Apostelgeschichte 2,22-23.32-33.36-39
Pfingsten ist das Gründungsfest der Kirche. Wenn wir Pfingsten feiern, dann feiern wir den Geburtstag der Kirche. Als Jesus nicht mehr da war, ging es um die Frage: „Wie wird es weitergehen?“ Das war die Frage seiner Jünger, seiner engsten Anhänger, nach der Himmelfahrt Jesu. Wie kommen wir ohne unseren Herrn und Meister zurecht? Schaffen wir das? Wie können wir weitergeben, was wir mit ihm erlebt haben, was er uns gesagt hat, was er uns aufgetragen hat?
Gestern haben wir den wundersamen Bericht gehört, wie die Jünger für ihre Aufgabe mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgestattet worden sind. Heute berichtet uns der Predigttext aus der Apostelgeschichte 2 von der ersten Predigt der Jünger. Petrus wendet sich an die Juden in Jerusalem und trägt ihnen vor, wer jener Jesus von Nazareth gewesen ist, der so viele Wunder und Zeichen getan hat, der gekreuzigt worden ist, der gestorben ist und dann wieder auferstanden und schließlich gen Himmel gefahren ist: dass jener Jesus von Nazareth nämlich der Messias ist, der Christus, auf den sie doch so lange gewartet hatten, der Befreier, der Erlöser. Petrus vermag die Herzen seiner Zuhörer zu bewegen. Auf die Frage: „Was können wir tun?“, sagt er: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes.“
Vom Heiligen Geist ist immer wieder die Rede im Zusammenhang mit Pfingsten. Wie ist das mit dem Geist zu verstehen?
Der Geist ist unsichtbar – anders als der Leib und anders als alles Materielle. Als Jesus noch leibhaftig gegenwärtig war, da konnten ihn die Jünger sehen und hören, sie konnten ihn anfassen, konnten ihn beobachten. Wenn sie eine Frage hatten, konnte sie sie ihm stellen, und er antwortete. Er konnte erklären, was er tat und was er sagte. Und wenn sie auch das eine oder andere vielleicht nicht gleich verstanden, so war für sie doch klar: Morgen oder übermorgen könnten sie ihn noch einmal fragen, und sie könnten ihn weiter beobachten, könnten ihn weiter sehen und hören. Die leibhaftige Gegenwart hatte ihnen eine gewisse Sicherheit vermittelt, eine gewisse innere Sicherheit, auch wenn sie ihn nicht verstanden. Sie wussten ja: Da ist er. Er ist da, der alle Antworten in sich trägt.
Der Leib Jesu, sein leibhaftiges Reden und Handeln, war selbst die Antwort auf all ihre Fragen. Und dann war Jesus plötzlich nicht mehr da: erst gestorben und begraben, dann – nach der Auferstehung – gen Himmel gefahren. Der Leib war nicht mehr da. Woher sollten die Jünger jetzt Antworten auf ihre Fragen nehmen?
Sie mussten jetzt, verzeihen Sie, wenn ich das so formuliere, sie mussten jetzt auf ihre eigenen Leiber zurückgreifen. Die Jünger waren auf sich selbst zurückgeworfen. Sie mussten sich jetzt gegenseitig besprechen, sich beraten, diskutieren, über ihre Erfahrungen reden. Und dabei stellten sie fest, dass der, über den sie redeten, und dessen leibhaftige Präsenz sie so sehr vermissten, dass der noch weiterhin in ihnen vorhanden war, in ihren Erinnerungen, in ihren Gedanken und in ihren Gefühlen, in ihren Sehnsüchten, ihren Wünschen und in ihrem Wollen. Sie merkten bei ihrem Reden schnell, dass Jesus weiter unter ihnen gegenwärtig war, nicht mehr leibhaftig, aber mit dem, was er ihnen bedeutete, mit dem Sinn seiner Worte und der Absicht seiner Handlungen.
Es dauerte nicht lange, da gaben sie, die Jünger, der geistigen Präsenz ihres Jesus wieder eine leibhaftige Gestalt, in dem nämlich, was sie nun selbst – in seinem Namen und in seinem Sinne – sagten und taten. Und bald war es so, dass Menschen, die die Jünger erlebten, meinen konnten, sie hätten Jesus selbst vor sich, Nachfolger zumindest jenes Jesus, der ihnen als Christus verkündigt wurde.
Diejenigen nun, die die Bedeutung Jesu durch ihr Reden und Handeln aufs Neue verkörperten, waren auch bald nicht mehr leibhaftig gegenwärtig, aber sie hatten das, was Jesus ihnen bedeutete, ja weitergegeben an andere, hatten – verzeihen Sie – den geistigen Jesus in andere Leiber hineingegeben. Und so lässt sich der Faden weiterspinnen bis heute.
Das Leibhaftige und das Geistige befinden sich in einem beständigen Wechsel. Und beides ist beständig zugleich da.
Als Jesus noch leibhaftig da war, da war er zum einen „Leib“ – und seine leibhaftige Gegenwart war für die Menschen seiner Zeit wichtig. Aber er war gleichzeitig auch eine geistige Größe in dem, was er bedeutete, in dem, was sein Reden und Tun aussagte, und in dem, was sein Reden und Tun an Motivationskraft und an Lebenskraft enthielt. Diese geistige Seite seiner Persönlichkeit ist präsent geblieben, unabhängig von seiner körperlichen Gegenwart. In Petrus wurde die geistige Seite Jesu wieder in einem Menschen leibhaftig anschaubar und hörbar und erlebbar. Als Petrus predigte, ließen sich die geistigen Elemente Jesu in den Ohren und Herzen und im Verstand der Zuhörer nieder. Als Petrus dann davonging und eines Tages schließlich gestorben war und er also nicht weiter leibhaftig präsent war, da war aber das, was er über Jesus Christus gesagt und in seinem Geiste getan hatte, weiter gegenwärtig.
Vielleicht klingt das jetzt alles banal, was ich sage. Aber es ist, wenn man es recht bedenkt, doch etwas Faszinierendes, so empfinde ich das jedenfalls, dass der Geist, wenn er zum einen auch so abstrakt und unfassbar erscheint, zum anderen doch eine so unleugbare Existenz und Kraft besitzt.
Zweieinhalb Jahrhunderte, nachdem das Erdenleben Jesu beendet war und nachdem Petrus längst verstorben war, hörte Antonius in Ägypten eine Predigt, Antonius, Kind wohlhabender Eltern und Erbe eines ansehnlichen Vermögens. Antonius besuchte einen Gottesdienst und hörte die Evangelienlesung aus Matthäus 19. Und dann kam der Satz, ein Wort Jesu: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.“
Diese Worte Jesu trafen Antonius ins Herz. Jesus war seit zweieinhalb Jahrhunderten nicht mehr leibhaftig gegenwärtig, aber die geistige Kraft seiner Worte, die war da, als hätte Jesus sie gerade selbst gesprochen. Antonius ging hin, verkaufte seinen Besitz, unterstützte mit dem Erlös die Armen und führte dann selbst ein Leben in absoluter Bescheidenheit.
Der Geist ist abstrakt und man kann ihn nicht sehen. Aber was er bewirkt, das kann man sehen. Der Geist ist eine Kraft, und wo diese Kraft zum Zuge kommt, da werden die Ergebnisse sichtbar, hörbar, spürbar, erlebbar.
Wir haben zuhause eine ganze Menge Bücher. Manche habe ich zwanzig Jahre lang nicht angefasst – außer beim Staubputzen. Manchmal sitze ich vor der Bücherwand und stelle mir vor, was in diesen Bücher geschrieben steht. Einmal griff ich ins Regal, das ist schon länger her, und nahm eine Schrift von Bonhoeffer heraus, schlug eine Seite auf und sah die Überschrift eines Gedichtes: „Wer bin ich?“ Allein diese Überschrift packte mich, ich las das Gedicht, das endet mit den Worten: „Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott.“ Ich habe dieses Gedicht dann immer wieder bedacht und ausgelegt. Es hat mir – und wie ich vermute, anderen Menschen – einen guten Dienst erwiesen. Es hat etwas in meinem Leben und vielleicht im Leben vieler Menschen bewirkt.
Wenn wir das einmal bedenken: ein Buch – das ist Materie. Das ist ein bisschen Papier und Pappe, ein bisschen Druckerschwärze. Und von dieser Materie steht bei mir zuhause eine ganze Menge. Die steht da so seit Jahren, das meiste unberührt. Aber was steckt in dieser Materie?! Was sind da für Worte drin enthalten, die, wenn sie gelesen werden und ins Herz treffen, das Leben verändern können, vielleicht eine Revolution auslösen können. Zwischen den Pappdeckeln schlummert eine geistige Kraft, eine enorme geistige Kraft, eine gar nicht zu überschätzende Kraft. Sie schlummert vor sich hin, sie ist nicht sichtbar, aber sie könnte in jedem Augenblick, umwälzende Veränderungen bewirken.
Die Nationalsozialisten haben Bücher verbrannt, sie haben die geistige Kraft, die zwischen den Buchdeckeln enthalten ist, auszumerzen versucht. Das ist ihnen nicht gelungen. Das konnte nicht gelingen. Eine geistige Kraft ist unzerstörbar. Sie materialisiert sich immer wieder und wo sie will.
Es gib sone und solche geistigen Kräfte. Wir sprechen im Zusammenhang
mit Pfingsten vom Heiligen Geist. Es ist ein guter Geist, der durch Jesus
in die Welt gekommen ist, ein Leben schaffender, ein Leben erhaltender
Geist, ein Geist der Freundlichkeit und Liebe, der Hilfsbereitschaft, der
Vergebung, ein Geist des Friedens. Der Geist Gottes, von dem die
biblischen Texte schon am Anfang Gutes zu formulieren wissen: „Am Anfang
schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster
auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ Es ist der
schöpferische Geist Gottes, der Leben schaffende und Leben bewahrende
Geist.
Jesus Christus wurde gewaltsam zu Tode gebracht. Aber seine geistige göttliche Kraft konnte nicht zunichtegemacht werden. Sein Geist, der Heilige Geist, ist auf seine Jünger übergegangen und auf die nachfolgenden Generationen bis auf den heutigen Tag. Der Geist Jesu hat in vielfacher Weise leibhaftige, materielle Gestalt angenommen, u. a. in der Kirche, in der Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, in der weltweiten Organisation Kirche und in den zahllosen Gebäuden, den Kirchen, wie in unserer schönen Kirche St. Markus. Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche. Der Geist Gottes, der Geist Jesu, der Heilige Geist lebt und wirkt. Möge er noch viel Gutes bewirken – in uns und in aller Welt.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 20. Mai 2002)