Petrus ermahnt die Hirten der Gemeinde
Für manche Leute sind Christen eine etwas sonderbare Gattung von Lebewesen, die nämlich, so meinen sie, im Denken wohl etwas zurückgeblieben sind, die nicht wissen, was in der Welt eigentlich gespielt wird, etwas dümmlich naive Kreaturen also, die nicht fähig sind oder nicht den Mut haben, kraft eigenen Verstandes ihr Leben in die Hand zu nehmen, und die sich statt dessen lieber sagen lassen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Wenn Christen sich nun selbst als Schafe bezeichnen – und sie haben das von Anfang an getan –, dann wollen sie damit nicht ihrerseits die abfällige Meinung anderer über sie bestätigen. Das Bild vom Schaf bringt zum Ausdruck, dass wir letztlich tatsächlich nicht die Herren unseres Lebens sind, dass wir vielmehr letztlich in vielfacher Weise abhängig sind, abhängig von der Hilfe, dem Zuspruch, der Liebe anderer, dass wir also nicht aus uns selbst heraus leben können, sondern nur durch andere. Das ist am Anfang unseres Lebens, bei der Geburt, vielleicht am deutlichsten. Wir brauchen nur den kleinen Christian hier vorn anzusehen, und wir erkennen, wie total diese Abhängigkeit ist. Klar, wenn wir älter werden, lernen wir, auf eigenen Beinen zu stehen. Aber das bisschen Selbstständigkeit, das wir erwerben, nimmt sich recht kümmerlich aus gegenüber der weitgehenden Abhängigkeit, in der wir auch als Erwachsene verbleiben.
Uns braucht nur jemand zu beleidigen, schon sind wir innerlich verunsichert. Oder wenn wir arbeitslos oder krank werden, stecken wir schon in einer Krise. Oder manchmal reicht es schon, dass wir Langeweile haben, dass wir allein sind und nichts zu tun haben, und schon fühlen wir uns von Kräften bedroht, die unser Leben ins Wanken bringen können.
Wenn das Wort „Schaf“ heute vielleicht wegen seiner Nebenbedeutungen etwas unglücklich gewählt erscheint, so charakterisiert es unsere menschliche Situation doch durchaus treffend.
Der Evangelist Johannes nennt nun Jesus Christus den guten Hirten, weil wir in den vielen Formen unserer Abhängigkeit bei Jesus Christus gut aufgehoben sind, sei es in Krankheit oder in Einsamkeit, in Angst, in Enttäuschungen, in Trauer oder in Schuld – immer finden wir bei Jesus Christus, in den biblischen Geschichten über ihn, ein gutes Wort, das uns aufrichtet, uns gesund, uns wieder froh machen kann.
Für die Zeit zwischen der Himmelfahrt Christi und seiner zweiten Wiederkehr ist nun dieses Hirtenamt Menschen aufgetragen. In der Gemeinde, von der Petrus in unserem kleinen Predigttext berichtet, sind es die sog. „Ältesten“, die die Leitung der Gemeinde innehaben und für Verkündigung und Dienst eine besondere Verantwortung tragen. An ihnen soll in besonderer Weise etwas davon deutlich werden, was Jesus Christus für uns bedeutet, nämlich die leibhaftige Liebe Gottes zu uns Menschen.
Nun ist leicht einzusehen – und die Erfahrung bestätigt das leider –, dass, wenn der Auftrag, für andere da zu sein, institutionalisiert wird, also von Amts wegen ausgeübt wird, nur noch ein fader Abglanz von dem dabei herauskommt, was ursprünglich beabsichtigt war. Das ist ja besonders das Problem unserer Amtskirche. Da gibt es viele Ämter – die Pastoren tragen sogar direkt den Namen „Hirten“ –, aber auch die vielen anderen Ämter: Sie haben letztlich alle die Aufgabe, Jesus Christus als die Liebe Gottes zu den Menschen in Wort und Tat zu bezeugen.
Aber ist das von Amts wegen zu schaffen? Wenn es für die Erfüllung dieser Aufgaben ein geregeltes Gehalt, eine festgelegte Arbeitszeit, einen genau abgegrenzten Arbeitsbereich und eine Menge Bestimmungen gibt –, wie sieht es dann noch aus mit der Spontaneität, mit der freien Bewegung des Herzens, mit dem Verschenken der Gnade und dem dankbaren Empfang unverhoffter Gaben?
Als ich noch Theologie studierte, sagte mir mal jemand: „Wenn du erst Pastor bist, wird man es dir nicht mehr im Guten anrechnen, was du für andere tust, sondern man wird dir vorhalten, was du für andere nicht tust.“
In der Tat, wenn Barmherzigkeit von Amts wegen geübt wird, dann wird sie oft nicht mehr als Geschenk empfunden, das des Dankes wert ist, sondern man meint, einen Anspruch auf sie zu haben, man meint, die Barmherzigkeit fordern zu können, und wenn sie einem nicht gewährt wird, aus welchen Gründen auch immer, sich beschweren zu können. Das ist tatsächlich leider eine fast unausweichliche Folge der Institutionalisierung von Barmherzigkeit. Was Jesus Christus als der gute Hirte frei geschenkt hat, das wird für die Hirten in seiner Nachfolge zur Rechtspflicht, und was Menschen damals von Jesus Christus als Geschenk dankbar entgegengenommen haben, das wird nun zu einem Rechtsanspruch, auf dessen Erfüllung wir meinen bestehen zu können.
Sollte es deshalb also lieber keine Amtskirche geben, statt dessen nur eine freie Gemeinschaft von Christen, in der jeder spontan aus sich heraus in der Nachfolge Jesu Christi leben könnte? Ich meine, es ist unausweichlich, dass Christen organisiert sind in einer Kirche, in der bestimmte Aufgaben auf bestimmte Menschen verteilt sind. Denn so sind letztlich mehr Menschen zu erreichen mit dem Wort und der Tat, mit dem, was Jesus Christus uns aufgetragen hat.
Aber wichtig ist, dass wir uns der Gefahren, die mit solcher Organisierung der Liebe Gottes verbunden sind, immer neu bewusst werden, uns ständig selbst kontrollieren und korrigieren. Eben darum geht es in unserem Predigttext. Petrus ermahnt die Ältesten, die das Hirtenamt in der Gemeinde innehaben, sich von den Versuchungen des Amtes frei zu machen. Er gibt drei Ermahnungen:
Erstens: Sie sollen ihrer Aufgabe nicht aus bloßem Pflichtgefühl nachkommen, gezwungenermaßen also, weil sie nun einmal in dieses Amt eingesetzt sind, sondern sie sollen es freiwillig tun.
Zweitens sagt er: Sie sollen ihre Aufgabe nicht um des Gewinns willen erfüllen, sondern weil sie es von Herzen gern tun, und
drittens: Sie sollen in ihrem Amt nicht Macht ausüben, nicht herrschsüchtig auftreten, sondern durch persönliches Vorbild ihrer Gemeinde dienen.
Das sind die drei Ermahnungen des Petrus an die Ältesten. So selbstverständlich sie klingen, so wenig selbstverständlich sind sie einzuhalten.
Wie steht es zunächst mit der Freiwilligkeit in der Erfüllung unserer Aufgaben? Wenn ich eine alte Dame besuche, weil es mir ein persönliches Anliegen ist, sie zu besuchen, dann ist das eine gute Sache. Ich tue es freiwillig, von Herzen. Wenn ich die alte Dame von Amts wegen besuche, weil es also meine berufliche Pflicht ist, dann kann mir der Besuch auch noch ein persönliches Anliegen sein. Ich kann also zugleich auch freiwillig hingehen. Das kann also zusammenkommen.
Es ist aber folgende sonderbare Erfahrung: Wenn eine Aufgabe, die wir bisher freiwillig erfüllt haben, von nun an uns zur Pflicht wird, verlieren wir ein gut Teil Schwung; wir haben nicht mehr so viel Lust wie vorher. Und es gehört schon eine gute Portion innerer Stärke dazu, das freiwillig und aus vollem Herzen zu tun, was einem gleichzeitig eine Pflicht ist.
Zum Glück ist es beim Pastorenamt so, dass wir einen weitgehenden Spielraum in der Erfüllung unserer Aufgaben haben. Wo wir Schwerpunkte unserer Arbeit setzen, sei es in der Jugend- oder Altenarbeit oder als Dritte-Welt-Engagement, sei es mehr diakonische oder mehr verkündigende Tätigkeit, das bleibt unsere persönliche Entscheidung.
Freilich liegen auch einige Aufgaben verhältnismäßig fest, wie etwa die sonntäglichen Gottesdienste und die Amtshandlungen. Deshalb müssen auch wir die Ermahnungen des Petrus ernst nehmen und uns ständig auf unsere innere Beteiligung bei der Erfüllung unserer Aufgaben prüfen.
Das Zweite war die Warnung vor der Gewinnsucht. Wer für eine Arbeit Geld bekommt, für den kann, selbst wenn er die Arbeit gern und freiwillig tut, die Bezahlung zu einem Motiv für die Arbeit werden. Auch in dieser Gefahr stehen wir als Christen, auch wir Pastoren. Nicht, dass in diesem Amt viel Geld anzuhäufen wäre. Aber man könnte sich etwa sagen: „Das monatliche Gehalt ist mir sicher, also brauche ich es mit meiner Arbeit nicht so ernst zu nehmen.“ Oder man könnte anfangen zu rechnen, das Gehalt auf die tatsächliche Arbeitszeit umlegen und sich sagen: „Künftig wird weniger gearbeitet, es lohnt sich finanziell nicht.“
Vor solchen Überlegungen und Berechnungen warnt Petrus. Er hat offenbar seine Erfahrungen damit schon gesammelt. In der Leitung der Gemeinde, aber doch wohl auch bei anderen Aufgaben, soll nicht der finanzielle Gewinn, sondern die Aufgabe selbst das Motiv unseres Einsatzes sein. Dass dieser Ermahnung nicht immer leicht nachzukommen ist, wissen wir alle.
Und das Dritte: Nicht herrschen, sondern als Vorbild dienen. Jedes Amt gibt einem einen Herrschaftsanspruch, und sei er noch so klein. Dass es eine Verteilung der Aufgaben, der Zuständigkeiten auch in einer Gemeinde geben muss, darüber wird man sich schnell einig werden können. Der damit verbundenen Verteilung der Verantwortung in dienender statt in herrschender Weise gerecht zu werden, ist nicht so einfach, wie man zunächst denken möchte. Denn unserer Verantwortung können wir oftmals nur dadurch gerecht werden, dass wir dem Widerstand anderer unsere eigene Meinung, unseren eigenen Willen nachdrücklich entgegensetzen. In einer solchen Auseinandersetzung kann es zu vielen Missverständnissen kommen. Manchmal mögen wir selbst nicht mehr wissen, ob wir noch vom Willen des Dienens oder schon vom Drang nach Herrschaft erfasst sind.
Diese Ermahnungen des Petrus haben es also in sich. Es reicht nicht, sie sich einmal anzuhören und sie wieder zu vergessen. An ihnen müssten wir unser Verhalten tatsächlich überprüfen.
Nun ermahnt Petrus nicht nur die Ältesten, sondern auch die Jungen. Ja, er ermahnt uns alle, einander ohne persönlichen Stolz zu begegnen, sondern in Demut. Solche Demut hat uns Jesus Christus vorgelebt.
Dass wir immer wieder über die Stränge schlagen werden, ist gewiss. Das braucht uns nicht zu entmutigen. Wir können nicht die vollkommenen Hirten sein, wie Jesus Christus es war, es ist und sein wird. Aber eben darum brauchen wir die Ermahnungen des Petrus immer neu.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in der Kreuzkirche, Cuxhaven-Altenwalde, am 9. April 1978)