Bitten ohne Anspruch auf Erhörung
16. Mai 1993
Rogate
(5. Sonntag nach Ostern)
Lukas 11,5-13
Rogate - so heißt der heutige Sonntag, auf hochdeutsch: „Bittet!“ Und vom Bitten und Beten handelt der Predigttext. „Bittet, so wird euch gegeben.“ Manchmal wünschten wir, dieser Satz könnte so direkt zu verstehen sein, wie er formuliert ist: Wir sprechen eine Bitte aus, und sie wird erfüllt. Wir falten die Hände und beten, und unser Wunsch geht in Erfüllung. Das würde uns in manchen Situationen als geradezu ideale Lösung erscheinen. Wir haben ein Problem, bei dem wir nicht mehr weiterwissen - dann bitten wir unseren Herrgott um die Lösung, und alles geht in Ordnung. Ein lieber Mensch ist krank, wir beten, und der liebe Mensch wird gesund. Oder wir haben einen sympathischen Menschen kennengelernt und möchten gern auf Gegenliebe stoßen – wir beten, und der andere findet auch uns sympathisch. Das wäre ja wunderbar, wenn das mit dem Bitten und Beten so funktionieren würde.
Aber so geht das bekanntlich nicht – und so kann es auch nicht gehen, und so kann der Satz bei Lukas auch nicht gemeint sein. Es ist auch durchaus fraglich, ob das so gut wäre, wenn sich unsere Wünsche auf diese Weise erfüllen ließen.
Zum einen käme unser Herrgott in echte Schwierigkeiten, wenn er etwa gegenläufige Wünsche zu erfüllen hätte: „Herr, lass es regnen“, betet der Bauer, und „Herr, lass die Sonne scheinen“, betet der Freizeitmensch. Wie sollte sich der liebe Gott dann wohl entscheiden?!
Aber davon abgesehen, würde bei diesem missverstandenen Gebetsverständnis der Lauf der Dinge gänzlich in unsere eigene Hand gelegt. Ob das so gut wäre, darf man wohl bei allem, was wir bisher über die menschliche Weisheit erfahren haben, bezweifeln. Ohne uns als menschliche Gattung schlecht machen zu wollen, müssen wir wohl doch in aller Bescheidenheit eingestehen, dass es gut ist, dass sich die Dinge nicht nach unseren Plänen und Wünschen, nicht nach unserem Willen entwickelt haben. Es gibt durchaus eine Weisheit, die höher ist als unsere Vernunft.
Am Beispiel der Kinder lässt sich das wohl noch am leichtesten aufzeigen: Wer Kinder zu erziehen hat, eigene oder – von Berufs wegen etwa – fremde, der weiß, mit welchen Wünschen Kinder an einen herantreten, die wir zum Schutz der Kinder wirklich nicht erfüllen dürfen. Für die Kinder ist das dann oftmals schmerzlich, und es fließen Tränen, wenn wir „Nein!“ sagen. Dennoch ist es besser so. Und so kann es auch oftmals besser sein, zu unserem eigenen Schutz und dem Schutz unserer Mitmenschen, wenn unsere Wünsche nicht in Erfüllung gehen.
Wie aber steht es mit unseren wirklich guten und sinnvollen Wünschen? Dass Frieden sein möge, wo Krieg herrscht, etwa. Oder dass alle Menschen ausreichend zu essen haben mögen, wo doch so viele ganz unschuldig dem Hungertod ausgesetzt sind? Oder dass es mehr Liebe unter den Menschen geben möge!?
Auch unsere guten Wünschen lassen sich nicht durch das bloße Gebet erfüllen. Wir müssen uns in Geduld üben, wir müssen uns selbst etwas einfallen lassen und tätig werden, und wir müssen manches einfach hinnehmen, mag es auch schwer sein. Mancher ist über diese Einsicht bitter geworden und hat im Zorn seinem Herrgott den Rücken gekehrt. Denn, so fragen und fordern manche: „Wenn Gott wirklich der Allmächtige ist, wie wir ja auch im Glaubensbekenntnis nachsprechen, sollte er dann nicht das Böse stets verhindern und Schaden zum Guten wenden?“
Spätestens das Neue Testament lehrt uns mit Jesus Christus Gott in neuer Weise zu sehen. In Christus erleben wir Gott nicht als den Allmächtigen, der das Böse verhindert, unterdrückt und beseitigt. In Christus erleben wir Gott in äußerlich schwacher Gestalt als einen, der vom Bösen gepeinigt und zu Tode gebracht wird, der seine Stärke allerdings in dem einen unerschütterlich beweist: in seiner Liebe zu den Menschen und zu dem Leben mit all seinen Problemen.
Erst mit Blick auf diesen Jesus Christus erhält unser Predigttext seinen Sinn. „Bittet, so wird euch gegeben!“, das will uns sagen: Gott sollen wir verstehen als einen Freund, als einen guten Freund, als einen menschlichen Freund, der auf unser Wohl bedacht ist, der uns unsere berechtigten Bitten nicht abschlägt. Der allerdings nicht den Lauf der Dinge als allmächtiger Herrscher zurechtrückt, sondern der unter den Bedingungen dieses Daseins in Jesus Christus das Menschenmögliche zu unseren Gunsten tut.
Wir müssen, was das Verständnis des Bittens und Betens angeht, den Predigttext einmal so nehmen, wie er ist, und die zentrale Aussage „Bittet, so wird euch gegeben!“ in ihrem hier geschilderten Zusammenhang verstehen: Jemand geht um Mitternacht zu seinem Freund und bittet ihn um drei Brote, weil er überraschend Besuch bekommen hat und nichts im Hause hat, was er dem Gast zu essen geben könnte. Der Freund springt nicht gerade vor Hilfsbereitschaft aus dem Bett. Aber um der Freundschaft willen bequemt er sich nach einigem Bitten doch, das zu tun, was sein Freund in dieser ungewöhnlichen Situation von ihm erwartet.
Wir können uns wohl in die Lage beider Menschen hineinversetzen. Der eine möchte ein dringendes Problem lösen und sucht die Lösung bei seinem Freund. Der andere fühlt sich in seiner Ruhe gestört und rafft sich erst nach einigem Drängen zum Helfen auf. Das ist nur allzu menschlich.
Und nun heißt es: Wenn sich schon ein Freund, wenn auch mit etwas Nachhelfen, zu einem so unbequemen Freundschaftsdienst drängen lässt, dann dürfen wir wohl um so mehr darauf vertrauen, dass uns Gott zu Hilfe kommen wird. Es gibt, so will uns Jesus sagen, trotz unserer gegenteiligen Erfahrung eine vollkommene Freundschaft, nicht spektakulär und offensichtlich, aber doch existent, vorhanden auch in und hinter der zerbrechlichen menschlichen Freundschaft, die durch so viele Unvollkommenheiten gefährdet ist.
Ist die vollkommene Freundschaft etwas Reales oder ist sie nur eine illusionäre Vorstellung? Die Antwort auf diese Frage hängt, möchte ich mal etwas salopp sagen, von unserer Mentalität ab. Die einen werden sagen: „Wahre Freundschaft gibt es nicht.“ Sie können ihre lebenslange Erfahrung als Beweis anführen. Die anderen werden sagen: „Trotzdem glauben wir an die wahre Freundschaft.“
Zu diesem Glauben ermuntert uns Jesus Christus. Damit will er uns nicht zur Illusion verführen. Er legt uns eine Sichtweise nahe, die wir zum Leben brauchen. Es geht darum, die vorhandenen Spuren wahrer Freundschaft zu entdecken, sie wahrzunehmen, sich an diesen Spuren zu orientieren, ihnen zu folgen. Denn sie führen zu einem neuen Leben. Das allzu Menschliche, das uns in unseren täglichen Erfahrungen so sehr vor Augen ist und das unsere Sicht der Dinge, unsere Sicht des Lebens, unsere Sicht des Menschen vorrangig zu prägen sich vordrängt, das allzu Menschliche, das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Es gibt Spuren des Göttlichen in unserer Welt, auch in unserer täglichen Erfahrung, Spuren der Vollkommenheit, der vollkommenen Freundschaft. Christus selbst ist ein solches göttliches Spurenelement in unserer menschlichen Geschichte. Er ist von vielen übersehen worden.
Schauen wir hin und glauben wir an das Gute, an das Göttliche, an die wahre Freundschaft, an die wahre Liebe. Glauben wir doch daran, dass uns geholfen werden kann, dass unsere Bitte erfüllt werden kann, dass unser Beten nicht vergebens ist. Mögen wir auch immer wieder enttäuscht werden, so ist es doch gut, sich in Geduld zu fassen und auch das Unvollkommene, das Unfertige, das Schwere anzunehmen. Denn ohne den Glauben an das Göttliche, an das Gute, an die Freundschaft und Liebe wird unser Leben arm und trostlos.
„Bittet, so wird euch gegeben, sucht, so werdet ihr finden, klopft an, so wird euch aufgetan!“ Wir haben doch diese Erfahrungen schon gemacht, jeder von uns, wenn sie vielleicht auch nicht die typischen Erfahrungen des täglichen Lebens sind. Aber zählt nicht eine gute Erfahrung mehr als tausend schlechte?! Ist nicht ein Christus mehr als tausend Bösewichte?!
Wir sollen nicht darauf warten, dass der Allmächtige dieses Dasein ganz neu gestaltet. Das Göttliche und Vollkommene, das Gute und Schöne ist schon unter den Bedingungen unseres jetzigen Daseins da. Wir haben es erlebt, wir erleben es und werden es erleben, sofern wir daran glauben und die Augen und unsere Herzen offenhalten. Gott schenke uns diesen Glauben.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 16. Mai 1993)