Schöne Geschichten vom Leben
19. April 1992
Ostersonntag
1. Korinther 15,1-11
„Erzähl mir eine schöne Ostergeschichte!“, bat sie mich. Eine schöne Ostergeschichte - die müsste handeln von einer Lebenswende, von einem einschneidenden, umwälzenden Erlebnis, von einem Vorher und Nachher, von einem Wandel - von der Trauer zur Freude, von der Enttäuschung zu neuem Vertrauen, von der Resignation zu neuer Hoffnung.
Eine schöne Ostergeschichte, die müsste handeln vom anbrechenden Tag, von der schwindenden Nacht, von der unaufhaltsam aufgehenden Sonne und der Macht des Lichtes.
Sie müsste handeln vom Leben, von neuem Leben, das aus dem Tode erwächst, vom Samenkorn, das erstirbt und neues Leben hervorbringt. Sie müßte handeln vom Geschenk des Lebens, das sich der Hingabe verdankt.
Sie müsste handeln vom Frühling, der aus kahlen Ästen frisches Grün hervorbringt. Sie müsste handeln von zarten Blumen, die aus Trümmern erwachsen.
„Erzähl mir eine schöne Ostergeschichte!“
Soll ich erzählen vom Sterben und Auferstehen in unserem täglichen Leben? Von der Niederlage, die einer erlitten hat, dem dann doch wieder aufgeholfen wurde? Soll ich erzählen, wie einer nach bitteren Enttäuschungen am Boden zerstört war und ihm dann doch neuer Lebensmut geschenkt wurde? Soll ich erzählen, wie einer mit seinem Leben abgeschlossen hatte und dann unerwartet neue Kraft zum Leben in sich spürte?
Ich könnte erzählen von einem beruflichen Misserfolg - wie einer entlassen wurde, weil er mit seiner Aufgabe nicht zurechtkam, wie er an sich selbst zu zweifeln begann, an dem Sinn seines Lebens - und wie er dann eine neue Arbeit fand, die richtige Aufgabe für ihn, wo er seine Fähigkeiten entfalten konnte, wo er Leistungen erbrachte, die keiner von ihm erwartet hatte, wo er mehr zustande brachte, als er sich selbst jemals zugetraut hätte.
Ich könnte erzählen von einer Scheidung, die für sie den inneren Tod bedeutete, die ihr ein weiteres Leben unvorstellbar erscheinen ließ – und wie dann aus der Tiefe ihres dunklen Tals eine neue Lebensquelle entsprang, tröpfchenweise zunächst, doch mit wachsender Kraft.
Ich könnte erzählen von einer Krankheit, die jeden Glauben an die Gerechtigkeit Gottes ersterben ließ - wie jemand im Hass auf seinen Schöpfer den Tag seiner Geburt verfluchte, wie er schließlich geheilt wurde - an Leib und Seele - und das Leben noch einmal dankbar annahm.
Ich könnte auch erzählen vom Streit zwischen zwei Freunden, die keine Brücke mehr zwischen sich sahen, die sich gegenseitig und ihre Beziehung schon aufgegeben hatten, die mit Hilfe eines Dritten aber doch wieder einen Weg zueinander fanden und nun reifer und fester verbunden sind als zuvor.
„Erzähl mir eine schöne Ostergeschichte!“, bat sie mich.
Ich könnte auch von einer Feier des Lebens berichten, von einer Feier des Lebens mit schönen Liedern und nachdenklichen Worten, mit Gesten der Dankbarkeit und der Liebe, von einer Feier des Lebens in einer Welt voller Tode, von einer Feier der Belasteten und Beladenen, von einer Feier unter uns, die wir alle unsere Probleme haben, von einer Feier in einem Krankenhaus, von einer Feier in einem Altenheim, von einer Feier in einem Armenviertel, von einer Feier inmitten des Krieges.
Eine schöne Ostergeschichte soll ich erzählen, eine Geschichte also vom Leben, das den Tod besiegt, von der Versöhnung, die den Streit beendet, von neuem Mut, von neuer Hoffnung, von der Liebe, die neues Leben schafft.
Vielleicht sollte ich einfach von dem erzählen, der sein Leben in Liebe lebte und dennoch im Hass zu Tode gebracht wurde, der Blinde heilte und etliche mit anderen Krankheiten, der einkehrte bei solchen, die von anderen mit Verachtung gemieden wurden, der vergab und Barmherzigkeit übte und selbst doch Verfolgung und Spott und Gewalt erleiden musste, der zu Unrecht verurteilt und gekreuzigt wurde, und der - trotz der bitteren Erfahrung kein böses Wort über seine Lippen brachte und keine Gedanken der Vergeltung hegte.
Und vielleicht sollte ich weiter von seinen Anhängern erzählen, den Männern und Frauen, die große Hoffnungen in ihn gesetzt hatten, die sich eine Wende in ihrem Leben erhofft hatten, ein Ende ihrer Probleme, ein Ende der Nöte ihres Volkes, ein Ende allen Leids, und die so bitter enttäuscht waren, als der Träger ihrer Hoffnungen am Kreuz endete - zu enden schien.
Ist das nicht die eigentlich schöne Ostergeschichte, wie die Frauen zum Grab gehen, um den Leichnam zu salben, und das Grab leer vorfinden und ein Bote Gottes zu ihnen spricht: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Und wie die Frauen das Unglaubliche weitererzählen, wie die Jünger zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Entsetzen und Freude hin- und hergerissen sind und schließlich zum Glauben finden: dass Jesus Christus lebt, dass er in ihnen lebt und sie nun mit ihm und durch ihn auferstanden sind zu einem neuen Leben, zu einem neuen Ja zum Leben.
Dies ist die Ostergeschichte aller Ostergeschichten: Jesus Christus lebt. Die Kraft seines Lebens ist bewahrt geblieben - bis auf den heutigen Tag. Die Barmherzigkeit, die er geübt hat, fand kein Ende am Kreuz, sie hat sich in unzähligen Menschen fortgesetzt. Seine Zuwendung tröstet noch heute. Seine Vergebung erlöst uns noch hier und jetzt.
„Erzähl mir eine schöne Ostergeschichte!“ Von Jesus Christus möchte ich erzählen, von seinem Leben, von seinem Leiden, von seinem Sterben und von seinem Auferstehen - von seinem Auferstehen.
Denn seine Rückkehr zu den Lebenden ist uns allen zugute geschehen. Sie will auch uns zu neuem Leben erwecken. Sie erlöst uns durch Vergebung und stärkt uns durch die Kraft der Liebe.
Als die Jünger dem Auferstandenen begegnen, sind sie zunächst entsetzt. Seine erneute Gegenwart belebt ihre Vergangenheit und erinnert sie peinlich an vieles: wie oft sie ihn missverstanden hatten, wie sie in Eitelkeit um seine Gunst geworben hatten, wie einer von ihnen ihn verraten, einer von ihnen ihn verleugnet und sie alle ihn im Stich gelassen hatten.
„Fürchtet euch nicht!“, sagt ihnen der Auferstandene. Er ist nicht gekommen, Vergeltung zu üben, sondern zu vergeben und ihr Leben für die Zukunft zu befreien von den Lasten der Vergangenheit.
Die armseligen Gestalten voller menschlicher Unzulänglichkeiten, die Zaghaften und Angefochtenen und Enttäuschten verwandelt der Auferstandene in mutige und kraftvolle Boten seiner Liebe.
Sie sind zu Zeugen des Lebens geworden, zu Zeugen des neuen Lebens, das Gott uns in Jesus Christus geschenkt hat.
„Erzähl mir eine schöne Ostergeschichte!“ Unzählige schöner Ostergeschichten haben sich seit Christus ereignet.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 19. April 1992)