Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

Reminiscere (5.3.23)


Unglaubliche Hoffnung?!

11. März 1979

Reminiszere, 2. Sonntag in der Passionszeit

Markus 12,1-12


Lassen Sie mich noch einmal mit eigenen Worten die Geschichte erzählen, die uns heute als Predigttext aufgegeben ist: 

Der Besitzer eines Weinbergs will außer Landes gehen. Wir kennen seine Motive nicht. Jedenfalls muss er seinen heimischen Weinberg verlassen. Er will ihn aber nicht gänzlich aufgeben. Er will ihn nicht verkaufen. Er verpachtet den Weinberg.

Als die Zeit der Ernte gekommen ist, schickt er einen seiner Mitarbeiter zu den Pächtern, um seinen Anteil an den Früchten, den Pachtzins, holen zu lassen. Die Pächter, statt ihrer Verpflichtung nachzukommen, schlagen den Mitarbeiter und schicken ihn mit leeren Händen fort. Sie scheinen sich ziemlich sicher zu sein, dass der Besitzer des Weinbergs sie nicht zur Rechenschaft ziehen wird. Der ist ja auch weit weg, im Ausland. Große Entfernungen waren damals nicht so leicht zu überwinden.

Der Besitzer des Weinbergs unternimmt einen zweiten Versuch. Er schickt noch einmal einen Mitarbeiter zu den Pächtern. Doch auch dem ergeht es nicht besser. Er muss Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Ja, ihm wird sogar der Kopf blutig geschlagen. Die Pächter legen eine ziemliche Dreistigkeit an den Tag. Als der Besitzer des Weinbergs noch einen anderen schickt, bringen sie ihn sogar um. Sie scheinen ganz und gar keinen Respekt vor dem Besitzer des Weinbergs zu haben. Weder respektieren sie dessen Anspruch auf Zahlung der Pacht, noch trauen sie ihm zu, dass er seine Ansprüche doch irgendwie durchsetzen könnte. Auch vor einer Bestrafung scheinen sie keine Angst zu haben. 

Der Besitzer des Weinbergs schickt noch weitere Mitarbeiter. Das muss verwundern. Hat er so viele Mitarbeiter, dass er deren Leben leichtfertig aufs Siel setzen könnte? Er muss nach den Erfahrungen doch fest damit rechnen, dass auch sie ihren Auftrag nicht werden erfüllen können. Ja, mit jedem weiteren Mitarbeiter muss sich eigentlich die Selbstsicherheit der Pächter verstärken. Jeder weitere Mitarbeiter ist geradezu ein Beweis dafür, dass die Dreistigkeit  unbestraft bleibt. Offenbar, so müssen die Pächter denken, fehlen dem Besitzer des Weinbergs die Mittel, die Zahlung der Pacht zu erzwingen.

Als neutraler Betrachter kann man dem Weinbergbesitzer eine große Geduld mit seinen Pächtern bescheinigen, eine sehr große Geduld, eigentlich eine zu große Geduld. Denn immerhin riskiert er jedes Mal das Leben eines seiner Mitarbeiter. Völlig verblüffend und kaum noch zu verstehen ist, dass er schließlich seinen eigenen Sohn, seinen geliebten Sohn zu den Pächtern schickt, gewissermaßen als letzten Versuch. Kaum zu begreifen ist dieser Versuch, weil der Vater nun das Leben seines Sohnes aufs Spiel setzt. 

Das Vertrauen, das er in die Pächter setzt, dass sie wenigstens, wenn nicht seine Mitarbeiter, nun doch wenigstens seinen Sohn respektieren werden, erscheint nach den Erfahrungen kaum gerechtfertigt. Woher nimmt der Weinbergbesitzer dieses über alle Maßen große Vertrauen? Ist er durch den bisherigen Schaden immer noch nicht klug geworden? Ist er so blind, dass er die Wirklichkeit nicht wahrnimmt? Ist er naiv? Kennt er die Menschen immer noch nicht? Will er sie nicht kennen? Er hätte doch, bevor er das Leben seines eigenen Sohnes riskiert, längst einmal zum Gegenschlag ausholen müssen und den Pächtern mit einer gehörigen Strafmaßnahme vor Augen führen müssen, dass sie mit ihrer Dreistigkeit nicht ungeschoren davonkommen würden.

Dass der Weinbergbesitzer die Mittel hat, seine Pächter zur Rechenschaft zu ziehen, deutet Jesus an, als er fragt, was passieren werde, wenn auch der Sohn umgebracht wird. Dann wird der Besitzer des Weinbergs kommen und die Pächter ums Leben bringen und den Weinberg anderen geben. 

Wenn der Besitzer des Weinbergs diese Mittel hat, warum setzt er sie nicht nach der Untat an seinem letzten Mitarbeiter ein? Warum bringt er noch das Leben seines eigenen Sohnes in Gefahr?

Nun, das ist kaum zu begreifen. Wir können nur Folgendes zur Kenntnis nehmen: Der Weinbergbesitzer verzichtet auf die Anwendung von Gewalt. Er gibt - fast möchte man sagen: unbegreiflicherweise - die Hoffnung nicht auf, dass die Pächter doch noch von sich aus zur Besinnung kommen werden. Er scheint darauf zu hoffen, dass sein immer neuer Vertrauensbeweis die Pächter schließlich bei ihrer Ehre packt und sie sich sagen: „Wer uns so viel Vertrauen schenkt, den dürfen wir auf Dauer nicht enttäuschen.“ Der Weinbergbesitzer ist um dieser seiner Hoffnung willen bereit, Risiken einzugehen, die bis in die Intimsphäre hineinreichen, bis in den Bereich der Liebe zu seinem Sohn. 

Überdenken wir noch einmal das sonderbare Verhalten des Weinbergbesitzers. Versetzen wir uns einmal in die Lage der beiden Parteien. Wären wir der Besitzer des Weinbergs, wie hätten wir auf derart ungehörige Pächter reagiert? Vermutlich hätten wir andere Maßnahmen ergriffen als die hier aufgezeichneten. Wir hätten vermutlich nach der ersten Zahlungsverweigerung der Pächter, spätestens nach der zweiten oder allerspätestens nach der dritten zu Zwangsmaßnahmen gegriffen, um unsere Ansprüche durchzusetzen. „Wer  nicht hören will, muss fühlen!“ Warum hätten wir mit solchen Pächtern auch zimperlich umgehen sollen?! Schließlich scheuten diese Menschen aus reiner Selbstsucht nicht einmal vor Mord zurück. 

Versetzen wir uns nun einmal in die Lage der Pächter. Stellen wir uns vor, wir wären diese selbstsüchtigen, habgierigen, gewalttätigen Gesellen. Wir würden wohl zunächst bei jeder Unrechtstat mit einer energischen Gegenmaßnahme des Weinbergbesitzers rechnen. Allerdings nach dem, wie wir ihn kennengelernt hatten, bevor er seine Reise ins Ausland antrat, nämlich als eine menschliche und großzügige Person, würden wir es auch für möglich halten, dass er es erst einmal im Guten versuchen würde, dass er versuchen würde, mit uns zu verhandeln, uns gut zuzureden. Gerade weil uns dieser Charakterzug des Weinbergbesitzers bekannt ist, haben wir überhaupt den Mut, uns so dreist zu verhalten.

Nachdem nun die ersten Mitarbeiter gekommen sind, ohne ihren Auftrag erfüllen zu können und immer noch kein Gegenschlag erfolgt ist, fühlen wir uns in unserer Einschätzung des Weinbergbesitzers bestätigt und zur Fortsetzung unseres vertragswidrigen Verhaltens ermutigt.

Da nun immer weitere Mitarbeiter kommen und die harte Gegenmaßnahme ausbleibt, werden sich unter uns Pächtern langsam jedoch unterschiedliche Reaktionen entwickeln. Die einen werden in ihrer Bösartigkeit noch übermütiger werden. Den anderen von uns wird langsam mulmig zumute werden, weil das Verhalten des Weinbergbesitzers so ungewöhnlich und damit unberechenbar ist.

Als schließlich der Sohn vor der Tür steht - ohne Begleitschutz, beteiligen sich zwar noch alle an dessen Ermordung. Aber im Grunde ist einigen die Sache jetzt schon zu heiß geworden. Dass ihre Untaten permanent ungestraft bleiben und der Weinbergbesitzer auch noch seinen eigenen Sohn opfert, statt einen Trupp Soldaten zu schicken, weckt bei ihnen das schlechte Gewissen. Das erfüllt sie mit einer inneren Unruhe, bringt sie zum Grübeln über alles, was bisher geschehen ist. Vielleicht führt dieses intensive Nachdenken bei dem einen oder anderen dann auch zu der Einsicht, dass dieser Weinbergbesitzer ein schier unendliches Vertrauen zu ihnen gehabt hat - trotz ihrer fortgesetzten Bösartigkeiten. Durch die Einsicht in ein solch unglaubliches Vertrauen mag sich der eine oder andere dazu herausgefordert fühlen, sein bisheriges Verhalten zu bereuen und sein künftiges zu ändern.

Jesus erzählt diese Geschichte als Gleichnis. Mit dem Weinbergbesitzer meint er Gott, mit den Pächtern vor allem die Hohepriester und Schriftgelehrten. Diese fühlen sich auch angesprochen. Mit den Mitarbeitern des Weinbergbesitzers meint er die vielen Boten Gottes, Mose und all die Propheten. Mit dem Sohn meint sich Jesus selbst. Er will mit dieser Geschichte sagen: Gott ist lange geduldig gewesen mit einem ungehorsamen Volk. All seine Boten sind auf taube Ohren gestoßen. Die Sendung des Sohnes ist der letzte Versuch. Jesus deutet an, dass auch er von den Unverständigen umgebracht werden wird.

Mit den Pächtern im Gleichnis sind aber nicht nur die damaligen Pharisäer und Schriftgelehrten gemeint. Auch wir sind gemeint. Auch wir sind dazu aufgerufen, in uns zu gehen und unser Verhalten kritisch zu überprüfen.

Uns ist die Welt - wie den Pächtern des Weinbergs - als Aufgabe gegeben. Hier sollen und können wir arbeiten für uns selbst. Aber nicht nur für uns selbst. Die Welt ist nicht unser Eigentum. Wir sind gehalten, die Rechte des Besitzers zu respektieren.

Wir neigen dazu, dieses immer wieder zu vergessen. Wir behandeln die ganze Schöpfung oftmals so, als wäre sie unser Eigentum. Wir betreiben Raubbau in der Natur, vergiften die Umwelt, töten Menschen in Massen von Kriegen. Aufrufe, Gott als den Schöpfer zu respektieren, sind vielfach in den Wind gesprochen. Er aber hat eine geradezu unglaubliche Geduld mit uns. Die ununterbrochene Kette menschlicher Bösartigkeiten hat die Hoffnung in ihm nicht ersterben lassen, dass in uns doch noch ein guter Kern steckt, der uns zur Umkehr bringen könnte.

Nicht mit Gewalt will er uns zur Besinnung führen. Vielmehr schickt er uns immer wieder Mahner, die vielen biblischen Gestalten, und schließlich seinen Sohn Jesus Christus. Seine Hoffnung ist diese: dass sein großer Liebesbeweis uns letztlich doch von innen heraus verwandelt und uns zur Besserung bewegt. Diese seine Hoffnung soll uns ein Ansporn zu immer neuem Bemühen sein, unser Leben nach seinem Willen auszurichten.

(Predigt in der Kreuzkirche Cuxhaven-Altenwalde am 11. März 1979)

wnein@posteo.de    © Wolfgang Nein 2013