine positive Verheißung in sich, und diese berechtigt zur Zuversicht, zur Hoffnung. Selbst wenn die konkrete Schwangerschaft fehlschlägt, bleibt die Schwangerschaft immer Träger der Hoffnung auf neues Leben.
Mit dem Glauben an Jesus Christus ist das - in einem übertragenen Sinne - so ähnlich. Wird das Wort Jesu aufgenommen, so wirkt es im Leben des Glaubenden wie der Same im Leib der Frau. Es schafft durch eine Zeit beschwerlichen Reifens hindurch neues Leben.
Der Akt des Glaubens besteht in einem mehrstufigen Prozess: Da ist zunächst das Loslassen von den alten Gewohnheiten und Einstellungen und das Sich-Einstellen auf das Angebot Jesu, die Befolgung seiner Worte, die Nachahmung seiner Art, die vertrauensvolle Hingabe an seine Führung. Dann folgt die Verarbeitung dieses Angebots Jesu, die innere Auseinandersetzung mit seinen Worten und Taten und die Auseinandersetzung mit der Umwelt, die die Veränderungen des Glaubenden nicht einfach annimmt. Dieser Prozess der Auseinandersetzung ist mit einer Loslösung von Jesus als einer äußeren Leitfigur und einer Verinnerlichung, einer Internalisierung dessen verbunden, was Jesus Christus zu geben hat. Am Ende dieses mühsamen Vorgangs steht das Geschenk eines neuen Lebens, eine neue Identität. Wie dieses neue Leben aussehen wird, kann der Glaubende vorher genauso wenig sagen, wie die Schwangere über ihr künftiges Kind Aussagen machen kann.
Es gibt ein Vorher und ein Nachher - bei dem Glaubenden und bei den Jüngern. Der Weg zwischen dem Vorher und dem Nachher ist ein beschwerlicher. Die Beschwerden lassen sich nicht einfach ausschalten, so, wie die Frau nicht die Schwangerschaft einfach überspringen kann. Es lassen sich übrigens noch viele andere Beispiele dafür finden, wie das gute Neue nur über die Zwischenstation der Mühsal zu erreichen ist. Wenn wir etwa im Park spazieren gehen und einen Jogger an uns vorbeihecheln sehen und uns fragen, warum sich der Betreffende so quält, dann lautet die Antwort: Dieser Mensch nimmt die Strapaze des Joggens auf sich, weil er weiß, dass er sich hinterher gut fühlt, dass er etwas zum Wohle seiner Gesundheit getan hat.
Es gibt nur selten den direkten und schnellen Weg zum Glück. In der Regel müssen wir bereit sein, ein gewisses Maß an Beschwerlichkeiten, an Schmerzen, an Leiden auf uns zu nehmen, und müssen bereit sein, uns in Geduld zu üben.
Bei den Jüngern war der Weg vom Vorher zum Nachher im Wesentlichen mit Pfingsten abgeschlossen. Pfingsten könnten wir von daher als das Fest der Selbstständigkeit im Glauben bezeichnen. Aber im Augenblick befinden wir uns noch – von der Kirchenjahreszeit her betrachtet – auf dem Weg dorthin, auf dem Weg des Reifens, des Loslösens von der übermächtigen Jesusgestalt zur Verinnerlichung des Anliegens und der Kraft Jesu. Als Glaubende kommen wir von Jesus und gehen auf Jesus zu. Dieser Weg ist ein Weg der Verwandlung, ein Weg der Erneuerung: Das Alte vergeht und neues Leben entsteht.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 2. Mai 1993)