Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

16. Sonntag nach Trinitatis (15.9.24)


Sich das Leben immer neu schenken lassen

7. Oktober 1973

16. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 7,11-16


Diese Geschichte kann einem fast anstößig erscheinen. „Sollen wir etwa die Auferweckung eines Toten für bare Münze nehmen?“, könnte einer fragen. „Das wäre doch eine Zumutung! Man kann von uns doch nicht erwarten zu ignorieren, was die Naturwissenschaften uns lehren, erwarten, dass wir unseren Verstand abstellen und uns etwas vormachen!“, könnte sich einer empören.

Tot bleibt tot. Davon müssen wir wohl ausgehen. Wenn wir das ohne Illusion zur Kenntnis nehmen, kann uns diese Geschichte vom auferweckten Jüngling zu Nain für unser konkretes Leben hier und jetzt etwas Hilfreiches sagen.

Die Christen der damaligen Zeit wollen uns mit dieser Erzählung sagen: „Jesus hat den Tod überwunden.“ Was kann das für uns bedeuten? Geht es hier nur um den leiblichen Tod? Oder geht es hier auch um den Tod als eine Art des Umgangs mit dem Leben?

Mir fällt bei dieser Gelegenheit ein Spruch ein, den ein Freund von mir eine Zeit lang bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von sich gab: „Life is hard! Das Leben ist schwer!“ Das sagte er immer im Scherz. Im Ernst würde der Satz viel zu pathetisch klingen.

So erheiternd der Kommentar zum einen auch gemeint sein mochte, es liegt doch mehr Wahrheit darin, als einem manchmal lieb ist. Das Leben ist schwer! Wenn wir allein an das morgendliche Aufstehen denken! Für die nicht gerade zahlreichen Frühaufsteher mag das kein Problem sein. Aber für die meisten von uns sind doch die ersten wachen Minuten die tägliche Erinnerung daran, dass das Leben nicht nach unserer Pfeife tanzt: Wir müssen wieder hoch und uns den Anforderungen des Tages stellen, ob wir wollen oder nicht. So einfach umdrehen und weiterschlafen, das würde nicht lange gut gehen.

Das Leben nimmt uns ganz schön hart ran. Es ist nicht nur das Aufstehen, wir müssen dann auch noch arbeiten, zur Schule gehen, für unser leibliches Wohl sorgen, den Wagen waschen, die Wohnung sauber machen, den Garten pflegen. Manche Dinge machen zwar Spaß. Da können wir nur von Glück sagen. Denn ob Spaß oder nicht Spaß - die Arbeiten müssen getan werden.

Das Leben ist - recht betrachtet - wie ein erbarmungsloser Kutscher: Es fragt uns nicht, wohin und wie und ob‘s auch gefällt. Nein, es treibt uns voran durch die Jahre, gibt uns eine gehörige Last zu ziehen und gönnt uns Ruhe und Freude nur in kleinen Rationen. Wir strampeln uns nach Kräften ab und kriegen dennoch die Knute zu spüren, dass wir manchmal gar nicht wissen, wie uns geschieht: Wir werden krank oder fallen bei der Prüfung durch oder jemand stirbt, an dem wir gehangen haben, oder der erhoffte Erfolg im Beruf oder in der Schule bleibt aus oder wir lieben und finden keine Gegenliebe. Wen nimmt es da Wunder, wenn sich im Laufe der Jahre die Mundwinkel immer weiter nach unten ziehen?

So ist das Leben! Es ist hart. Und jeder hat seine eigene Art, damit fertigzuwerden. Die einen resignieren, verfallen ins Klagen, trauen sich selbst nichts mehr zu und den anderen auch nicht: „Es hat ja doch keinen Sinn!“ Und: „Das schaffst du eh nicht!“ Und immer wieder „Wenn“ und „Aber“. Andere werden aggressiv, werden rücksichtslos, konzentrieren sich mit allen Kräften darauf, die eigenen Interessen zu verfolgen, und fackeln nicht lange, wenn es darum geht, andere auszustechen. Denn im Kampf des Lebens heißt es, der Stärkere sein. Wieder andere fangen an zu träumen, hoffen auf eine bessere Zukunft, lassen sich willenlos dahintreiben und suchen ihr Glück in den Vorspiegelungen einer heilen Welt.

Christlicher Glaube hat mit all diesen Dingen aufs Engste zu tun. Es geht nämlich darum, wie wir uns zu unserem Leben stellen. 

Zunächst gehört zum christlichen Glauben, dem Leben klar und nüchtern ins Auge zu blicken, sich nichts vorzumachen. Das Leben trägt einen Zug nach unten in sich. Alles Mühen kommt nicht dagegen an. Wenn wir das zur Kenntnis nehmen, können wir die Stimme der alten Christen vernehmen, die uns sagen: „Liebe Nachfahren! Verzweifelt nicht, resigniert nicht, werdet nicht aggressiv, gebt euch keinen Illusionen hin, lasst euch von den Widrigkeiten des Lebens nicht unterkriegen, schließt euch uns an, damit ihr in der Gemeinschaft stark und mutig werdet.“

Es ist schon ein Unterschied, ob wir uns von diesem Anspruch treffen lassen oder nicht. Als ich mir kürzlich aus Anlass einer anderen Predigt einmal Gedanken machte zu dem Thema „Dank und Undank“, fiel mir ein kleines Erlebnis ein, an dem anschaulich wird, dass es eben nicht egal ist, mit welcher Haltung wir dem Leben begegnen.

Als ich in Hamburg noch studierte, kannte ich dort einen etwas knatschigen Rentner, der züchtete Tauben. Den ganzen Tag schien er mit den Tieren zu verbringen. Er fütterte sie, bastelte an dem Taubenverschlag herum, machte ihn sauber. Er schien mit den Vögeln zu sprechen, er hegte und pflegte sie, wie sonst nur eine vorbildliche Mutter ihre kleinen Kinder pflegt.

Ich sprach ihn einmal darauf an und sagte zu ihm: „Wenn die Tiere sprechen könnten, würden sie Ihnen bestimmt danken für all die Arbeit, die sie sich jeden Tag ihretwegen machen.“ Da lachte der alte Mann etwas bitter und sagte: „Für die Tiere kann man ruhig was tun. Da erwartet man keine Dankbarkeit. Die können ja nicht sprechen, und die können einen deshalb auch nicht enttäuschen.“ Er fing an, aus seinem bitteren Leben zu erzählen und sagte dann: „Mit den Menschen bin ich fertig. Die haben mir nichts gedankt, obwohl man‘s von Ihnen doch hätte erwarten können.“ Und er ging wieder zu seinen Tauben, die er mehr liebte als die Menschen. 

Das war seine Reaktion auf seine Lebenserfahrungen: Er hatte sich von den Menschen zurückgezogen. Andere reagieren auf ihre Lebenserfahrungen, wie gesagt, mit Aggressionen oder mit Illusionen. Das sind ganz natürliche Reaktionen - aber wollen wir das eigentlich? Haben sie unsere Zustimmung? Oder lassen wir sie uns abnötigen? Fehlt uns nur der Mut und die Kraft, uns anders zu verhalten? Würden wir nicht lieber vermeiden zu resignieren, rücksichtslos zu werden, oder uns Illusionen hinzugeben? 

Wenn wir nach einer alternativen Reaktion auf belastende und enttäuschende Lebenserfahrungen suchen, dann kann uns diese Geschichte von der Auferweckung des jungen Mannes aus der Stadt Nain vielleicht weiterhelfen. Denn diese Geschichte will uns gerade aufmuntern, dem Augenschein der Wirklichkeit die Stirn zu bieten - um unserer selbst und um unserer Mitmenschen willen. 

Die Mutter des toten Jungen weint. Sie hat allen Grund zur Trauer, denn sie hat nicht nur ihren geliebten Sohn verloren, sie wird für die Zukunft ganz auf sich allein gestellt sein, denn sie ist Witwe. Es hat sie hart getroffen. Kein Einzelfall. Uns allen kann es früher oder später in der einen oder anderen Weise ähnlich ergehen. Die Tränen der Mutter - sie stehen zeichenhaft für unsere Ohnmacht dem Schicksal gegenüber. Der Tod, das ist nur ein Beispiel, das stärkste vielleicht, für die Macht, die unser Leben nach Gutdünken bestimmt, die sich unserer Kontrolle entzieht, der wir nicht ausweichen können, auf die wir uns aber einstellen müssen.

Jesus unterbricht den Fluss der Tränen: „Weine nicht!“ – „Weine nicht!“ Das ist die Stimme, die wir hören sollen. Das kann für uns heißen: „Resigniere nicht, werde nicht aggressiv, gib dich keinen Illusionen hin, sondern nimm dein Schicksal an, nimm es zur Kenntnis, wie es ist, aber lass dein Leben nicht von der bloßen Reaktion auf die täglichen Erfahrungen bestimmt sein, und lass dich nicht in ein Missverhältnis zu dir selbst und deinen Mitmenschen drängen.“ 

Wenn es uns gelänge, dieser Stimme zu folgen, dann hätten wir gewissermaßen den Tod überwunden. Dann wäre der Tod zwar noch da, dann gäbe es auch weiterhin die Schläge des Schicksals, den zermürbenden Trott des Alltags, aber all das hätte keine vollkommene Macht mehr über uns, würde unser Handeln nicht mehr so weitreichend bestimmen und würde uns nicht mehr so sehr von uns selbst und unseren Mitmenschen entfremden.

„Das alles ist leicht gesagt“, könnte man meinen. Für die alten Christen war es auch kein leichtes Unterfangen, diese Aufmunterung anderen wirksam mitzuteilen. Sie haben sich mit dieser Geschichte beholfen, die die Überwindung des leibhaftigen Todes durch Jesus handfest und anschaulich darstellt. Für uns kann diese Geschichte fast ein Hindernis sein bei dem Versuch, den Aufruf zu vernehmen. Wir müssen seine innere Aussage hören, die Ermutigung zum Leben, die wohl am ehesten da Gehör findet, wo sie mit dem Herzen schon erwartet wird. Wir müssen uns gegenseitig ermuntern, dieser Ermutigung Geltung zu verschaffen. Es kann helfen, wenn wir uns zur Gemeinschaft versammeln um den, von dem her uns dieser Aufruf übermittelt ist, Jesus Christus.

Der christliche Glaube ist keine ganz einfache Sache. Wir können ihn uns nicht selbst geben. Deshalb kommen wir immer wieder zusammen, Gott um die Kraft des Glaubens zu bitten.

(Predigt in der Martinskirche, Cuxhaven-Ritzebüttel, am 7. Oktober 1973)

wnein@posteo.de    © Wolfgang Nein 2013