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29.10.-4.11.2023


Nicht verlängerter Arm des Untäters werden!

Römer 12,21


Dieser Satz kann einem wie die aktuelle Antwort auf das Geschehen vom Samstag erscheinen. Es ist in Israel nach der Gewalttat ruhig geblieben. Dies mag aber wohl daran liegen, daß es eben einer aus dem eigenen Volk war, der die tödlichen Schüsse abgegeben hatte. Die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte lassen unschwer erahnen, was die Folge gewesen wäre, wäre ein Palästinenser der Untäter gewesen. In dem israelisch-palästinensischen Konflikt galt stets das Prinzip der Vergeltung - und dieses Prinzip ist gerade im Bereich der Politik noch nicht so recht aus der Mode gekommen. 

Unser Wochenspruch verkündet ein anderes Prinzip: überwinde das Böse mit Gutem. Wir dürfen jetzt nicht sagen: Dies ist christlich, das Vergeltungsprinzip ist jüdisch. Paulus, der uns das Böse mit Gutem zu überwinden rät, war auch Jude, und Jesus war auch Jude. Das streichen wir oft aus unserem Bewusstsein, viele wissen es gar nicht. 

In jener Region Israel hatte man sich eben schon vor 2000 Jahren und schon früher Gedanken darüber gemacht, wie mit Unrecht umzugehen sei. Man hatte zunächst eine Regelung gefunden, die zu ihrer Zeit einen Fortschritt an Menschlichkeit darstellte: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Diese Art der Vergeltung erscheint uns altertümlich. Sie war aber insofern eine Verbesserung, als sie untersagte, eine Untat mit einer doppelt schweren Untat zu vergelten, nach dem Motto: Schlägst du mir einen Zahn aus, schlage ich dir zwei Zähne aus. Das ist ja auch ein Prinzip, darin ist die Eskalation allerdings vorprogrammiert. 

Gleiches mit Gleichem zu vergelten, war also ein Fortschritt. Aber Paulus ist eben noch einen Schritt weitergegangen, manche sagen: Er ist zu weit gegangen – wie überhaupt auch von der Bergpredigt gesagt wird, sie passe gar nicht in diese Welt, sie sei auch gar nicht für diese Welt gemeint, sondern für eine künftige und jenseitige. 

Paulus rät uns, auf Untaten mit guten Taten zu reagieren. Dieses Prinzip hat sich z. B. im deutschen Strafrecht durchgesetzt. Da wird z. B. vielfach überlegt, wie man Straftätern dabei helfen kann, ihr Verhalten zu ändern und den Weg der Besserung zu beschreiten, sog. Resozialisierungsmaßnahmen. Aber auch in der Politik ist vielfach das Bemühen erkennbar, sich nicht auf das Niveau von Untätern zu begeben, sondern, wie man sagt, am Prinzip des Rechtsstaates konsequent festzuhalten, und dem Unrecht mit Recht zu begegnen. 

Die Anregung des Paulus ist insofern nicht ungehört verhallt. Sie wird freilich längst noch nicht ausreichend gehört und beachtet. 

Unsere aus dem Raum Israel und aus dem Schoß der jüdischen Gesellschaft erwachsene christliche Tradition enthält einen bleibenden Auftrag für unsere Gesellschaft, für unsere Erziehung, unsere Politik, unseren täglichen Umgang miteinander: dass wir uns nicht überwinden lassen vom Bösen, sondern das Böse mit Gutem vergelten.

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 10. Oktober 1989)

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